Kapitel Vier

Dienstag, 20. Februar 2007

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70: Freiheit

Die Stille drückt sich in jeden Winkel ihrer Wohnung. Bewegungslos sitzt sie auf dem Stuhl, den sie vor das Fenster zur Straße gestellt hat und beobachtet, wie der Asphalt in der Dämmerung versinkt. Die Abende hasst sie besonders. Am Abend erdrückt sie das Gefühl, dass sich wieder ein Tag in Nichts aufgelöst hat, Stunden ihres Lebens vergeudet, diese wertvolle Lebenszeit, Möglichkeiten ungenutzt, Ziele unerreicht. Aber was für Ziele, sie haben ihr alles genommen, alles wofür sie gekämpft hat. Jeden Tag muss sie daran denken, muss sich fragen, wie es so weit gekommen ist, was passiert ist. Nichts. Nichts ist passiert. Sie hat keine Worte mehr um es zu beschreiben. Sie hat ihren Vorrat an Worten aufgebraucht. Da ist kein Inhalt mehr, keine Gründe, nur noch Bilder, die durch ihren Kopf zucken, zusammenhanglos, verblasst. Dieser dumpfe Schmerz ist alles, was geblieben ist. Dieses Loch in ihr, das sie auffrisst.

Warum haben sie sie nicht erschossen, wie die anderen? Es hätte ihr nichts ausgemacht zu sterben. Sie war darauf vorbereitet gewesen. Es wäre das richtige Ende gewesen. Aber sie haben sie eingesperrt, wie ein Tier. Ein Tier, das man über alles fürchtet. In ihrer Wohnung verdichtet sich die Dämmerung, aber sie nimmt nichts davon wahr und ein Lächeln stiehlt sich auf ihr Gesicht. Anfangs hat es ihr Genugtuung verschafft, der ganze Hass, der ihr entgegenschlug, die ständige latente Angst vor ihr, so dämlich, was hätte sie denn tun können? Dachten sie, sie wäre eine lebende Bombe? Erbärmliche Feiglinge, selbstgerechte Wichser. Aber die Mischung aus Misstrauen und Abneigung, die man ihr entgegenbrachte, hat sie am Leben gehalten, das Gefühl eine Bedrohung für sie zu sein, auch noch im Knast. Das hat sie stark gemacht.

Diese Kraft, die sie anfangs noch hatte, keiner konnte sie kaputt machen, es war gut dass man sie hasste, es hat ihr bewiesen, dass sie auf dem richtigen Weg war. Sie hat den Hass in ihrer Zelle konserviert, sie hat lange davon gezehrt.

Aber irgendwann war die Konzentration nicht mehr hoch genug. Irgendwann wurde ihr klar, dass das Leben draußen weiterging. Ein paar mickrige Aktionen, aber die Köpfe der Leute waren voll mit anderen Sachen. Die Zeitungen beschäftigten sich mit Krisen, die nichts mehr mit ihren Zielen zu tun hatten. Die Politik lief an ihnen vorbei, ohne sich auch nur umzudrehen. Keiner interessierte sich mehr für ihre Verachtung. Man hatte sie vergessen. Sie waren Geschichte.

Die Erkenntnis hatte sie umgehauen. Handlungsunfähig gemacht. Hatte ihre Energie aufgefressen. Wie schwer ihr jeder Atemzug gefallen ist, wie anstrengend es war, die Augen zu öffnen. Sie hatte wochenlang auf ihrem Bett gelegen und auf die Gitterstäbe gestarrt, hatte sich ausgemalt, wie sie ihr Bettzeug in Streifen riss und einen Knoten um ihren Hals knüpfte. Sie hatte es nicht getan. Nicht, weil sie Angst vor dem Sterben hatte, sondern weil ihre Batterien leer waren. Zu leer, um zu sterben.

Das war die Zeit, in der der Automatismus sie besiegt hatte, der Automatismus des Lebens. Ihr Wille war weg, und ihr Körper hat das Steuer übernommen. Hat für sie geatmet, hat für sie gegessen. Aber in ihr war es tot.

Eine Weile sitzt sie dort und verschmilzt mit der Dunkelheit. Dann zucken ihre Augen. Auf der Straße unter ihr fährt langsam der Wagen in eine Parklücke und bleibt dort stehen. Die Scheinwerfer gehen aus. Das Motorengeräusch bricht ab. Dann nichts mehr. Keine Tür geht auf, niemand steigt aus. Der Wagen bleibt einfach auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen. Wie die Tage davor. Sie hat das Gefühl, als ob jemand zu ihrem Fenster hochsieht, ihr direkt in die Augen sieht. Sie hält dem Blick stand.

Die Minuten ticken vorbei.

Sonntag, 18. Februar 2007

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69: Puzzle

Kaspar schüttelt den Kopf. „Sie war nicht die Einzige, die davon profitiert hatte, dass die DDR nicht an die BRD auslieferte. Susanne Albrecht und Inge Viett sind auch nach drüben gegangen. Es gab eben Kontakte.“ Alena überlegt. „Das allein kann es nicht gewesen sein. Das ist nichts, was die Dahlem dir verschweigen müsste.“ Sie sieht Kaspar aufmerksam an. „Und wenn deine Mutter Hilfe hatte? Hilfe von jemandem, dem die Dahlem und der Rest des Kommandos nicht vertrauten?“ Kaspars Gesicht wird misstrauisch. „Du willst auf etwas hinaus, nicht wahr?“ Er runzelt die Stirn. „Du weißt etwas, das ich nicht weiß,“ stellt er fest. Alena beginnt innerlich zu fluchen. Ihre Versuche haben keinen Sinn mehr, aber sie hat Pia versprochen, nichts von dem Foto zu erzählen. Verzweifelt sucht sie einen Ausweg und Kaspar macht es ihr nicht gerade leicht. Wortlos sieht er sie an, ohne auch nur zu blinzeln. Alena wagt die Flucht nach vorn. „Wir sollten Brigitte Dahlem fragen, weil sie diejenige ist, die alles über deine Mutter weiß.“ Sie macht eine winzige Pause. „Wenn du tatsächlich alles über deine Mutter erfahren möchtest.“

Sonntags ist es angenehm leer im Präsidium und Pia genießt die Stille auf den Fluren. Vereinzelt ertönen Stimmen aus den Büros und irgendwo klingelt ein Telefon. Sie geht an Oberdorfs Büro vorbei, das heute garantiert leer steht, denkt an das Foto in ihrer Tasche und lächelt. Als sie ihr Büro aufschließt, überlegt sie, warum sie heute eigentlich hergekommen ist. Es gibt keine Spuren, die sie verfolgen könnte. Aber sie hält es nicht zu hause aus, ihr Kopf ist zu voll mit den Ereignissen der letzten Woche. Und sie könnte sich zum wiederholten Mal das Dossier über Schwarz und seine schriftlichen Hinterlassenschaften ansehen. Riesels Schreibtisch ist unbesetzt, sein Bildschirm schwarz, und Pia atmet auf.

