Kapitel Drei

Dienstag, 2. Januar 2007

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52: neue Wege

Pia ist erschöpft. Sie sitzt hinter dem Steuer ihres Wagens und starrt auf die Ampel, die bereits seit einigen Sekunden grün ist. Hinter ihr beginnt ein wütendes Hupkonzert, das ihr mit einem Schlag klar macht, dass sie jetzt nach hause fahren sollte. Nicht zurück ins Büro, nicht zurück zu den Akten, auf keinen Fall zurück zu Riesels neugierigen Fragen. Sie will einfach nur in ihre Wohnung und dort ihre Ruhe haben. Nicht nachdenken. Weder über den Fall noch über Alena. Christopher sieht sie überrascht an, als sie in der Diele steht. „Bist du krank,“ fragt er besorgt und Pia schüttelt stumm den Kopf. Sie geht an ihm vorbei ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Der Spiegel über dem weißen, eckigem Waschbecken wirft ihr müdes, abgekämpftes Spiegelbild zurück. „Ist der Fall gelöst?“ Christopher steht hinter ihr und hat ein Buch in der Hand, in dem er bis zu ihrem Eintreffen gelesen hatte. „Der Fall kotzt mich an,“ sagt Pia müde. „Ich habe keine Lust mehr. Soll sich doch jemand anders mit diesem Mist auseinandersetzen.“ Sie weiß, dass sie das nicht Ernst meint, nicht ernst meinen kann, aber in diesem Moment erscheint es eine sehr verlockende Aussicht einfach aufzugeben. Christopher schüttelt den Kopf und legt von hinten seine Arme um sie. Sie betrachten ihr gemeinsames Spiegelbild an, fast erstaunt über diese Konstellation. Pia lächelt Christopher im Spiegel zaghaft an. Ein ungewohntes Lächeln. Er küsst ihr Haar und streicht mit dem Zeigefinger leicht über ihre Wange. Dann lässt er sie los und geht aus dem Bad. „Ich mache dir einen Tee.“ Pia bleibt einen Moment stehen um die viel zu kurze Berührung noch etwas festzuhalten, dann dreht sie sich um und löscht das Licht.

Mitten in der Nacht wacht Alena auf. Sie hat von Kaspar geträumt, einen dunklen, verschwommenen Traum, hat seine angstgeweiteten Augen gesehen und sein Stimme wie aus weiter Ferne gehört. „Was willst du jetzt tun.“ Die Worte klingen in ihrem Kopf nach wie bei einem Echo. Sie richtet sich auf und zieht die Knie an ihren Oberkörper, umschlingt sie mit beiden Armen und legt ihre Stirn auf die Kniescheibe. Was sie im Traum gehört hatte, war keine Frage gewesen sondern eher eine Aufforderung und eigentlich war es Alenas eigene Frage, die in ihrem Traum herumgespukte. Was werde ich jetzt tun, wiederholt sie für sich. Auf welcher Seite stehe ich? Du stehst auf keiner Seite mehr, sagt die Stimme und dreht sich fröhlich um sich selbst. Alena bekommt eine Gänsehaut und trotzdem ist sie fasziniert von dieser tanzenden Stimme in ihrem Kopf. Dann brauche ich gar nichts mehr zu tun, antwortet sie und die Stimme schlägt einen übermütigen Salto, du willst doch die Wahrheit herausfinden, lacht sie. Für die Wahrheit musst du keine Seite vertreten, die Wahrheit ist eine Sache für sich, sie kümmert sich nicht um das was du oder Kaspar oder Pia Stein-Bachmüller möchte. Das Wort „Wahrheit“ echoet durch ihren Kopf, wie ein Flummi, der von den Seiten ihres Bewussteins abprallt und von einer in die andere Ecke springt. Dann steht die Stimme still und sagt sanft: du kannst Kaspar nicht helfen. Alena weiß, dass sie recht hat. Kaspar, der auf der Suche nach einer Toten ist, um sein eigenes Leben zu verstehen, das aber nur aus der Suche nach der Vergangenheit besteht, ein sinnloser Kreislauf, schlimmer noch, ein Strudel, der auch sie mit hinunterziehen würde. Sie erinnert sich an ihre Maxime, an den Schritt aus dem Strom des Lebens, an das stille Ufer, von dem aus sie beobachten kann, teilnahmslos und unbeeinflusst. Ruhig und rational. Die Stimme schweigt und betrachtet sie mit großen Augen, bevor sie sich in ihrem Bewusstsein auflöst. Gut, denkt Alena. Ich finde die Wahrheit heraus. Der Gedanke ist groß und hoch, er steht vor ihr wie ein undurchdringliche Mauer und macht ihr etwas Angst. Alena überlegt eingeschüchtert, wie sie vorgehen soll. Ihre beiden Kontaktpersonen stehen außer Reichweite, die eine hat sie selbst dorthin geschoben und die andere dreht ihr den Rücken zu. Es bleibt nur eine Person, mit der sie reden kann. Ein kleines Steinchen fällt aus der Mauer auf die andere Seite und ein winziger Lichtstrahl zwängt sich hindurch. Alena legt sich wieder hin und zieht die Bettdecke bis zum Kinn. Morgen wird sie Brigitte Dahlem besuchen.

