63: Psychologie

Alena nickt. „So was ähnliches hat Frau Dahlem auch behauptet. Sie hat von Ihnen erfahren, dass Burg unter falschem Namen in Freiburg gearbeitet hat. Daraufhin hat sie vermutet, dass das mit Schwarz zusammenhängen könnte.“ Auf Alenas Gesicht fällt plötzlich ein nervöser Schatten. „Wusste Brigitte Dahlem von Ihnen von den Drohbriefen?“ Pia nickt kurz. „Ich habe es bei unserem ersten Treffen erwähnt.“ – „Hat sie auch bereits mit Ihnen über das Treffen mit Burg gesprochen?“ Wieder nickt Pia und beobachtet, wie ein verwirrter Ausdruck in das blasse Gesicht tritt. Ihr kommt ein Gedanke. „Brigitte Dahlem hat Ihnen diese Informationen als Neuigkeiten für mich verkauft, stimmt´s?“ Alena wird sichtbar rot und Pia grinst. „Sorry, aber das sind alte Hüte. Was hatten Sie vor? Wollten Sie mir Informationen verkaufen und dafür wieder mitspielen? Und dabei die Hilfe von Brigitte Dahlem in Anspruch nehmen, der Sie wiederum die Informationen von mir angeboten haben?“ Pias Lächeln wird maliziös. „Tja, die Dahlem hat Sie reingelegt. Und jetzt überlegen Sie, warum sie das getan hat, nicht wahr?“ Sie braucht keine wörtliche Bejahung, um zu wissen, dass sie richtig liegt. „Ich vermute mal, sie hat Ihnen genauso wenig getraut, wie ich es tue. Brigitte Dahlem rechnet damit, dass Sie ihr nur die halbe Wahrheit sagen und die Bonbons für sich behalten, falls Sie mit mir wieder ins Geschäft kommen. Und darum hat sie dafür gesorgt, dass eine Kooperation gar nicht erst zustande kommt. Sie wollte uns beide gegeneinander ausspielen. Sie sollten in meinen Augen endgültig diskreditiert sein, wenn Sie mir mit völlig wertlosem Mist kommen.“ Pia lehnt sich zurück und schüttelt langsam den Kopf, nicht ohne weiterhin ein amüsiertes Grinsen zur Schau zu tragen. „Liebe Alena, eine Ex-RAF ist ein Kaliber zu groß für Sie. Dachten Sie ernsthaft, Sie kommen mit diesem Doppelspiel durch?“

Die Frage hängt im Raum. Dann seufzt Alena und beginnt unerwartet, ihren Salat zu essen. Pia sieht ihr zu, wie sie sorgfältig die Paprika auf die Gabel spießt, sie in die Vinaigrette taucht und dann zum Mund führt. Sie widmet sich ebenfalls dem letzten Stück Calzone. Auf einmal hat sie Mitleid mit Alena. „Was wollen Sie eigentlich? Warum hängen Sie sich da so rein? Warum bringen Sie sich in tausend Schwierigkeiten?“ Pia schneidet durch den luftigen Hefeteig. „Sie haben es geschafft in weniger als einer Woche drei Leute gegen sich aufzubringen.“ Alena isst konzentriert weiter. Die Frauengruppe schickt Wellen von lautem Gelächter durch den Raum und einer der Geschäftsleute sieht indigniert zu ihnen hinüber. Alena registriert augenscheinlich nichts davon, wie eine Autistin fokussiert sie das, was direkt vor ihr existiert. Als wenn sie alles andere ausgeschaltet hat, die Besucher des Restaurants, die Geräuschkulisse, die Essensgerüche, Pia. Sie selektiert ihre Wahrnehmung, denkt Pia. Sie sucht sich das aus, was ihr gefällt und ignoriert den Rest. Plötzlich hat sie das Gefühl, Alena ein wenig zu verstehen. Pia hört auf zu essen und legt die Gabel auf den Tisch. „So geht das nicht, Alena. Ihr Ansatz ist total falsch.“ Alena sieht überrascht auf und Pia spricht schnell weiter. „Sie gehen wie selbstverständlich davon aus, dass Sie Andere benutzen können, um an Ihre Lieblingsspielzeuge zu kommen. Denn etwas anderes ist das doch hier nicht, oder? Sie hängen an Ihren kleinen intellektuellen Spielereien, den raffinierten Problemchen, die Ihnen die leeren Nachmittage versüßen. Aber für Brigitte Dahlem und Kaspar Wagenbach geht es um etwas anderes: es geht um ihr Leben, um ihre Existenz.“ Der Blick, den Pia zugeworfen bekommt, beinhaltet deutlich, dass Alena einfach nicht glauben kann, was sie gerade aus Pias Mund hört. Sie lacht laut auf. „Was werfen Sie mir vor, dass ich Sie durchschaut habe, oder dass ich es bin, die Ihnen vorhält, dass Sie sich die Rosinen herauspicken?“ Pia legt ihren Kopf schief. „Für mich ist der Fall zumindest kein Selbstzweck. Ich will einen zweifachen Mörder finden, bevor er noch mehr Leute tötet. Oder ungestraft in der Versenkung verschwindet. Und ich mache das noch nicht einmal aus reinem Vergnügen. Es ist mein Beruf. Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt.“ Alenas Augen sind seltsam leer. Pias Stimme wird eindringlich. „Haben Sie schon einmal versucht, sich in andere hineinzuversetzen? In Kaspar Wagenbach zum Beispiel? Es geht nicht nur darum, ihn zu analysieren, seine Motive zu rationalisieren. Haben Sie schon einmal versucht nachzuempfinden, wie er sich fühlt?“