Während der Kaffee in die Kanne tropft, betrachtet Pia das Foto von Schwarz und Marianne Wagenbach. Eine verrückte Geschichte. Hat Alena etwas aus Kaspar herausholen können? Pia bezweifelt es. Zwar hat Kaspar während des Verhörs den Kopf verloren, aber später war er ausgesprochen kontrolliert. Ein seltsamer Typ, denkt Pia stirnrunzelnd. Sie legt das Foto beiseite und öffnet den Ordner, den Riesel über Schwarz angelegt hat. Eine Weile blättert sie durch die Seiten, auf denen Schwarz´ Werdegang beschrieben ist. Seine Zeit beim BKA. Der Terroristenjäger. Sie starrt auf ein Foto, das ihn zusammen mit Horst Herold zeigt. Schwarz hat dazu gehört. Er war Teil des großen Netzwerks gegen den Terror, an dessen Rändern hysterische Bürger misstrauisch die langhaarigen Kinder der Nachbarn bespitzelten und in dessen Zentrum der neue Supercomputer des BKA stand, in dem abertausende Namen und Daten von Auffälligen und Verdächtigen gespeichert waren. Dazwischen Rasterfahndung und Straßensperren. Was für eine Zeit. Und Schwarz mittendrin. Ein Fanatiker, der jahrelang versuchte, die Mitglieder des Kommandos zu erwischen, die 1978 fliehen konnten. Wieso konnten sie fliehen? Nein, denkt Pia, fangen wir am Anfang an: wie ist Schwarz überhaupt so nah an die RAF herangekommen. Das Foto scheint darauf hinzudeuten, dass Marianne Wagenbach seine Quelle war. Hat sie ihre Leute verraten? Pia beginnt, mit der gummierten Seite ihres Bleistiftes auf die Schreibtischfläche zu tippen; die Frequenz wird immer schneller. Das würde erklären, warum Brigitte Dahlem heute nicht mehr über die Wagenbach reden möchte. Über eine Verräterin, die ihnen den größten Coup der RAF-Geschichte versaut hatte. Der Bleistift bleibt in der Luft hängen. Das setzt voraus, dass die Dahlem herausbekommen hat, dass Marianne sich mit Otto Schwarz getroffen hatte. Was wiederum der Grund dafür gewesen sein könnte, dass allen Mitgliedern die Flucht gelang. Und Marianne, die wahrscheinlich in Todesangst geschwebt hatte, weil sie die Rache ihrer ehemaligen Mitstreiter fürchten musste, floh in die DDR. Wie ein Puzzle schiebt Pia die nächsten Teile zusammen. Marianne könnte von Schwarz Hilfe für ihre Flucht eingefordert haben. Und weil Schwarz diese nicht abschlagen konnte, hatte er ein Geheimnis, das auf keinen Fall ans Licht kommen durfte. Das Foto, auf dem Schwarz und Herold sich die Hände schütteln, zieht erneut ihren Blick an. Nein, niemand durfte erfahren, dass der Terroristenjäger einer Terroristin die Flucht ermöglicht hatte. Aus diesem Grund musste er auch die Drohbriefe geheim halten, seine Nachforschungen alleine betreiben, im Nacken eine Vergangenheit, die ihn nie losgelassen hatte und vor ihm der unbekannte Gegner. Pia lächelt wieder, bis ihr ein Gedanke kommt, der das Lächeln aus ihrem Gesicht schiebt. Warum hat der Schreiber Schwarz schließlich getötet? Warum hat er das Katz und Maus Spiel auf diese Weise beendet? Es wäre so egal gewesen, wenn Schwarz den Schreiber enttarnt hätte. Er hätte auch dann nicht seine Kollegen rufen können, mit den Schatten aus der Vergangenheit, die weiter an ihm hafteten. Nein, entscheidet Pia. Der Schreiber hat Schwarz nicht deshalb umgebracht, weil er Entdeckung fürchtete. Außerdem scheint es ihm Spaß gemacht zu haben, den Pensionär zu quälen. Auch das wäre eher ein Grund gewesen, Schwarz am Leben zu lassen. Pia steht auf und geht zum Fenster. Ohne die Außenwelt wahrzunehmen, konstruiert sie weiter an einer Kette von Gründen und Folgen. Und wenn Schreiber und Mörder nicht identisch sind, wie sie alle bisher gedacht haben? Der Gedanke lässt sie stocksteif werden. Warum wurde Schwarz dann getötet?

Sonntag, 11. Februar 2007

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68: Gruppenzwang

Christopher sieht Pia zu, wie sie ihre Haare im Bad mit Gel in Form zupft. „Denkst Du an das jährliche Abendessen der Universität am Dienstag? Es wäre schön, wenn Du dieses Jahr mal wieder mitkommen würdest.“ Ihre Augen treffen sich im Badezimmerspiegel. Pia stöhnt auf. „Du lieber Himmel, total vergessen. Ist das echt schon diesen Dienstag?“ Eine Ausrede liegt ihr auf der Zunge, aber dann erinnert sie sich an das schlechte Gewissen, das sie letztes Jahr hatte. Sie weiß, dass das Essen Christopher viel bedeutet und dass sie daran teilnehmen sollte. Alle Professoren bringen ihre Ehefrauen mit, manche sogar ihre Kinder. Es muss hart für Christopher sein, zu solchen Anlässen allein zu gehen. Und sie unternehmen eh schon zu wenig zusammen. Es wäre eine Gelegenheit Solidarität zu bekunden, denkt sie, aber gleichzeitig ermüdet sie der Gedanke an die langweiligen Gespräche mit Christophers uninteressanten Kollegen. Gerade will sie eine ausweichende Antwort mit der Bitte um Vertagung der Entscheidung geben, als ihr Robert Koch einfällt. Die Chancen sind minimal, aber vielleicht erinnert sich ein Professor an den Studenten, der einmal der RAF angehörte. An einen Studenten, der ihm durch linke Parolen oder extreme Ansichten aufgefallen ist. Sie lächelt Christopher im Spiegel zu. „Ok, ich versuche es. Aber dann brauche ich etwas Neues zum Anziehen.“

Alena und Kaspar sitzen am Küchentisch und essen Brötchen mit Marmelade. Alena hat Auszüge ihres Gesprächs mit Brigitte Dahlem erzählt und nun beobachtet sie den schweigenden Kaspar, der seinen eigenen Gedanken nachhängt. Sie sitzt mit dem Gesicht zum Küchenfenster, das noch nie Gardinen gesehen hat und dringend geputzt werden muss. Es steht auf Kippe und lässt sonntägliche Straßengeräusche in den Raum. Dennoch scheint die Küche weitab vom Leben dort draußen. „Brigitte Dahlem meinte, ich sollte besser nicht zu viel über meine Mutter erfahren? Wie meinte sie das,“ fragt Kaspar nun, halb verwirrt, halb misstrauisch. „Ich glaube, sie möchte nicht, dass du enttäuscht bist.“ Alena sieht ihn eindringlich an. „Ich habe das Gefühl, sie weiß etwas über deine Mutter, das du nicht erfahren sollst. Und sie erinnert sich anscheinend auch nicht gerne daran.“ Sie macht eine kurze Pause und fährt dann fort: „Hast du eine Ahnung, was das sein könnte?“ Kaspar runzelt seine Stirn. Er steht auf und geht zum Fenster, wo er seine Hände auf die leere Fensterbank stützt und durch die schmutzige Scheibe auf die Straße unter ihm starrt. „Ich habe keine Ahnung.“ Er dreht sich zu ihr um. „Du hast das schon mal angedeutet. Und du scheinst dir ja doch Gedanken darüber zu machen. Ich vermute, du hast dir auch schon eine Theorie zurecht gelegt. Also raus damit. Erzähle mir, was du denkst.“ Einen Moment denkt Alena nach, dann beginnt sie vorsichtig: „Es muss etwas sein, dass Brigitte Dahlem nicht akzeptieren kann. Das nicht in ihr Weltbild passt. Und ihr Weltbild ist RAF. Wenn ich jetzt mal den diffusen Weltanschauungskram beiseite lasse, den keiner so richtig erläutern kann, bedeutet das vor allem unbedingte Solidarität zur Gruppe. Und konsequente Abgrenzung zu allem, was nicht RAF ist. Dazu gehört der Staat, die Polizei und wahrscheinlich auch die passiven Bürger, die sich nicht am Kampf beteiligen. Wie war das doch gleich: Schwein oder Mensch?“ – „Du reduzierst die RAF auf formale Momente, aber es gab ja wohl auch inhaltliche Abgrenzung, oder?“ – „Nein,“ sagt Alena heftig. „Genau die gab es vermutlich nicht. Wenn es überhaupt jemals inhaltliche Gründe für den bewaffneten Kampf gab, dann haben die sich ab einem bestimmten Punkt in blinden Aktionismus aufgelöst. Vermutlich schon nach der Mai-Offensive 1972, danach gab es keine echten Ziele mehr, sondern nur noch Rechtfertigung. Und ab da war Gruppenzugehörigkeit durch gedankenlose Zustimmung und unhinterfragtes Ausführen von Anweisungen definiert. Wer Kritik äußerte, war draußen.“ Kaspars Gesichtausdruck spiegelt Ablehnung, aber er erwidert nichts auf Alenas Ausführung. „Brigitte Dahlems Verhalten in Bezug auf deine Mutter deutet auf nachträgliche Ausgrenzung hin. Und der Grund dafür könnte darin liegen, dass sie etwas getan hat, was nicht in die RAF-Linie passte.“ Mürrisch sagt Kaspar: „Sie ist in die DDR geflohen, und hat dort ein bürgerliches Leben aufgenommen, statt den Kampf weiter zu führen. Das reichte vermutlich schon.“ Alena merkt, dass sie so nicht weiter kommt. Aber es zeigt sich ein weiterer Punkt, an dem sie anknüpfen kann. „Wie ist sie eigentlich damals über die Grenze gekommen. So einfach stelle ich mir das nicht vor. Hat der Typ vom Verfassungsschutz mal was darüber erzählt?“