Sonntag, 31. Dezember 2006

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51: Fronten

Alena beobachtet Kaspar bei Pias Aussage und bemerkt seine Beunruhigung. Ist ihm dieser Gedanke auch schon gekommen? Kennt er wohlmöglich den Grund, aus dem Brigitte Dahlem so abweisend ist, wenn die Sprache auf Marianne Wagenbach kommt? „Ich glaube, das ist nur Einbildung,“ sagt Kaspar jetzt und Pia betrachtet ihn nachdenklich. „Brigitte Dahlem kann vielleicht gar nicht verstehen, dass ich als Sohn Interesse in Marianne Wagenbach habe. Und noch weniger kann sie es befürworten. Dieses Mutter-Sohn-Verhältnis ist ihr suspekt. Marianne Wagenbach hat mich damals zurück gelassen, sie hat mich, ihren Sohn, zugunsten der Revolution, oder wie man das auch immer nennen möchte, aufgegeben. Und jetzt komme ich und versuche dieses Verhältnis im Nachhinein zu rekonstruieren. Ich vermute, dass passt ihr einfach nicht.“ Pia schlägt ihre langen Beine übereinander. „Interessant, wie gut Sie sich in diese RAF-Mentalität hineinversetzen können.“ Kaspar starrt sie einem Moment an und schüttelt dann langsam den Kopf. „Es hat keinen Sinn, mit Ihnen zu reden. Alles was ich sage, interpretieren Sie so, wie es Ihnen in den Kram passt. Sie verdächtigen mich, und jede meiner Äußerungen wird so zurecht gebogen, dass sie Ihren Verdacht unterfüttert.“ Er klingt erschöpft. „Ich weiß auch gar nicht, warum ich hier mit Ihnen spreche, in diesem fast privaten Rahmen, außerhalb des Präsidiums. Sie können mich nicht einfach so verhören, Sie müssen bestimmte Formalien beachten.“ Pia lächelt amüsiert. „Ich verhöre Sie doch gar nicht. Ich habe eine alte Bekannte besucht und auf einmal tauchen Sie hier auf. Und wenn hier die Sprache auf den Fall kommt, dann doch nur, weil wir alle darin verwickelt sind. Mehr oder weniger.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Außerdem kann ich alles, was Sie mir hier sagen, nicht gegen Sie verwenden. Im Raum befindet sich kein objektiver Zeuge, auf dessen Aussage ich mich verlassen könnte.“ Pia sieht nicht in ihre Richtung, aber die Bemerkung trifft Alena direkt ins Herz. Die Fronten sind klar. Pia und sie sind Gegner in diesem Fall. Aber noch etwas verstört sie. Ihr wird immer deutlicher, dass sie auch nicht auf Kaspars Seite stehen kann. Plötzlich kommt sie sich vollkommen verlassen vor.

Als Pia sich mit dem Versprechen eines baldigen Wiedersehens, das allein an Kaspar gerichtet ist, verabschiedet hat, bleiben Alena und Kaspar einen Moment lang still im Wohnzimmer sitzen. Ein leichter Schwindel setzt in Alenas Kopf ein und sie muss die Augen schließen. Das war zu viel. „Sie hat mich angeschrieen,“ murmelt sie, völlig fertig. „Sie stand vor mir und hätte mich am liebsten mit ihren Händen erwürgt. Sie hasst mich. Sie verachtet mich.“ Sie hört, wie Kaspar sich vom Schreibtischstuhl erhebt und spürt, wie er sich neben ihren Sessel kniet. Seine Hand auf ihrem Arm. Es ist weniger als eine Berührung für Alena, nur ein leichter Druck, der durch die Mechanik der Muskeln und die Schwere von Fleisch und Knochen hervorgerufen wird. „Alena, bitte,“ sagt Kaspar sanft. „Sie ist ein Bulle. Ein Bulle von der schlimmsten Sorte. Sie manipuliert dich und mich, um ihren Fall zu lösen. Sie ist nichts als ein gut funktionierendes Rädchen in dieser Maschine Polizeistaat. Ihr kann es immer nur um ihre klar definierte Aufgabe gehen, unabhängig davon kennt sie keine Solidarität und erst recht keine Freundschaft. Sie kennt nur Verbündete, die ihr weiterhelfen können. Du hast das doch erkannt, oder?“ Alena nickt müde, ohne die Augen zu öffnen. Der Druck auf ihrem Arm verstärkt sich. „Und trotzdem liegt dir etwas daran, was sie von dir denkt? Was ist los, Alena? Du bist doch sonst so unabhängig von der Meinung anderer. Du brauchst niemanden. Du lässt niemanden an dich heran. Du willst keine Freunde.“ Der bittere Ton hat sich erneut in Kaspars Stimme geschlichen. „Warum also gerade sie?“ Alena verbirgt ihr Gesicht hinter ihren Händen, wo es schön dunkel und ruhig ist. Wo sie beinahe schon allein ist. Dort denkt sie einen Moment über Kaspars Frage nach, die eine berechtigte Frage ist. Und eine Frage, die sie nicht beantworten kann. Kaspar steht auf. „Ich gehe jetzt, in Ordnung?“ Er kennt diesen Zustand und weiß, dass Alena jetzt nicht mehr ansprechbar ist. Sie belohnt ihn mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken und spürt, wie er mit seiner Hand über ihre Haare streicht. „Ich rufe Dich an,“ sagt er. Dann hört sie die Tür hinter ihm zufallen.

Samstag, 30. Dezember 2006

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50: Blutsbande?