Wie auf Stichwort macht Alena eine wegwerfende Handbewegung. „Niemand kann wissen, wie sich ein anderer fühlt. Wir können nicht in die Haut der Anderen schlüpfen.“ Pia rückt nahe an den Tisch heran. „Aber wir können versuchen uns selbst in die Situation zu versetzen, in der jemand anders steckt. Ich zumindest kann das. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich mich fühlen würde, wenn meine Mutter eine tote Terroristin ist und ich mich mein ganzes Leben lang mit der Frage herumschlage, warum sie sich nie um mich gekümmert hat. Ich kann das vielleicht nicht in allen Einzelheiten nachempfinden, aber ich weiß zumindest, dass ich mich verdammt beschissen fühlen würde. Betrogen von ihr, was meine Vergangenheit angeht und auch meine Gegenwart. Ich würde sie hassen, weil sie mich nicht loslässt und ich würde mich hassen, weil ich nicht stark genug bin, um ein eigenes Leben zu leben. Und vielleicht würde es mich erleichtern, endlich alle Spuren zu tilgen, die mich noch an sie binden.“ Alena öffnet den Mund um etwas zu sagen aber Pia kommt ihr zuvor. „Sie schaffen das nicht, Alena. Sie beherrschen diese grundlegende soziale Fähigkeiten nicht. Sie können sich nicht in Andere oder in deren Leben hineinversetzen, weil Sie so total anders sind und völlig anders leben. Das hat die Folge, dass Andere für Sie nichts weiter sind als Gegenstände oder Sachverhalte, etwas, das man untersuchen kann, aber zu dem die Distanz unüberbrückbar ist.“ Pias beobachtet Alena genau, als sie weiter redet: „Brigitte Dahlem zum Beispiel war 22 Jahre im Gefängnis. Sie war 22 Jahre abgeschnitten vom öffentlichen Leben. Sie ist auf einer Stufe stehen geblieben, in der sie nur noch von Erinnerungen und Worten umgeben ist. Die Erinnerungen werden täglich blasser und die Worte verlieren immer mehr an Bedeutung. Sie weiß irgendwann nicht mehr, was sie getan hat, was sie will und wer sie ist. Sie muss sich neu erfinden, täglich, und das ist nicht einfach, weil niemand da ist, an dem sie ihre Erfindung ausprobieren kann.“ Pia wird leiser, weil sie weiß, dass sie Alenas Aufmerksamkeit hat. „Sie wird zu der leeren Hülle, die wir jetzt sehen. Sie ist wie ein Automat, der nur ein paar Funktionen hat: Misstrauen, einen Hang zur Manipulation, Kontrollzwang. Und diese Funktionen gründen in purer Angst. Vor den Menschen um sie herum, vor dem Leben ohne geregeltem Tagesablauf, ohne verschlossene Türen. Vor der eigenen Leere.“ - „22 Jahre sind eine lange Zeit,“ sagt Alena langsam. Pia nickt. „Eine verdammt lange Zeit. Die nicht spurlos ein einem vorüber geht. Brigitte Dahlem war ein anderer Mensch, als sie entlassen wurde, dessen bin ich sicher. Es ist nicht nur Zeit, die man im Gefängnis absitzt. Man verliert etwas unwiederbringlich. Bei so langen Haftstrafen zahlt man seine Schulden nicht mit Lebenszeit ab, man zahlt mit einem großen Stück vom Selbst.“ Ihr Blick wird streng. „Aber so ist das eben. Sie hat es verdient. Sie wollte über fremdes Leben bestimmen, hat getötet und weitere Tote in Kauf genommen.“ – „Ist Quid pro Quo Ihre Maxime,“ fragt Alena, ohne jeden Vorwurf in der Stimme. Pia schüttelt den Kopf. „Nein. Aber sie hat gegen das Gesetz verstoßen. Und wenn es keine Moral mehr gibt, in dem Sinne, dass das Leben Anderer respektiert wird, ist das Gesetz das einzige, was wir noch haben.“

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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