Freitag, 9. Februar 2007

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67: Frühstück mit Kaspar

Alena fühlt sich wach und unternehmungslustig, als sie später als gewöhnlich aufwacht. Sie bleibt noch einen Moment im Bett liegen und beobachtet das Licht, das sich durch die zugezogenen Vorhänge in den Raum stiehlt. Vogelgezwitscher dringt durch das Fenster, das wie immer auf Kippe steht und Alena spürt einen leichten Windzug auf ihrem Gesicht. Sie dreht sich auf die Seite und denkt über den gestrigen Abend nach. Sie war schon lange nicht mehr Samstagabends unterwegs gewesen und obwohl sie den Abend mit Pia verbrachte, hatte es Spaß gemacht. Sie grinst vor sich hin. Vielleicht ist sie auch nur froh, dass sich der Konflikt mit Pia sich wieder gelöst hat. Dann erinnert sie sich an die getroffene Abmachung und wird ernst. Sie starrt auf die Blümchentapete auf der Wand neben ihrem Bett und denkt nach. Schließlich schwingt sie die Beine aus dem Bett und geht duschen.

Eine halbe Stunde später steht sie mit Brötchen vor Kaspars Tür und schaut leicht verlegen in sein total verschlafenes Gesicht. Kaspar sieht sie an, schaut auf die Brötchen und dann unwillkürlich an sich herunter. Er trägt zerschlissene Boxershorts und ein altes T-Shirt und scheint gerade aus dem Bett gefallen zu sein. „Waren wir verabredet,“ fragt er zweifelnd und Alena schüttelt schnell den Kopf. „Soll ich später wiederkommen? Oder hast Du heute keine Zeit?“ Kaspar tritt einen Schritt zurück. „Komm herein. Ich ziehe mich schnell an.“

In Kaspars Küche findet Alena zwei Teller und Messer, außerdem ein Paket Margarine, dessen Verfallsdatum nahe bevorsteht, und etwas Marmelade. Sie füllt Wasser in den verkalkten Kocher und wäscht zwei Tassen aus. Sie betrachtet nachdenklich das schmutzige Geschirr, dass sich neben der Spüle stapelt, aber entschließt sich dazu, nicht zu spülen. Wie kann Kaspar sich hier nur wohlfühlen, denkt sie. Aber sie weiß, dass sein Leben nicht in dieser Wohnung stattfindet, sondern in seiner Datenbank und im Internet. Vielleicht noch in diesem Raum voller Fotos und Zeitungsartikel, Fahndungsposter und Reliquien. Der Raum macht ihr Angst. Als der Wasserkocher ausgeht, merkt sie wie still es in der Wohnung ist. Wo ist Kaspar? Warum hört sie das Rauschen der Dusche nicht? Stocksteif bleibt sie mitten in der Küche stehen und lauscht. Alles steht still. Als wäre sie am Ende der Zeit angekommen, von wo aus nur noch ein Weg zurück in die Vergangenheit führt. Fühlt sich so das Leben der Brigitte Dahlem an, denkt sie auf einmal. Lebt sie in einer Gegenwart, die so leer ist, das sie fast nicht existiert, steht sie mit dem Rücken zur Zukunft, den Blick immer in die Vergangenheit gerichtet, den Sog aus der Vergangenheit spürend. Und immer mit dem Bewusstsein, dass dieser Sog von etwas Totem kommt. Gänsehaut überzieht Alenas Körper und dann steht Kaspar in der Tür und sieht sie fragend an. „Findest Du alles? Teebeutel sind im Küchenschrank.“ Mechanisch dreht sich Alena um, sucht das Paket Tee, das Kaspar nur für sie gekauft hat, und wird von der Frage gequält, warum ihr diese Gedanken gerade in Kaspars Wohnung kommen.