Alena starrt Kaspar an, der langsam auf ihren Schreibtisch zugeht und sich dann in den Drehstuhl fallen lässt. Er streckt seine Beine lang aus, als er erklärt: „Nein. In meiner Geburtsanzeige findet sich nur ein kleiner Strich an der Stelle, wo der Name des Vaters stehen sollte. Vermutlich ist das keine Seltenheit gewesen, zur damaligen Zeit.“ Als Alena ihn damals gefragt hatte, bekam sie eine ähnliche Antwort, mit der gleichen Mischung aus gespielter Langeweile und vorgetäuschter Abgeklärtheit. Sie beobachtet wie Pia die Antwort aufnimmt, die sie wahrscheinlich sowieso bereits kannte. Pia bleibt unbeeindruckt. „“Haben Sie nie versucht, den Namen heraus zu bekommen?“ Kaspar verzieht sein Gesicht zu einem spöttischen Grinsen und langsam bekommt Alena den Eindruck, als wenn ihm die Situation Spaß macht. „Es könnte so ziemlich jeder sein, der damals in diese WG ein- und ausgegangen ist.“ Pia hebt ihre Augenbrauen. „Sie haben keine gute Meinung von Ihrer Mutter, nicht wahr?“ Kurzfristig färbt sich Kaspars Gesicht sehr rot. „So war das eben in den 70ern. Kommunen. Sie wissen schon, wer zweimal mit der gleichen pennt… .“ Er fährt sich nervös durch seine Haare. „Ich halte meine Mutter nicht für ein Flittchen, wenn Sie das meinen. Viele Sexualkontakte gehörten damals wahrscheinlich zu den Mitteln, mit denen man sich von der bürgerlichen Gesellschaft abgrenzen wollte.“ Wohl aufgrund der offensichtlichen Klischeelastigkeit dieser Ansichten wird Kaspar noch ein bisschen roter. Pia lächelt, aber es steckt wenig Humor darin. „Haben Sie Brigitte Dahlem nach Ihrem Vater gefragt? Oder haben Sie das noch vor? Vielleicht weiß sie etwas. Haben Sie jemals daran gedacht, dass es Hoffmann sein könnte? Sie hat mit ihm in Berlin zusammengelebt und ist mit ihm nach Frankfurt gegangen.“ Kaspar zuckt mit den Schultern. „Klar habe ich das in Erwägung gezogen. Aber ich habe keine Ahnung, ob sie 1970 schon zusammen waren.“ Er sieht Pia nachdenklich an, als er fortfährt: „Ich konnte bisher niemanden fragen, weil ich keinen ihrer alten Freunde kannte. Vielleicht versuche ich es bei Frau Dahlem. Allerdings vermute ich, dass sie nicht besonders scharf darauf ist, von mir nach meiner Mutter ausgefragt zu werden.“ Alena spürt seinen Blick auf sich und dreht sich zu ihm. Sie nickt. „Den Eindruck habe ich auch. Schon damals hatte sie dich abgewiesen, als du sie im Gefängnis angeschrieben hast. Ich frage mich, warum jemand so etwas tut. Es hätte sie doch nichts gekostet, Dir etwas über deine Mutter zu erzählen. Es hätte ihr ja auch daran gelegen sein können, das Bild von deiner Mutter zurecht zu rücken. Sie für dich in einem positiven Licht erscheinen zu lassen.“ Sie bemerkt Kaspars Anspannung, aber redet weiter. „Und als du sie jetzt vor kurzem angerufen hast, ging es ihr wohl vor allem um das Buch. Sie hat meiner Meinung nach schon damit gerechnet, dass du sie zwischendurch mal nach Marianne Wagenbach fragen würdest, aber ich glaube, sie hätte abgeblockt, wenn sich herausgestellt hätte, dass das Buch nur ein Vorwand ist, um sie auszuquetschen.“ Kaspar nickt vorsichtig. „Sie war ziemlich ausweichend, als du sie nach Hoffmann und meiner Mutter gefragt hast.“ Alena starrt ihn an. Sie erinnert sich daran, dass Brigitte Dahlem erzählt hat, dass Wagenbach und Hoffman ein Paar waren. Kaspar kannte dieses Detail bereits, er hatte es Alena vor ein paar Jahren erzählt, zu der Zeit, als sie sich noch öfter sahen. Brigitte Dahlem gegenüber brachte er statt dessen zum Ausdruck, dass er überhaupt nichts vom Leben seiner Mutter wusste. Ein Trick, um mehr aus ihr herauszuholen? Wieder kommt ihr Kaspar so fremd vor, so undurchschaubar. Pia konzentriert die Konversation auf den Punkt, der sie interessiert. „Also gibt es einen Grund, aus dem die Dahlem nicht über Marianne Wagenbach reden will.“ Fast gleichzeitig wenden Kaspar und Alena ihr den Kopf zu. „Das habe ich nicht gesagt,“ behauptet Kaspar schnell. „Sie ziehen Ihre Schlüsse aus den subjektiven Eindrücken, die wir gewonnen haben. Das ist schlimmer als Spekulation.“ Pia grinst. „Manchmal erkennt der unbeteiligte Beobachter schneller die Tatsachen hinter dem ganzen Gerede. Und ich glaube, auch Sie selbst können nicht leugnen, dass diese Annahme nicht vollkommen abwegig ist.“

