Samstag, 3. Februar 2007

sternkleinsternkleinsternklein

66: Rezeption des Terrors

Christopher sitzt schon am Frühstückstisch, als Pia im Bademantel in die Küche kommt. Der Sonntag ist grau und Pias Laune dementsprechend. Sie lässt sich auf den Schwingerstuhl fallen und starrt müde auf die frischen Brötchen, die Christopher vom Becker auf ihrer Straße gekauft hat. „Gehst Du heute wieder arbeiten,“ fragt Christopher und zieht ihre Tasse zu sich heran, um ihr Kaffee einzugießen. Pia antwortet nicht, sondern trinkt erst einen Schluck schwarz, bevor sie Zucker dazugibt. „Ich weiß noch nicht,“ murmelt sie. – „Immer noch keine Fortschritte,“ fragt Christopher verständnisvoll. Pia sieht zu, wie er ein Brötchen mit Nutella schmiert und es auf ihren Teller legt. „Der heiße Herbst jährt sich dieses Jahr zum 30. Mal. Es gibt wieder verstärkt Dokumentationen im Fernsehen und Artikel in den Zeitungen. Aber weißt Du, das kommt mir so seltsam nostalgisch vor. Die Berichterstattung ist vollkommen anders als zum Beispiel anlässlich des fünften Jahrestages der Twin-Tower-Anschläge,“ meint Christopher, während er versucht ein Croissant durch zu schneiden. Bevor er es total zerstört, nimmt Pia es ihm aus der Hand und säbelt es mit einem Schnitt durch. Dankbar nimmt Christopher es entgegen. „Man sollte glauben, Terrorismus ist Terrorismus, aber die öffentliche Meinung scheint doch Unterschiede zu machen. Und diese Unterschiede scheinen generationsbedingt zu sein.“ Er streicht Erdbeermarmelade auf die beiden Hälften. „Gestern im samstäglichen Oberseminar haben meine Studenten mir das Thema aufgedrängt, nachdem wohl diese Woche eine Dokumentation gelaufen ist, die ich jedoch verpasst habe. Dabei ist mir aufgefallen, das sie sich zum Teil vollkommen anders äußern, als ein paar meiner Kollegen, die während der Aktivitäten der Zweiten Generation schon älter waren. Meine Studenten haben überhaupt kein Verständnis für die Anschläge der RAF und vergleichen sie mit den Terroranschlägen aus dem islamischen Raum. Für sie ist es Gewalt aufgrund weltanschaulichen Sektierertums.“ Christopher grinst und beißt ein großes Stück von dem weichen Hörnchen ab. Der große Tropfen Marmelade, der dabei auf seinen Teller fällt, stört Pia unverhältnismäßig, aber sie sagt nichts und wartet darauf, dass er weiter redet. „Dagegen gibt es im Rahmen der Älteren Versuche, die Anschläge der RAF zu rationalisieren, in eine ideologische oder historische Entwicklungslinie zu stellen. Es gibt immer wieder den Hinweis auf den Ursprung der RAF in den linken Studentendemos, und dann diese Bemerkung, dass es die falsche Wahl der Mittel war. Weißt Du woran mich das erinnert?“ Er erwartet nicht wirklich eine Antwort von seiner Frau, die seinen meist hochtheoretischen und immer ausschweifenden Gedankengängen nicht immer folgen kann oder will. „An die Diskussionen, die zum Stichwort „Deutscher Sonderweg“ gemacht wurden.“ Wieso gibt es bei ähnlichen Vorbedingungen und einer Mehrzahl vergleichbarer Entwicklungen einen extremen Ausreißer?“ Pia beginnt ihr Brötchen zu essen. Sie liebt die Kombination von Kaffee und Schokocreme. „Aber hier geht es nicht um ein Volk sondern es geht um eine Handvoll von Menschen. Und bei den Diskussionen unter den Älteren geht es weniger um die Unterschiede in der Entwicklung, stattdessen stehen die gemeinsamen Ursprünge im Vordergrund. Manchmal habe ich das Gefühl, die RAF wird manchmal immer noch als eine Art missratener Spross der Familie angesehen, aber gerade dieses Bild drückt etwas anderes aus als die totale Ablehnung. Im schlimmsten Fall ist es eine unterschwellige Bewunderung von Momenten wie Individualität, Entschlossenheit, Risikobereitschaft, Konsequenz. Niemand würde das öffentlich zugeben, aber das ist meines Erachtens der größte Fehler, denn so vermeidet man auch die Reflektion über diese unbewusst bleibende Einstellung gegenüber der RAF.“ Er macht eine Pause und seine Augen fragen, ob Pia ihm noch zuhört. Sie nickt. „Manche der Älteren bemühen sich unbewusst um so etwas wie Verständnis für die Anschläge, während meine Studenten aus der zeitlichen Distanz die Handlungen der RAF fast objektiv betrachten. Sie sehen die Handlungen weniger in weltanschaulichen oder sogar politischen Zusammenhängen sondern eher in strafrechtlicher Hinsicht als Morde, Sachbeschädigung, eben Verbrechen.“ Er macht eine Pause um über seine Worte nachzudenken und Pia nutzt die Zeit um sich Kaffee nachzuschenken und ein weiteres Brötchen zu schmieren. Zumindest ihr Magen ist jetzt wach. „Wir in der westlichen Welt haben kein Verständnis für die Anschläge der Al Kaida und wir bemühen uns auch nicht wirklich darum. Wir setzen von vornherein voraus, dass diese Aktionen keinerlei vernünftige Grundlage haben, wobei wir festlegen, was Vernunft bedeutet. Bei der RAF erlauben wir uns zumindest den Luxus, die Abweichung von der Vernunft nachzuvollziehen. Was ist richtig? Sollten wir versuchen zu verstehen, warum linke Extremisten und islamistische Fanatiker ihr Leben und das Hunderte Anderer opfern? Oder ist der Versuch zu verstehen an sich schon Partizipation an diesen menschenunwürdigen Verbrechen?“

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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