Samstag, 3. Februar 2007

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66: Rezeption des Terrors

Christopher sitzt schon am Frühstückstisch, als Pia im Bademantel in die Küche kommt. Der Sonntag ist grau und Pias Laune dementsprechend. Sie lässt sich auf den Schwingerstuhl fallen und starrt müde auf die frischen Brötchen, die Christopher vom Becker auf ihrer Straße gekauft hat. „Gehst Du heute wieder arbeiten,“ fragt Christopher und zieht ihre Tasse zu sich heran, um ihr Kaffee einzugießen. Pia antwortet nicht, sondern trinkt erst einen Schluck schwarz, bevor sie Zucker dazugibt. „Ich weiß noch nicht,“ murmelt sie. – „Immer noch keine Fortschritte,“ fragt Christopher verständnisvoll. Pia sieht zu, wie er ein Brötchen mit Nutella schmiert und es auf ihren Teller legt. „Der heiße Herbst jährt sich dieses Jahr zum 30. Mal. Es gibt wieder verstärkt Dokumentationen im Fernsehen und Artikel in den Zeitungen. Aber weißt Du, das kommt mir so seltsam nostalgisch vor. Die Berichterstattung ist vollkommen anders als zum Beispiel anlässlich des fünften Jahrestages der Twin-Tower-Anschläge,“ meint Christopher, während er versucht ein Croissant durch zu schneiden. Bevor er es total zerstört, nimmt Pia es ihm aus der Hand und säbelt es mit einem Schnitt durch. Dankbar nimmt Christopher es entgegen. „Man sollte glauben, Terrorismus ist Terrorismus, aber die öffentliche Meinung scheint doch Unterschiede zu machen. Und diese Unterschiede scheinen generationsbedingt zu sein.“ Er streicht Erdbeermarmelade auf die beiden Hälften. „Gestern im samstäglichen Oberseminar haben meine Studenten mir das Thema aufgedrängt, nachdem wohl diese Woche eine Dokumentation gelaufen ist, die ich jedoch verpasst habe. Dabei ist mir aufgefallen, das sie sich zum Teil vollkommen anders äußern, als ein paar meiner Kollegen, die während der Aktivitäten der Zweiten Generation schon älter waren. Meine Studenten haben überhaupt kein Verständnis für die Anschläge der RAF und vergleichen sie mit den Terroranschlägen aus dem islamischen Raum. Für sie ist es Gewalt aufgrund weltanschaulichen Sektierertums.“ Christopher grinst und beißt ein großes Stück von dem weichen Hörnchen ab. Der große Tropfen Marmelade, der dabei auf seinen Teller fällt, stört Pia unverhältnismäßig, aber sie sagt nichts und wartet darauf, dass er weiter redet. „Dagegen gibt es im Rahmen der Älteren Versuche, die Anschläge der RAF zu rationalisieren, in eine ideologische oder historische Entwicklungslinie zu stellen. Es gibt immer wieder den Hinweis auf den Ursprung der RAF in den linken Studentendemos, und dann diese Bemerkung, dass es die falsche Wahl der Mittel war. Weißt Du woran mich das erinnert?“ Er erwartet nicht wirklich eine Antwort von seiner Frau, die seinen meist hochtheoretischen und immer ausschweifenden Gedankengängen nicht immer folgen kann oder will. „An die Diskussionen, die zum Stichwort „Deutscher Sonderweg“ gemacht wurden.“ Wieso gibt es bei ähnlichen Vorbedingungen und einer Mehrzahl vergleichbarer Entwicklungen einen extremen Ausreißer?“ Pia beginnt ihr Brötchen zu essen. Sie liebt die Kombination von Kaffee und Schokocreme. „Aber hier geht es nicht um ein Volk sondern es geht um eine Handvoll von Menschen. Und bei den Diskussionen unter den Älteren geht es weniger um die Unterschiede in der Entwicklung, stattdessen stehen die gemeinsamen Ursprünge im Vordergrund. Manchmal habe ich das Gefühl, die RAF wird manchmal immer noch als eine Art missratener Spross der Familie angesehen, aber gerade dieses Bild drückt etwas anderes aus als die totale Ablehnung. Im schlimmsten Fall ist es eine unterschwellige Bewunderung von Momenten wie Individualität, Entschlossenheit, Risikobereitschaft, Konsequenz. Niemand würde das öffentlich zugeben, aber das ist meines Erachtens der größte Fehler, denn so vermeidet man auch die Reflektion über diese unbewusst bleibende Einstellung gegenüber der RAF.“ Er macht eine Pause und seine Augen fragen, ob Pia ihm noch zuhört. Sie nickt. „Manche der Älteren bemühen sich unbewusst um so etwas wie Verständnis für die Anschläge, während meine Studenten aus der zeitlichen Distanz die Handlungen der RAF fast objektiv betrachten. Sie sehen die Handlungen weniger in weltanschaulichen oder sogar politischen Zusammenhängen sondern eher in strafrechtlicher Hinsicht als Morde, Sachbeschädigung, eben Verbrechen.“ Er macht eine Pause um über seine Worte nachzudenken und Pia nutzt die Zeit um sich Kaffee nachzuschenken und ein weiteres Brötchen zu schmieren. Zumindest ihr Magen ist jetzt wach. „Wir in der westlichen Welt haben kein Verständnis für die Anschläge der Al Kaida und wir bemühen uns auch nicht wirklich darum. Wir setzen von vornherein voraus, dass diese Aktionen keinerlei vernünftige Grundlage haben, wobei wir festlegen, was Vernunft bedeutet. Bei der RAF erlauben wir uns zumindest den Luxus, die Abweichung von der Vernunft nachzuvollziehen. Was ist richtig? Sollten wir versuchen zu verstehen, warum linke Extremisten und islamistische Fanatiker ihr Leben und das Hunderte Anderer opfern? Oder ist der Versuch zu verstehen an sich schon Partizipation an diesen menschenunwürdigen Verbrechen?“

Freitag, 2. Februar 2007

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65: das Foto

Sie reicht Alena das Foto und beobachtet gespannt ihre Reaktion. Alenas Augen fliegen über das Foto und weiten sich dann. Ohne Worte starrt sie einen Moment darauf, dann fragt sie zögernd: „Die Frau ist mit Sicherheit Marianne Wagenbach. Und der Mann ist nicht Hoffmann, Kaspar hat mir ein Bild von ihm gezeigt.“ Sie schaut Pia hilfesuchend an, aber Pia kann in Alenas Blick lesen, dass sie bereits weiß, um wen es sich handelt. Pia kann ein aufgeregtes Grinsen nicht verbergen. Endlich hat sie Gelegenheit mit jemandem über dieses verdammte Bild zu sprechen, das ihr die letzten Stunden im Kopf herumgespukt ist. Sie nickt, beinahe ausgelassen. „Otto Schwarz. Das ist der Hammer, oder?“ Alena macht den Eindruck, als wolle sie in das Foto hineinkriechen, so konzentriert untersucht sie es. „Ich kann das nicht glauben,“ murmelt sie. „Das ist wirklich keine Fälschung?“ Interessiert fragt Pia: „Was war Ihre erste Intuition, als Sie das Bild gesehen haben?“ Alena löst ihren Blick von der quadratischen Momentaufnahme aus der Vergangenheit. „Was ich als allererstes gedacht habe? Ob der Mann auf dem Foto vielleicht Kaspars Vater ist.“ Sie lacht verlegen. „Das ist Unsinn, und völlig aus der Luft gegriffen. Aber Sie haben gefragt.“ Pia lächelt. „Das ist gar nicht so dumm. Tatsächlich habe ich auch schon darüber nachgedacht.“ Sie erzählt Alena von ihren Vermutungen über die Herkunft des Fotos. „Wenn es nicht als Erpressungsversuch zugeschickt worden ist, könnte das Bild einen sentimentalen Wert für Schwarz gehabt haben. Mir reicht allerdings schon der offensichtliche Hinweis, dass die beiden ein Verhältnis hatten. Der Terroristenjäger und die Bombenlegerin. Wie romantisch.“ Pias Lächeln wird leicht zynisch. „Wenn mein Chef das erfahren würde, könnte ich sofort aufhören, den Mörder zu suchen. Vermutlich würde er dann die Meinung vertreten, dass Schwarz die Exekution doch verdient hat.“

Alena hebt die Augenbrauen, wie um zum Ausdruck zu bringen, dass sie diesen Gedanken doch recht pietätlos findet; dann zieht das Foto wieder ihre Aufmerksamkeit an. Pia lehnt sich zurück und betrachtet sie nachdenklich. Alenas Überraschung zeigt ihr, dass sie keine Ahnung von der Beziehung zwischen Schwarz und Wagenbach hatte. Das könnte daraufhin deuten, dass auch Kaspar nichts davon weiß. Vielleicht hat Kaspar ihr aber nur nichts davon erzählt. Um sich nicht ihn ihren Augen verdächtig zu machen? „Kann ich mit Ihnen über Kaspar Wagenbach reden oder reißen Sie mir sofort wieder den Kopf ab, wenn meine Vermutungen in die Richtung gehen, dass Kaspar involviert ist?“ Langsam schaut Alena hoch. „Für rationale Begründungen bin ich immer offen. Aber wenn Ihre Frage lautet, ob Kaspar von der Freundschaft zwischen seiner Mutter und Schwarz wusste, muss ich Ihnen leider sagen, dass ich keine Ahnung hatte. Er hat nie etwas davon erwähnt. Auch keine Andeutungen gemacht.“ Pias Fingerspitzen gleiten über das weiche Leder ihrer Handtasche. „Ziehen Sie in Erwägung, dass er es Ihnen gegenüber verschwiegen hat?“ Alena legt das Foto vorsichtig vor sich auf den Tisch und streicht mit beiden Händen die Locken aus dem Gesicht. Für einen Moment presst sie die Handballen auf ihre Augen. Dann schaut sie Pia an und hebt die Schultern. „Ich würde es nicht ausschließen. Und ich kann auch nicht leugnen, dass das Wissen um diese Beziehung ein Mordmotiv darstellt.“ Aber dann blitzen ihre Augen wieder mit neuer Energie. „Andererseits muss es aber auch nicht so sein. Sie haben ein ganz bestimmtes Bild von Kaspar. Sie sehen ihn als einen frustrierten Spinner, der irgendwie seine Mutter erreichen will und sei es dadurch, dass er ihr nacheifert. Aber Kaspar ist nicht gewalttätig. Ich kenne ihn schon lange. Er mag ein Exzentriker sein, aber er ist auch ein Theoretiker. Er liest und recherchiert im Internet. Er sammelt Wissen an und konstruiert sich dadurch eine Antwort auf seine Fragen. Aber ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass er auf eine so faktische Art und Weise aktiv wird. Darin sind wir uns ziemlich ähnlich. Wir mögen Planspiele lieber als die Wirklichkeit.“ Pia sieht sie lange an. Als ein Löffel laut auf den Boden klappert, wird ihr auf einmal wieder bewusst, dass sie mit Alena in diesem Restaurant sitzt. Nun dringen die Gesprächsfetzen zu ihr durch, die sie völlig ausgeblendet hatte. Auch Alena blinzelt kurz. Fast gleichzeitig beginnen beide zu gähnen. „Es war ein langer Tag. Ich muss ins Bett,“ murmelt Pia und winkt dem Kellner. „Hören Sie, Alena. Tun Sie mir einen Gefallen?“ Alena nickt gebannt. „Sprechen Sie das Thema bei Kaspar Wagenbach an, aber erwähnen Sie nicht das Foto. Versuchen Sie es auf eine andere Art, berichten Sie zum Beispiel über die Bemerkung der Dahlem, dass es besser für ihn wäre, wenn er nicht mehr über seine Mutter erfährt. Versuchen Sie herauszubekommen, was er darüber weiß oder denkt.“ Alena runzelt die Stirn. „Unter einer Bedingung,“ sagt sie. Pia zieht die Augenbrauen hoch und Alena fährt fort: „Wenn das alles vorbei ist, egal wie es ausgeht, müssen Sie Kaspar das Foto geben. Er hat ein Recht darauf. Und er hat nicht viele Bilder von seiner Mutter.“ Die letzte Bemerkung rührt Pia auf eine seltsame Art. Sie überspielt es mit einem Schulterzucken. „Abgemacht.“