Dienstag, 26. Dezember 2006

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49: Kaspars Geschichte

Kaspar bleibt stehen und dreht sich zu Pia um. Er steht nun mit dem Rücken zum Fenster und sein Gesicht liegt im Schatten als er antwortet: „Ich bin in einem Kinderladen aufgewachsen. Ich bin in Berlin geboren und meine Mutter hat während der Schwangerschaft in einer Kommune gelebt.“ Kaspar leiert die Fakten herunter, als wenn er sie schon oft genug erzählt hätte. „Nachdem ich geboren bin, blieb sie noch eine Zeitlang in der Kommune, bis sie dann mit Hoffmann nach Frankfurt gegangen ist. Das muss Anfang 75 gewesen sein. Hoffmann hatte ebenfalls in der Kommune gelebt, ich weiß allerdings nicht, ob sie sich dort kennen gelernt haben, oder ob sie gemeinsam zur Wohngemeinschaft gestoßen sind. Ich weiß auch nicht, mit wem sie damals noch zusammen gewohnt haben.“ Sein Kopf ist in Richtung Pia gedreht, aber sein Blick geht über sie hinaus, durch die Wohnzimmerwand hindurch ins Unendliche. „Ich bin 1970 geboren, da war meine Mutter 18 Jahre alt. Als sie nach Frankfurt ging, war ich fast fünf, aber ich kann mich trotzdem nicht an sie erinnern. Ich muss ständig in diesem Kinderladen gewesen sein.“ Ein bitterer Unterton wird unüberhörbar. „In den frühen Jahren nach 68 war ein Ziel der Kinderläden die sogenannte Fixierung der Kleinkinder an die Eltern abzubauen. Kinder sollten in einer Art Kinderkollektiv aufwachsen und sich allein auf dieses Kollektiv orientieren, ohne jede Bindung an die Eltern. Die Kommunarden verstanden den Kinderladen als Gegenentwurf zur bürgerlichen, faschistischen Kleinfamilie.“ Ein zynisches Grinsen wird auf seinem Gesicht sichtbar, das sofort wieder verschwindet. Pia und Alena hören fasziniert zu, als Kaspar nüchtern weiter berichtet: „Während der ganzen Zeit, in der meine Mutter in Frankfurt Terroristin gespielt hat, war ich in diesem Kinderladen und in der Kommune, aus der ständig Leute ein- und auszogen. Als Marianne 1978 verschwunden ist, hat sich wohl irgendwer aus der Kommune beim Jugendamt gemeldet und daraufhin hat man mich in ein städtisches Heim in Berlin gebracht.“ Er zuckt mit den Schultern. „Das wars. Ich hatte keine Ahnung, was mit meiner Mutter war. Keine Ahnung, dass sie aufgrund terroristischer Aktivitäten gesucht wurde, keine Ahnung, wohin sie verschwunden war, ob sie noch lebte. Die Erzieher im Heim klärten mich nicht auf, obwohl sie sehr gut wussten, wer meine Mutter war. Aber ich hatte schon das Gefühl, dass sie mich manchmal misstrauisch beobachteten.“ Wieder das zynische Grinsen. „Einer der Erzieher hatte offensichtlich Erbarmen mit mir und als ich 15 war, hat er mir die ganze Geschichte erzählt. Die RAF, der versuchte Anschlag, die Flucht in die DDR.“ Kaspars Bericht bricht kurzzeitig ab und Alena weiß, dass er diesen Moment gerade erneut durchlebt. Sie fragt sich, was für Gefühle damals in ihm getobt haben und stößt sofort an ihre emotionalen Grenzen. Was denkt man, wenn man erfährt dass seine Mutter eine gesuchte Terroristin ist? Was empfindet man bei dem Gedanken, dass sie den Tod von Menschen in Kauf genommen hat? Dass sie Ziele verfolgte, die damals an Extremität kaum zu überbieten waren? Hilflos zuckt sie innerlich mit den Schultern. Sie kann es sich nicht vorstellen. Unmöglich. Stockend nimmt Kaspar den Faden wieder auf. „1991 hat jemand vom Verfassungsschutz Kontakt mit mir aufgenommen und mir erzählt, dass Marianne Wagenbach Anfang 1990 in der DDR, in der Nähe von Dresden, Selbstmord mit Schlaftabletten verübt hat. Sie hatte zwar keinen Abschiedbrief hinterlassen, aber der hinzugezogene Arzt hatte Suizid fraglos als Todesursache festgestellt. Der Verfassungsschutz versuchte nach dem Fall der Mauer, die ganzen Terroristen ausfindig zu machen, von denen man vermutete oder wusste, dass sie im Osten Zuflucht gefunden hatten. Die Ermittlungen des Verfassungsschutzes bestätigten die Diagnose des Arztes und es gab wohl auch keinen Anlass, etwas anderes als Selbstmord anzunehmen. Sie hatte schlicht Angst, in den Knast zu kommen.“ Überrascht hört Alena so etwas wie Verachtung aus seiner Stimme heraus. Oder bildet sie sich das ein?“ Sie schaut zu Pia hinüber, aber mittlerweile ist es im Raum so dämmrig geworden, dass sie deren Gesichtszüge ebenfalls nicht mehr erkennen kann. Plötzlich hat Alena den Eindruck von drei Verlorenen, die in einem dunklen Wald versuchen, sich allein über die Stimme zu finden. Sie schüttelt sich unwillkürlich, dieses Schaudern, das einen manchmal überfällt, und steht auf, um den Lichtschalter zu betätigen. Sofort verdrängt das warmes Licht der Deckenleuchte die Dämmerung an den Rand des Raums. Pia blinzelt kurz, dann fragt sie Kaspar: „Wissen Sie, wer Ihr Vater ist?“

Sonntag, 24. Dezember 2006

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48: Relationen

Aber sie spürt auch, wie zuwider ihr dieses Spiel ist, und dass sie eigentlich keinen Krieg gegen Pia führen möchte. Für eine Sekunde grübelt sie über diese Erkenntnis, dann reißt Pia sie aus ihren Gedanken. „Wissen Sie, wo Robert Koch sich aufhält?“ Die Frage ist an Kaspar gerichtet. Alena dreht ihren Kopf in seine Richtung, sein Gesicht ist nah, ein Stück über ihr. Sie kann seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, als er antwortet: „Ich habe keine Ahnung. Woher sollte ich? Dass er mit Marianne Wagenbach in die DDR geflohen ist, ist ja wohl mittlerweile allgemein bekannt. Dass er dort verschwunden ist, wissen Sie auch. Wie und wohin er geflohen ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Und ob er noch lebt, ist eine ganz andere Frage.“ Kaspars Stimme ist fest und selbstsicher. Er ist nun auf bekanntem Terrain, ähnlich einem Spezialisten, der ein Fachgespräch führt. Er beugt sich ein wenig nach vorn, als er Pia seinerseits fragt: „Wissen Sie, wo Koch sich aufhält?“ Alena hört die Frage und ist plötzlich irritiert. Der Ton, der in der Äußerung mitschwingt, ist weniger Neugierde, wie sie vielleicht erwartet hätte. Stattdessen findet sie Anspannung und unwillkürlich fragt sie sich, aus welchem Grund Kaspar die Frage tatsächlich gestellt hat. Will er wissen, was aus Koch geworden ist, oder möchte er erfahren, wie viel Pia mittlerweile weiß? Könnte Kaspar Informationen über Koch haben, die er bisher für sich behalten hat? Sie schaut zu Pia hinüber, die Kaspar nachdenklich ansieht. Hat sie einen ähnlichen Eindruck? Pias Antwort ist ironisch und ausweichend: „Ich kann Sie leider nicht in den aktuellen Stand der Ermittlungen einweihen. Aber mich wundert, dass Sie Koch so aus den Augen verloren haben. Schließlich ist er mit Ihrer Mutter verschwunden. Er war am längsten mit ihr zusammen und könnte Ihnen mehr über sie erzählen als die anderen.“ Kaspar lacht trocken. „Klar war ich daran interessiert mit ihm zu reden. Aber wenn noch nicht mal die Stasi und der Verfassungsschutz wissen, wo er ist, wie soll ich dann zu dieser zweifelhaften Ehre kommen? Koch hat sich zumindest nicht bei mir gemeldet, um mir schöne Grüße von meiner Mutter zu bestellen.“ Er nimmt den Arm von Alenas Schulter und steht auf, um im Raum umherzulaufen und Alena stellt fest, dass sie erleichtert ist, weil er sich wieder von ihr entfernt hat. Werde ich ihm jemals voll vertrauen, fährt es ihr durch den Kopf. Seitdem sie Kaspar kennt, umgibt ihn etwas, das sie schwer definieren kann, aber das sie definitiv anzieht. Dunkle Stellen, tote Winkel, seine Persönlichkeit ist wie ein Schrank, der verschlossene Schubladen enthält, zu denen er allein den Schlüssel hat. Dazu die zeitweise Depression und die immer wieder aufflackernde Widersprüchlichkeit in seinem Verhalten. Der Versuch, sich von der Vergangenheit seiner Mutter freizumachen und der Zwang, sich mit der RAF zu beschäftigen. Obwohl er immer wieder betont hat, dass er die Ideologie der RAF weder nachvollziehen kann noch teilt, war sich Alena dessen nie vollkommen sicher, auch wenn sie diese Unsicherheit niemals an konkreten Äußerungen oder Handlungen festmachen konnte. Ist Anarchie erblich? Sie schüttelt unwillkürlich den Kopf und merkt dann, dass Pia sie interessiert beobachtet. Alena kaschiert ihre eigene Verärgerung darüber, dass sie sich niemals lange auf eine Situation konzentrieren kann und regelmäßig viel zu schnell in ihre eigene Gedankenwelt abdriftet, indem sie ihre Haare nach hinten streicht und mit den Händen zu einem Zopf zusammenfasst. Als ob diese Geste ihren Kopf frei machen könnte. Amüsiert wendet sich Pia wieder Kaspar zu. „Von wem sind Sie aufgezogen worden? Wie ich verstanden habe, haben Sie Ihre Mutter niemals kennen gelernt.“ Alena erkennt sofort, was nun ansteht: Kaspars Vergangenheit wird akribisch auseinandergenommen.