Mittwoch, 31. Januar 2007

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64: Kooperation

Alena sieht Pia nachdenklich an. Pia redet weiter: „Glauben Sie nicht, dass die Dahlem in der Lage wäre, sich eine Situation zu konstruieren, in der sie sich wieder zu hause fühlt? Brigitte Dahlem hat keine Gegenwart und keine Zukunft. Denken Sie nicht, dass sie versuchen könnte, die Vergangenheit wieder auferstehen zu lassen, das einzige, was sie kennt?“ So etwas wie Sarkasmus taucht in Alenas Gesicht auf und Pia findet, dass ihr das gut steht. „Sie glauben doch, ich habe keine Menschenkenntnis. Warum fragen Sie mich dann, ob ich mir das vorstellen kann?“ Pia lächelt. Dann hebt sie die Hand um dem Kellner zu signalisieren. „Können wir noch zwei Espressi haben?“ Alena protestiert nicht, sie wartet bis der Kellner mit den Tellern verschwunden ist und sagt dann: „Eine Sache ist seltsam. Ich habe mit der Dahlem über Kaspar gesprochen, unter anderem über seinen Wunsch mehr über seine Mutter zu erfahren. Und Frau Dahlem sagte so etwas wie, es wäre besser, wenn er nicht mehr wüsste.“ Sie schaut Pia nachdenklich an. „Wir haben schon mal darüber gesprochen, nicht wahr? Nachdem Sie sich kurzfristig überlegt hatten, mich doch nicht zu erschießen.“ Verlegenheit steigt in Pia auf. Weniger weil sie Alena grob behandelt hat, stattdessen ist es ihr unangenehm, dass sie ihre Wut so offen gezeigt hat. Sie hätte kalt bleiben sollen, zynisch, mit Worten verletzend. Stattdessen ist sie total ausgerastet. „Ich hätte Sie schon nicht erschossen. Sie haben keine Ahnung, mit welchem Papierkram man sich nach Schusswaffengebrauch herumschlagen muss.“ Sie registriert überrascht, dass Alenas Grinsen echt aussieht. „Sind Sie nicht wütend auf mich,“ fragt sie und Alena wirft ihr einen verwunderten Blick zu. „Nein, Sie hatten ja doch einen Grund, sauer auf mich zu sein. Wenn ich auch Ihre Reaktion etwas übertrieben fand. Aber so sind Sie nun mal, glaube ich.“ Sie macht eine kurze Pause in der Pia spürt, dass noch etwas nachkommt. „Sie können nicht akzeptieren, dass jemand andere Motive und Ziele hat als Sie. Sie verabsolutieren Ihre Ziele; damit wird allerdings jeder ein Gegner, der nicht mit Ihnen an diesem einen Strang zieht. Und Sie sind völlig unfähig zur Kooperation. Sie brauchen Leute, die Ihnen zuarbeiten, aber auf keinen Fall gleichwertige Kollegen. Das ist auch nicht immer der beste Ansatz.“ Pia wirft zwei Stücke Zucker in den Espresso, der jetzt vor ihr steht, und verrührt ihn sorgfältig. Alena beobachtet, wie die hellbraune Crema sich langsam auflöst. „Sie haben natürlich Recht,“ sagt Pia. „Ich mache mir das Leben schwer mit meiner Art. Riesel wird mich über die Klippe schubsen, sobald er die Gelegenheit dazu hat. Meine Kollegen würden mir am liebsten Strychnin in den Kaffee kippen. Und Oberdorf zählt wahrscheinlich die Tage bis zu seiner Pensionierung, weil sich dann sein Nachfolger mit mir herumschlagen muss. Ich hätte schon längst befördert werden können, wenn ich nur etwas netter wäre.“ Sie sieht Alena mit einem ungewohnt offenen Lächeln an. „Aber ich arbeite nun mal mit Vollidioten zusammen und sehe nicht ein, warum ich diesen Umstand vertuschen soll, nur damit sie mich auf dem Flur grüßen. Ich kann nett sein. Wenn jemand es wert ist, dass ich nett zu ihm bin.“ Pia bemerkt, dass Faszination in Alenas Gesicht aufscheint und sagt schnell: „Aber ich habe keine Lust, in Ihrem Kuriositätenkabinett aufzutauchen.“ Die Frauen grinsen sich an und trinken simultan ihren Kaffee aus. „Aber jetzt reden wir noch mal über Marianne Wagenbach. Sie sind sich jetzt also sicher, dass meine Vermutung von damals stimmt,“ fragt Pia und stellt plötzlich fest, dass ihre Ressentiments gegen Alena sich in Luft aufgelöst haben.

Alena scheint zu spüren, dass Pias Einstellung ihr gegenüber sich geändert hat, denn sie nickt fast übereifrig. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass Brigitte Dahlem etwas über Marianne Wagenbach weiß, dass in ihren Augen nicht besonders positiv ist.“ Ihr Gesicht verdüstert sich wieder. „Allerdings habe ich nicht die leiseste Ahnung, was das sein kann.“ Pia zögert noch einen Moment, dann hebt sie ihre elegante schwarze Handtasche von dem Stuhl neben ihr und öffnet sie. „Vielleicht kann ich es Ihnen sagen.“