Samstag, 23. Dezember 2006

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47: Krieg

Alena bleibt erstarrt im Sessel sitzen, ihre Glieder sind wie eingefroren. Sie beobachtet, wie Pia die Wohnungstür öffnet und wartet. Ihr Rücken ist sehr gerade, sie steht bewegungslos wie eine Statue. Dann beugt sie in der gewohnten zynischen Art ihren Kopf und sagt zu einem unsichtbaren Kaspar: „Herzlichen Willkommen. Wir trinken gerade gemütlich eine Tasse Tee.“ Sekunden später steht Kaspar im Wohnzimmer, unnatürlich gefasst. Alena starrt ihn an und hat das Gefühl, dass er sein gesamtes Arsenal an Angst und Unruhe bereits verbraucht hat. Zurück geblieben ist Gefühllosigkeit und Apathie. Hilflos zuckt er mit den Schultern und versucht ein Grinsen. „Aufgeflogen, was?“ Er setzt sich auf die gepolsterte Lehne des Sessels und legt den Arm um Alena, die sich unerwartet wohl dabei fühlt. Sie versucht sich zu erinnern, ob Kaspar sie jemals umarmt hat, aber ihr Kopf ist leer. Unwillkürlich rückt sie näher an ihn heran und er verstärkt den Druck seines Arms. Pia betrachtet die beiden wortlos und setzt sich dann wieder auf das Sofa. Sie fixiert Kaspar, der trotzig zurück starrt. „Seit wann kennen Sie sich,“ beginnt Pia die Befragung. Für einen Moment herrscht Stille, dann erklärt Kaspar fest: „Das geht Sie nichts an. Unsere Bekanntschaft geht Sie nichts an.“ Pia lacht höhnisch. „Klar geht es mich etwas an, wenn sich herausstellt, dass Sie Otto Schwarz und Hans Joachim Burg erschossen haben.“ Sie runzelt die Stirn, aber Kaspar scheint unbeeindruckt. Alena hofft unwillkürlich, dass sich das langsam manifestierende Scheiß-Egal-Gefühl in Kaspar positiv auswirken könnte. Tatsächlich bietet er kontra. Ohne auf die Anschuldigungen einzugehen, erklärt er: „Sie haben Alena um Hilfe gebeten und sie hat Ihnen geholfen. Glauben Sie mir, ich war nicht gerade begeistert von der Idee, aber Sie hatten anscheinend keine Skrupel, zwei Unbeteiligte in die Ermittlungen hineinzuziehen.“ Alena wartet besorgt auf die Formulierung der darin enthaltenen Drohung, aber Kaspar hält sich zurück und sie ist froh darüber. Pia verträgt es sicher nicht, wenn man andeutet, ihren Chef über die ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden zu informieren. Stattdessen grinst Pia Kaspar ins Gesicht. „Nein, habe ich nicht. Und ich bin weit davon entfernt, Sie als unbeteiligt zu bezeichnen.“ Pia redet nun ausschließlich mit Kaspar und Alena versteht, dass sie ignoriert wird. „Ich habe Ihnen schon während des Verhörs klar gemacht, dass Ihnen ein wesentliches Interesse am Tod von Schwarz und Burg zugeschrieben werden kann. Und die Tatsache, dass Sie Frau Brandenburg dazu benutzen mit Brigitte Dahlem in Kontakt zu kommen, macht Sie nicht gerade vertrauenswürdiger.“ Kaspar öffnet den Mund um etwas zu sagen und Alena murmelt: „Sie will dich nur verunsichern. Sie weiß genau, dass du mich nicht dazu benutzt hast, sondern dass ich dich angesprochen habe. Auf ihren Wunsch hin.“ Mit diesen Worten beginnt sie den offenen Krieg mit Pia, das weiß Alena. Aber sie hat Pias Methoden noch nie gemocht und gegen Kaspar kann sie ihren Einsatz nicht tolerieren. Sie kennt Kaspar länger als Pia. Sie spürt Pias Blick auf sich und wagt es, sie anzusehen. Pias Augen sind kalt, aber Alena liest auch eine Art Erstaunen darin. Als wenn sie Alena nicht zugetraut hätte, gegen sie zu arbeiten. Alena hält dem Blick stand und die Botschaft in ihren Augen ist unmissverständlich: sie ist auf Kaspars Seite. Das kaum merkliche ironische Lächeln auf Pias Gesicht zeigt Alena, dass Pia die Herausforderung angenommen hat. Aber wohlmöglich nicht besonders ernst nimmt. „Gut,“ sagt sie, lehnt sich lässig im Sofa zurück und schlägt die Beine übereinander. „Was haben Sie nun vor, Herr Wagenbach. Wollen Sie den Rest der Truppe auch noch erledigen?“ Kaspar presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf. „Sie haben nichts und schießen jetzt mit Pfeilen ins Dunkle, in der Hoffnung irgendwas zu treffen.“ Er hat Alenas Hinweis verstanden und ist ruhiger geworden. Pia senkt die Augenlider. „Sie wissen, wo Brigitte Dahlem wohnt, was nicht weiter schwierig war, herauszufinden. Sie wussten auch, wo Burg sich aufgehalten hat, zumindest, als er noch in Hamburg wohnte. Und seinen nächsten Aufenthaltsort kannten Sie vermutlich auch, Ihren akribischen Ermittlungen nach zu urteilen.“ Sie macht eine Pause um Kaspar die Möglichkeit zur Intervention zu geben. Alles was er sagt ist: „Ich wusste nicht, in welche Stadt Burg von Hamburg aus gezogen ist. Nach Hamburg war er für mich wie vom Erdboden verschluckt. Und meine Ermittlungen, wie Sie es nennen, beschränken sich darauf, im Internet nach seinem Namen zu googeln und eventuell mal ein Meldeamt anzurufen.“ Er verzieht seinen Mund zu einem müden Lächeln. „Wenn Sie mich dafür drankriegen wollen, bitte schön. Aber das ist ein ziemlich armseliges Ergebnis, wenn man eigentlich den Mörder eines Ex-Bullen finden möchte und alle Kollegen nur darauf warten, dass Sie ihn endlich präsentieren.“ Erstaunt registriert Alena, wie schnell Kaspar sich auf die psychologischen Spielchen mit Pia eingelassen hat. Er hat natürlich recht, denkt sie. Pia steht unter Druck, aber wie sie aufgrund Pias schwieriger Persönlichkeit vermutet, geht es nicht nur darum, dass sie dazu gedrängt wird, schnellstens den Mörder eines pensionierten Kollegen zu finden. Darüber hinaus darf sie auch keinen Fehler machen, der ihr von den mit Argusaugen beobachtenden Kollegen in den nächsten 100 Jahren hämisch aufs Butterbrot geschmiert werden würde. Sie erkennt, dass das Pias Schwachstelle ist.

Dienstag, 19. Dezember 2006

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46: Wut

In der Küche klackt der Wasserkocher als er fertig ist und Alena gießt das kochende Wasser vorsichtig über die Teeblätter. Sie sieht eine Weile zu, wie die Blätter in der Glaskanne durch das Wasser wirbeln und sich dann am Boden absetzen. Sie ist froh, dass sie Kaspar angerufen hat. Und neugierig auf den Bericht vom zweiten Mord. Auch wenn Kaspar nichts Genaues weiß. Aber sie könnte Pia ausquetschen. Als sie überlegt, wann und unter welchem Vorwand sie Pia anrufen könnte, klingelt es an der Tür. Kaspar ist schnell hier, denkt sie. Vermutlich war er ganz in der Nähe. Sie öffnet die Tür, und als sie die Lauftritte auf der Treppe hört ruft sie: „Du hast dich ja echt beeilt.“ Das letzte Wort bleibt ihr im Hals stecken, als sie Pia um die Ecke biegen sieht. Ihre Verwunderung schlägt in nackte Panik um, als sie Pias Gesicht sieht. Die blauen Augen sprühen vor Wut und der Mund ist zu einem fadendünnen Strich zusammengepresst. Instinktiv weicht Alena einen Schritt zurück und widersteht nur mühsam der Versuchung, die Tür vor Pia zuzuschlagen. Aber schon steht Pia vor ihr und drängelt sich ohne ein Wort vorbei in die Wohnung. Alena schließt die Wohnungstür, dreht sich um und bleibt vor der Tür stehen. Als wenn sie die Chance hätte, jetzt noch zu fliehen. Pia hat die Hände in die Hüften gestemmt und sieht sie mit einem undefinierbaren Blick an. Alena starrt zurück, ihr Kopf ist leer. Jetzt spricht Pia. „Sie haben nicht mich erwartet.“ Das ist keine Frage und Alena rührt sich nicht. „Wen dann? Ihren Freund Kaspar Wagenbach, den Historiker?“ Pias Lippen sind fast weiß, als sie sie in ein verzerrtes Grinsen zwingt. „Wann haben Sie geplant, mir von dieser ungewöhnlichen Bekanntschaft zu erzählen?“ Alena versucht zu schlucken, aber ihr Mund ist zu trocken. Sie bringt kein Wort heraus. Sie wünscht sich nichts anderes, als wieder allein zu sein, Pia nie wieder zu sehen. Ihr nie begegnet zu sein. Stattdessen kommt Pia einen Schritt näher und stellt sich direkt vor Alena, die die Tür in ihrem Rücken fühlt. „Wann, verdammt noch mal.“ Pias Stimme ist leise und drohend und Alena drückt sich stärker gegen die Tür. „Wann!“ Jetzt schreit Pia wutentbrannt und Alenas Sicherungen brennen durch, sie stößt die große Frau vor ihr wild zur Seite, duckt sich an ihr vorbei und weicht in den Flur zurück, rückwärts, immer die Augen auf Pia gerichtet. Alenas deutlich sichtbare Angst bringt Pia zur Besinnung und sie versucht sich zu beruhigen. Mit beiden Händen fährt sie durch ihr Gesicht, schweratmend. „Kann ich einen Schluck Wasser haben,“ murmelt sie. Alena findet ihre Stimme wieder. „Tee,“ fragt sie schüchtern. Auf ein wortloses Nicken von Pia hin geht sie schnell in die Küche und schüttet den Tee durch ein Sieb in die Porzellankanne. Als sie zwei Tassen aus dem Schrank holt, merkt sie, dass ihre Hände zittern. Langsam gießt sie den Tee in die Tassen und stellt sie mit der Zuckerdose und einem Milchkännchen auf ein Tablett. Pia ist ins Wohnzimmer gegangen und hat sich auf das Sofa gesetzt. Mit versteinertem Gesicht nimmt sie die Tasse entgegen und füllt Zucker hinein. Bevor sie trinkt, fixiert sie Alena. „Was haben Sie sich dabei gedacht,“ sagt sie ernst. Alena starrt sie an. Dann setzt sie sich auf die vorderste Kante des Sessels und angelt nach der Milch. Ohne die Augen von Pia zu nehmen, gießt sie Milch in ihren Tee. Langsam sagt sie: „Ich war in einer Zwickmühle. Zwischen Ihnen und Kaspar. Sie wollten, dass ich Kaspar zu Brigitte Dahlem schicke und Kaspar wollte ebenfalls mit Brigitte Dahlem reden. So weit so gut.“ Sie trinkt vorsichtig einen Schluck. Der Tee ist bitter geworden, aber sie hat das seltsame Gefühl, als ob sie das verdient hätte. Sie nimmt einen weiteren Schluck. „Aber gleichzeitig wollte ich Kaspar schützen. Wenn ich Ihnen erzählt hätte, dass er Marianne Wagenbachs Sohn ist, was hätten Sie dann gedacht?“ Sie lässt die Frage im Raum stehen. Pia runzelt die Stirn und stellt die Tasse ab. „Es kann Ihnen verdammt noch mal egal sein, was ich denke. Sie hätten es mir sagen müssen.“ Die Partie um ihren Mund ist hart und angespannt. „Wenn dieser Wagenbach unschuldig ist, brauchen Sie ihn nicht zu schützen.“ Ihre Stimme ist schneidend und Alena spürt einen Klos im Hals. „Aber durch dieses blödsinnige Spiel, das Sie mit mir gespielt haben, haben Sie nicht nur sich selbst in Schwierigkeiten gebracht – sondern auch Kaspar Wagenbach.“ Alenas Hand beginnt wieder zu zittern und sie sucht einen Platz für die Tasse auf dem mit Zeitschriften bedeckten Tisch. „Hören Sie, ich wollte Sie nicht reinlegen. Ich wollte nur Kaspar helfen.“ Verzweifelt versucht sie zu verdeutlichen, dass ihr Schweigen nicht gegen Pia gerichtet war, als ob ihre größte Angst wäre, dass Pia es persönlich nehmen könnte. Für einen Moment verwundert sie dass, dann klingelt es an der Tür. Der Ton hängt in der Luft wie eine Drohung. Alena rührt sich nicht. Pia betrachtet sie mit zugekniffenen Augen. Es klingelt erneut und Alena zuckt unwillkürlich zusammen. „Wollen Sie nicht aufmachen,“ fragt Pia kühl. Als Alena nicht antwortet, steht sie auf. „Dann öffne ich eben die Tür.“