Montag, 29. Januar 2007

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63: Psychologie

Alena nickt. „So was ähnliches hat Frau Dahlem auch behauptet. Sie hat von Ihnen erfahren, dass Burg unter falschem Namen in Freiburg gearbeitet hat. Daraufhin hat sie vermutet, dass das mit Schwarz zusammenhängen könnte.“ Auf Alenas Gesicht fällt plötzlich ein nervöser Schatten. „Wusste Brigitte Dahlem von Ihnen von den Drohbriefen?“ Pia nickt kurz. „Ich habe es bei unserem ersten Treffen erwähnt.“ – „Hat sie auch bereits mit Ihnen über das Treffen mit Burg gesprochen?“ Wieder nickt Pia und beobachtet, wie ein verwirrter Ausdruck in das blasse Gesicht tritt. Ihr kommt ein Gedanke. „Brigitte Dahlem hat Ihnen diese Informationen als Neuigkeiten für mich verkauft, stimmt´s?“ Alena wird sichtbar rot und Pia grinst. „Sorry, aber das sind alte Hüte. Was hatten Sie vor? Wollten Sie mir Informationen verkaufen und dafür wieder mitspielen? Und dabei die Hilfe von Brigitte Dahlem in Anspruch nehmen, der Sie wiederum die Informationen von mir angeboten haben?“ Pias Lächeln wird maliziös. „Tja, die Dahlem hat Sie reingelegt. Und jetzt überlegen Sie, warum sie das getan hat, nicht wahr?“ Sie braucht keine wörtliche Bejahung, um zu wissen, dass sie richtig liegt. „Ich vermute mal, sie hat Ihnen genauso wenig getraut, wie ich es tue. Brigitte Dahlem rechnet damit, dass Sie ihr nur die halbe Wahrheit sagen und die Bonbons für sich behalten, falls Sie mit mir wieder ins Geschäft kommen. Und darum hat sie dafür gesorgt, dass eine Kooperation gar nicht erst zustande kommt. Sie wollte uns beide gegeneinander ausspielen. Sie sollten in meinen Augen endgültig diskreditiert sein, wenn Sie mir mit völlig wertlosem Mist kommen.“ Pia lehnt sich zurück und schüttelt langsam den Kopf, nicht ohne weiterhin ein amüsiertes Grinsen zur Schau zu tragen. „Liebe Alena, eine Ex-RAF ist ein Kaliber zu groß für Sie. Dachten Sie ernsthaft, Sie kommen mit diesem Doppelspiel durch?“

Die Frage hängt im Raum. Dann seufzt Alena und beginnt unerwartet, ihren Salat zu essen. Pia sieht ihr zu, wie sie sorgfältig die Paprika auf die Gabel spießt, sie in die Vinaigrette taucht und dann zum Mund führt. Sie widmet sich ebenfalls dem letzten Stück Calzone. Auf einmal hat sie Mitleid mit Alena. „Was wollen Sie eigentlich? Warum hängen Sie sich da so rein? Warum bringen Sie sich in tausend Schwierigkeiten?“ Pia schneidet durch den luftigen Hefeteig. „Sie haben es geschafft in weniger als einer Woche drei Leute gegen sich aufzubringen.“ Alena isst konzentriert weiter. Die Frauengruppe schickt Wellen von lautem Gelächter durch den Raum und einer der Geschäftsleute sieht indigniert zu ihnen hinüber. Alena registriert augenscheinlich nichts davon, wie eine Autistin fokussiert sie das, was direkt vor ihr existiert. Als wenn sie alles andere ausgeschaltet hat, die Besucher des Restaurants, die Geräuschkulisse, die Essensgerüche, Pia. Sie selektiert ihre Wahrnehmung, denkt Pia. Sie sucht sich das aus, was ihr gefällt und ignoriert den Rest. Plötzlich hat sie das Gefühl, Alena ein wenig zu verstehen. Pia hört auf zu essen und legt die Gabel auf den Tisch. „So geht das nicht, Alena. Ihr Ansatz ist total falsch.“ Alena sieht überrascht auf und Pia spricht schnell weiter. „Sie gehen wie selbstverständlich davon aus, dass Sie Andere benutzen können, um an Ihre Lieblingsspielzeuge zu kommen. Denn etwas anderes ist das doch hier nicht, oder? Sie hängen an Ihren kleinen intellektuellen Spielereien, den raffinierten Problemchen, die Ihnen die leeren Nachmittage versüßen. Aber für Brigitte Dahlem und Kaspar Wagenbach geht es um etwas anderes: es geht um ihr Leben, um ihre Existenz.“ Der Blick, den Pia zugeworfen bekommt, beinhaltet deutlich, dass Alena einfach nicht glauben kann, was sie gerade aus Pias Mund hört. Sie lacht laut auf. „Was werfen Sie mir vor, dass ich Sie durchschaut habe, oder dass ich es bin, die Ihnen vorhält, dass Sie sich die Rosinen herauspicken?“ Pia legt ihren Kopf schief. „Für mich ist der Fall zumindest kein Selbstzweck. Ich will einen zweifachen Mörder finden, bevor er noch mehr Leute tötet. Oder ungestraft in der Versenkung verschwindet. Und ich mache das noch nicht einmal aus reinem Vergnügen. Es ist mein Beruf. Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt.“ Alenas Augen sind seltsam leer. Pias Stimme wird eindringlich. „Haben Sie schon einmal versucht, sich in andere hineinzuversetzen? In Kaspar Wagenbach zum Beispiel? Es geht nicht nur darum, ihn zu analysieren, seine Motive zu rationalisieren. Haben Sie schon einmal versucht nachzuempfinden, wie er sich fühlt?“

Wie auf Stichwort macht Alena eine wegwerfende Handbewegung. „Niemand kann wissen, wie sich ein anderer fühlt. Wir können nicht in die Haut der Anderen schlüpfen.“ Pia rückt nahe an den Tisch heran. „Aber wir können versuchen uns selbst in die Situation zu versetzen, in der jemand anders steckt. Ich zumindest kann das. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich mich fühlen würde, wenn meine Mutter eine tote Terroristin ist und ich mich mein ganzes Leben lang mit der Frage herumschlage, warum sie sich nie um mich gekümmert hat. Ich kann das vielleicht nicht in allen Einzelheiten nachempfinden, aber ich weiß zumindest, dass ich mich verdammt beschissen fühlen würde. Betrogen von ihr, was meine Vergangenheit angeht und auch meine Gegenwart. Ich würde sie hassen, weil sie mich nicht loslässt und ich würde mich hassen, weil ich nicht stark genug bin, um ein eigenes Leben zu leben. Und vielleicht würde es mich erleichtern, endlich alle Spuren zu tilgen, die mich noch an sie binden.“ Alena öffnet den Mund um etwas zu sagen aber Pia kommt ihr zuvor. „Sie schaffen das nicht, Alena. Sie beherrschen diese grundlegende soziale Fähigkeiten nicht. Sie können sich nicht in Andere oder in deren Leben hineinversetzen, weil Sie so total anders sind und völlig anders leben. Das hat die Folge, dass Andere für Sie nichts weiter sind als Gegenstände oder Sachverhalte, etwas, das man untersuchen kann, aber zu dem die Distanz unüberbrückbar ist.“ Pias beobachtet Alena genau, als sie weiter redet: „Brigitte Dahlem zum Beispiel war 22 Jahre im Gefängnis. Sie war 22 Jahre abgeschnitten vom öffentlichen Leben. Sie ist auf einer Stufe stehen geblieben, in der sie nur noch von Erinnerungen und Worten umgeben ist. Die Erinnerungen werden täglich blasser und die Worte verlieren immer mehr an Bedeutung. Sie weiß irgendwann nicht mehr, was sie getan hat, was sie will und wer sie ist. Sie muss sich neu erfinden, täglich, und das ist nicht einfach, weil niemand da ist, an dem sie ihre Erfindung ausprobieren kann.“ Pia wird leiser, weil sie weiß, dass sie Alenas Aufmerksamkeit hat. „Sie wird zu der leeren Hülle, die wir jetzt sehen. Sie ist wie ein Automat, der nur ein paar Funktionen hat: Misstrauen, einen Hang zur Manipulation, Kontrollzwang. Und diese Funktionen gründen in purer Angst. Vor den Menschen um sie herum, vor dem Leben ohne geregeltem Tagesablauf, ohne verschlossene Türen. Vor der eigenen Leere.“ - „22 Jahre sind eine lange Zeit,“ sagt Alena langsam. Pia nickt. „Eine verdammt lange Zeit. Die nicht spurlos ein einem vorüber geht. Brigitte Dahlem war ein anderer Mensch, als sie entlassen wurde, dessen bin ich sicher. Es ist nicht nur Zeit, die man im Gefängnis absitzt. Man verliert etwas unwiederbringlich. Bei so langen Haftstrafen zahlt man seine Schulden nicht mit Lebenszeit ab, man zahlt mit einem großen Stück vom Selbst.“ Ihr Blick wird streng. „Aber so ist das eben. Sie hat es verdient. Sie wollte über fremdes Leben bestimmen, hat getötet und weitere Tote in Kauf genommen.“ – „Ist Quid pro Quo Ihre Maxime,“ fragt Alena, ohne jeden Vorwurf in der Stimme. Pia schüttelt den Kopf. „Nein. Aber sie hat gegen das Gesetz verstoßen. Und wenn es keine Moral mehr gibt, in dem Sinne, dass das Leben Anderer respektiert wird, ist das Gesetz das einzige, was wir noch haben.“

Sonntag, 28. Januar 2007

sternkleinsternkleinsternklein

62: Beim Italiener

Als Pia in das Restaurant kommt, sitzt Alena bereits an einem Tisch in der Ecke. Pia sieht sich in dem Lokal um, bevor sie zu ihr geht. Die Mehrzahl der Tische ist besetzt, meist von Frauengruppen, die durcheinander reden und laut lachen oder von Männern im Anzug, deren müder und gelangweilter Gesichtsausdruck den abendlichen Ausklang einer Dienstreise verrät. Alena hat den Blick auf die weiße Tischdecke geheftet und sieht nachdenklich aus. Sie schaut auf, als Pia sich an den Tisch setzt und nickt kurz. Pia nickt ebenfalls anstelle einer Begrüßung. Der Kellner bringt eine zweite Speisekarte, die Pia hungrig aufschlägt. „Haben Sie schon bestellt,“ fragt sie Alena, ohne den Blick von der Liste der Gerichte zu nehmen. „Nein“, sagt Alena. Eine Weile blättert Pia schweigend und konzentriert in der Karte, dann winkt sie dem Kellner. „Ich nehme eine große Calzone mit Meeresfrüchten und dazu einen trockenen Weißwein.“ Während der Kellner die Bestellung notiert, sehen sich die beiden Frauen an. Interessiert nimmt Pia die Ernsthaftigkeit Alenas zur Kenntnis, und noch etwas anderes, was sie nicht sofort definieren kann. Dann fällt ihr der Begriff Präsenz ein. Tatsächlich wirkt Alena weniger verschwommen als sonst, scheint plötzlich mehr in der Wirklichkeit zu stehen. Allerdings hat Pia den Eindruck, als wenn ihr das nicht sonderlich zusagt.

Der Kellner fragt Alena nach ihrer Bestellung und Alena zuckt zusammen, als hätte sie seine Anwesenheit vergessen. Sie öffnet hastig die Karte und zeigt auf einen Salat. „Und einen halbtrockenen Weißwein, bitte.“ Der Kellner nimmt die beiden Karten mit und die Frauen sehen ihm zu, wie er damit hinter der Theke verschwindet. Dann richtet sich ihre Aufmerksamkeit wieder aufeinander. „Sie haben also mit Brigitte Dahlem gesprochen,“ beginnt Pia. Leichte Anspannung erscheint in Alenas Gesicht, was Pia verrät, dass nun der Teil kommt, auf den Alena sich vorbereitet hat. Der Teil, in dem jedes Wort sitzen muss, damit nicht zu viel verraten wird. Sie wird definitiv etwas verbergen. „Ich habe Frau Dahlem heute morgen besucht und wir sind spazieren gegangen.“ – „Warum sind Sie zu ihr gegangen,“ unterbricht Pia. Die beste Strategie ist nun, Alena aus ihrem Konzept zu bringen. „Ich möchte Kaspar helfen,“ erklärt Alena langsam. „Ich glaube, dass Sie sich auf ihn eingeschossen haben und ich habe gehofft, ich erfahre etwas von Brigitte Dahlem, das Sie auf eine andere Spur bringt.“ Pia grinst. „Sie wollen Kaspar Wagenbach nicht helfen. Warum sollten Sie das tun? Sie sind doch noch nicht mal davon überzeugt, dass er es nicht war.“ Alena blickt sie stumm an. Dann seufzt sie. „Meine Motive können Ihnen doch vollkommen egal sein. Wollen Sie nun hören, was sie mir erzählt hat?“ Pia zuckt mit den Achseln. „Schießen Sie los.“

Alena versucht sich offensichtlich zu konzentrieren. „Hans-Joachim Burg stand vor ca. 10 Wochen vor Brigitte Dahlems Tür. Er wollte mit ihr über Otto Schwarz sprechen, der ein paar Tage vorher bei ihm in Hamburg war und ihn mit dem Verdacht konfrontierte, dass Burg Drohbriefe an Schwarz geschickt hatte.“ Alena macht eine Pause und sieht Pia erwartungsvoll an. Wieder ein Schulterzucken. „Ich habe die Drohbriefe gefunden. Sie waren der Grund dafür, dass wir überhaupt auf die Idee gekommen sind, dass ein Ex-RAF mit der Angelegenheit zu tun hat.“ Pia zieht die Augenbrauen nach oben, als sie Alenas enttäuschten Gesichtsausdruck sieht. „Ich darf Ihnen keine Einzelheiten der Ermittlungen verraten, darum habe ich es für mich behalten.“ Sie beugt sich vor. „Hat Kaspar Wagenbach Ihnen gegenüber jemals diese Briefe erwähnt?“ Alena schüttelt den Kopf. „Ich wusste nichts davon, bis heute morgen. Und ich glaube auch nicht, dass Kaspar von ihnen weiß.“ Sie reißt die Augen auf. „Das entlastet ihn doch eigentlich.“

Pia zieht eine Grimasse. „Die Tatsache, dass er Ihnen nichts davon erzählt hat, bedeutet nicht gleichzeitig, dass er sie nicht geschrieben hat. Vielleicht traut er Ihnen nicht.“ Sie beobachtet amüsiert, wie Alena diesen Gedanken verarbeitet und greift dann den Faden wieder auf: „Hat Burg denn die Drohbriefe geschrieben?“ Alena schüttelt den Kopf. „Laut Brigitte Dahlem hat er zum ersten Mal von den Briefen erfahren, als Schwarz ihn daraufhin ansprach.“ Pia denkt nach. Warum sollte Burg die Dahlem anlügen? Wahrscheinlicher ist, dass er tatsächlich nicht der Briefschreiber ist. „Hat Brigitte Dahlem die Briefe geschrieben?“ Pia beugt sich erwartungsvoll nach vorn und Alena schüttelt erneut den Kopf. „Ich habe sie das auch gefragt, aber sie hat es verneint.“ Neugierig fragt sie: „Was waren das denn für Briefe?“ Pia registriert, dass es Alena wie selbstverständlich akzeptiert, dass Pia ihr von den Drohbriefen nichts erzählt hat. Dass sie nicht gekränkt ist oder Pia verdächtigt sie zu hintergehen. Aber schließlich gehören diese Informationen zu Pias Beruf, es handelt sich nicht nur um ein unterhaltsames Hobby, wie in Alenas Fall. Sie entschließt sich, von den Briefen zu erzählen, weil es nicht schadet, die Einzelheiten weiterzugeben. Alena hört aufmerksam zu und hebt die Augenbrauen, als Pia erwähnt, dass die Briefe in Waldmühl eingeworfen wurden. „Das deutet nicht auf Burg hin, oder,“ sagt sie und Pia macht eine müde Handbewegung. „Vielleicht nicht. Aber es könnte auf die Dahlem hindeuten – oder auf Kaspar Wagenbach.“

Alena runzelt die Stirn. Dann fährt sie fort: „Jedenfalls hat Burg mit Brigitte Dahlem über Schwarz und diese Briefe gesprochen. Schwarz hatte den Verfasser gesucht, weil er sich offensichtlich bedroht fühlte. Und Burg war etwas beunruhigt über diese Entwicklung. Er hatte wohl Angst, dass Schwarz die Vergangenheit wieder aufrührt, während er, Burg, eigentlich nur ein neues Leben wollte.“ Alena sieht Pia genau an, als sie berichtet: „Und ein paar Tage später war Schwarz auch bei Brigitte Dahlem.“ Das weckt Pias Aufmerksamkeit. „Mir hat sie nichts von diesem Besuch erzählt. Haben Sie noch mehr über das Treffen zwischen Dahlem und Schwarz erfahren?“ Der Kellner erscheint mit dem Essen und beide warten, bis er sich vom Tisch entfernt hat. Pia stürzt sich auf ihre Calzone und Alena stochert in dem Salat, während sie erzählt: „Er hat sie auch nur gefragt ob sie die Briefe geschrieben hat, ob sie noch Kontakt zu den anderen hat und ob sie etwas über Koch weiß.“ Pia schluckt ein großes Stück Füllung hinunter. „Und, weiß sie etwas über Koch?“ – „Nein, jedenfalls hat sie das Otto Schwarz gesagt.“ Pia isst eine Weile und denkt nach. „Burg ist zwei Wochen nach dem Treffen mit der Dahlem untergetaucht. Er hat unter einem anderen Namen als Pfleger in Freiburg angefangen. Vielleicht hat er das einfach nur getan um Otto Schwarz los zu sein.“

Montag, 22. Januar 2007

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61: Kontakt

Als Pia zurück fährt hat sie entschieden, dass sie niemandem vom dem Foto erzählen wird. Das Problem wird sein, dass sie so kaum an Informationen kommt. Es macht in ihren Augen jedoch keinen Sinn Oberdorf einzuweihen. Wenn er gewusst hätte, dass Schwarz undercover bei der RAF tätig war, dann hätte er es ihr gesagt. Wenn Oberdorf es trotzdem verschwiegen hätte, dann hätte er einen Grund dafür, den Pia zumindest interessant findet. Vielleicht lohnt es sich, Oberdorf auf das Thema anzusprechen, einfach um zu sehen wie er reagiert. Ohne das Foto zu erwähnen. Sie lächelt vor sich hin. Aber das Gefühl bleibt, dass sie liebend gerne mit irgendwem ihre Entdeckung diskutiert hätte.

Im Büro empfängt Riesel sie mit müden Augen und Frust im Blick. „Es gibt mehr als tausend Männer, die beide Kriterien erfüllen. Sie erwarten jetzt nicht ernsthaft, dass ich jeden einzelnen befrage?“ Sein Gesichtsausdruck spiegelt, dass er diese Möglichkeit nicht für vollkommen unwahrscheinlich hält. Pia sucht die Kaffeemaschine und findet die dazugehörige Kanne leer. „Außerdem hatten Sie einen Anruf, von Frau Brandenburg,“ bemerkt Riesel und Pia vergisst den Kaffee für einen Moment. „Was wollte sie,“ fragt sie mit gerunzelter Stirn. Riesel reibt seine Lider. „Sie bittet um Ihren Rückruf. Es sei dringend.“ Pias Augen werden schmal. Was kann so dringend sein, dass Alena Brandenburg sie kontaktiert – nach einem Zusammentreffen wie gestern. Sie setzt sich auf ihren Stuhl und dreht von der einen in die andere Richtung. Es ist durchaus mutig von Alena sie anzurufen. Pia hätte gedacht, dass sie sich jetzt endgültig zurückzieht. Was könnte sie dazu bewegt haben – Kaspar? Sind die beiden ein Paar? Sofort schüttelt Pia den Kopf. Unmöglich. Alena und eine Beziehung sind zwei unvereinbare Vorstellungen. Auch wenn Kaspar sicher ein möglicher Kandidat wäre, er ist zumindest genauso seltsam wie sie. Sie erinnert sich daran, wie Kaspar auf Alenas Sessel-Lehne saß, wie er kurz den Arm um sie legte. Deutet dass auf Gefühle hin? Aber sie hat auch Alenas Gesicht vor Augen, eine Mischung aus Verwunderung und Zurückhaltung. Wenn Liebe, dann scheint sie einseitig zu sein. Aber trotzdem hilft sie Kaspar. Fühlt sie sich für ihn verantwortlich? Pia spürt Riesels erstaunten Blick auf sich. Sie steht auf. „Ich mache Kaffee. Wollen Sie auch noch eine Tasse oder sind Sie schon auf dem Weg nach hause?“ Riesel nimmt das angedeutete Angebot nur zu gerne an. „Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, bin ich weg. Meine Auswertungen habe ich Ihnen gemailt.“ Pia nickt und verschwindet mit der Kanne auf dem Damenklo. Als sie zurückkehrt ist das Büro bereits leer. Mit einem Seufzer der Erleichterung stößt sie den Prozess des Kaffeekochens an und lässt sich dann wieder auf ihren Drehsessel fallen. Ihre Augen hängen am Telefonhörer. Soll sie zurück rufen? Sie kann nicht leugnen, dass sie neugierig ist. Alena ist nicht der Typ der sich entschuldigt. Eigentlich erwartet Pia auch keine Entschuldigung. Fakt ist, dass sie hintergangen wurde. Alena hat wichtige Informationen verschwiegen. Eine Entschuldigung kann an dieser Tatsache nichts ändern. Pia dreht sich in ihrem Stuhl zur Kaffeemaschine und beobachtet wie die Tropfen in die schwarze Flüssigkeit fallen. Kann sie Alena noch trauen? Falls diese vorschlägt, die merkwürdige Form der Kooperation wieder aufzunehmen, die sich seit dem Zahlenmord zwischen ihnen entwickelt hat, wie soll Pia darauf reagieren? Welchen Wert kann sie Alenas eventuellen Beiträgen zumessen? Als der Kaffee fertig ist, schütten sie ihn in eine Tasse und wirft drei Stück Zucker hinein. Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass es bald sieben ist. Der Kaffee macht sie wach und entschlussfreudig. Sie kramt ihr Notizbuch heraus und sucht die Nummer von Alena.

Als das Telefon klingelt sitzt Alena mit einer Tasse Tee auf ihrem Sofa und starrt in die Dämmerung. Die Vorhänge sind aufgezogen, das spärliche Licht der untergegangenen Sonne stört Alena nicht mehr. Sie mag die Schatten, die nach der blauen Stunde zum Leben erwachen. Als wenn sie für eine kurze Zeit in eine Welt schauen könnte, deren Ränder am Abend durchsichtig werden. Das Schrillen reißt sie aus ihrer Sehnsucht nach dieser Schattenwelt und erinnert sie daran, dass sie in einer Realität lebt, die ihr immer suspekter wird. Einen Moment lang ist sie unfähig, den Hörer abzunehmen. Dann reißt sie sich zusammen und meldet sich. „Sie wollten mich sprechen,“ hört sie Pias kühle Stimme. Alena schluckt. „Hallo Pia,“ sagt sie, und fast erschrocken wird ihr bewusst, dass sie zum ersten Mal in ihrer Bekanntschaft den Vornamen benutzt hat. Sie hört Pia überrascht aufatmen und hat gewinnt plötzlich neues Selbstvertrauen. Ohne auf eine Reaktion zu warten spricht sie weiter: „Ich habe heute mit Brigitte Wagenbach geredet. Sie hat mir etwas erzählt, das Sie vielleicht interessiert. Ich biete Ihnen meine Hilfe an und würde mich über eine gewisse Beteiligung bei den weiteren Nachforschungen freuen.“ Sie macht eine kurze Pause und sagt: „Ich werde Kaspar nicht einweihen oder vorwarnen, sollte er auf irgendeine Art verantwortlich sein, was ich nicht glaube.“ Sie hört Pia am anderen Ende der Leitung atmen. „Sollen wir und irgendwo treffen?“ Stille. Dann: „Gut. In einer halben Stunde beim Italiener am Markt. Ich könnte was zu essen gebrauchen.“

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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