Sonntag, 17. Dezember 2006

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45: unangenehme Neuigkeiten

Alenas Stimme klingt seltsam am Telefon. „Warst du schon bei ihr?“ Um wen macht sie sich Sorgen, denkt Kaspar. Um ihn oder um sich selbst? „Ich habe ihr nicht gesagt, dass wir uns kennen,“ sagt er. Vor seinem geistigen Auge sieht er, wie sie müde ihre Locken schüttelt. „Deswegen rufe ich nicht an. War es schlimm?“ Sie kennt Pia und wusste, was ihn dort erwartete. Er schließt seine Augen und murmelt: „Sie ist hinter mir her. Ich weiß es. Sie glaubt, dass ich es war. Beide Male.“ Verwirrtes Schweigen am anderen Ende. „Beide Male? Was soll das heißen?“ Kaspar erinnert sich, dass Alena von Burgs Tod noch nichts wissen kann und erzählt es ihr. Er hört sie durch den Hörer atmen. Dann wiederholt sie langsam: „Burg ist tot? Hat sie dir nähere Informationen gegeben?“ Kaspar lässt das Verhör im Geist Revue passieren und fühlt dabei erneut den Druck in seiner Magengegend. Fast verwundert antwortet er dann: „Nein. Er scheint Dienstag Abend oder Nacht getötet worden zu sein. Vielleicht in Hamburg, aber wenn ich länger darüber nachdenke, hat sie nie gesagt, dass der Mord tatsächlich in Hamburg stattgefunden hat.“ Sie hat ihn hingehalten und gequält, aber ihm nicht den kleinsten Bissen hingeworfen. „Scheiße,“ murmelt Kaspar. „Verdammte Scheiße.“ – „Kannst Du mir erzählen, wie das Gespräch abgelaufen ist?“ Alenas Stimme klingt nun definitiv beunruhigt. Kaspar starrt auf die Passanten, die an seinem Tisch vorbeilaufen. „Kann ich bei dir vorbei kommen? Ich sitze gerade in einem Kaffee und jeder kann zuhören.“ Mit Erleichterung bemerkt er, dass Alena nicht zögert, als sie sagt: „Klar. Ich bin zu hause.“ Mit neuer Energie gibt Kaspar der Bedienung ein Zeichen, dass er zahlen möchte.

Für einen Moment denkt Pia, dass sie vielleicht nicht richtig gehört hat. Hat Brigitte Dahlem die Namen Wagenbach und Brandenburg genannt? In einem Atemzug? Fast hilfesuchend sieht sie zu Riesel, der sie unsicher anstarrt. „Kaspar Wagenbach war als Historiker bei Brigitte Dahlem um ein Buch über die RAF zu schreiben,“ fragt er nun, sehr vorsichtig. Pia springt von ihrem Stuhl auf, läuft zur Tür und reißt sie auf. Im Flur ist niemand mehr zu sehen. Sie sprintet am Aufzug vorbei zu den Treppen und schafft die drei Etagen in Rekordzeit. In der Halle keine Spur von der Dahlem und sie ignoriert die fragenden Blicke des diensthabenden Polizisten am Empfang, als sie auf die Straße läuft und eine schmale dunkle Figur mit weiten Schritten in Richtung Bushaltestelle gehen sieht. Brigitte Dahlem dreht sich ruckartig um, als sie die schnellen Tritte hinter sich hört und weicht automatisch zurück, als Pia kurz vor ihr anhält. „Was soll das heißen, dass Kaspar Wagenbach mit Ihnen gesprochen hat,“ keucht Pia und stricht sich eine Strähne aus dem heißen Gesicht. Eine ältere Frau geht vorüber und sieht sie verwundert an; unwillkürlich macht sie einen Schlenker, als Pia ihr einen scharfen Blick zuwirft. Dahlem betrachtet sie amüsiert. „Das soll nichts anderes heißen, als das ein Historiker namens Kaspar Wagenbach ein Interview mit mir gemacht hat, wegen Hintergrundinformationen für eine wissenschaftliche Abhandlung.“ Pia beugt sich vor. „Sie wissen, wer Kaspar Wagenbach ist?“ Brigitte Dahlem zuckt lächelnd mit den Schultern. „Sicher weiß ich, dass er Mariannes Sohn ist. Er hat es mir gesagt, aber auch sonst hätte ich es mir denken können.“ – „Finden Sie es nicht merkwürdig, dass er, gerade er, sich mit diesem Anliegen an Sie gewandt hat?“ Pia versucht krampfhaft, ihre Haltung zurück zu erlangen, aber ihr Herz schlägt wie wild, und die Ursache dafür ist nicht der schnelle Lauf. Neugierde erscheint in den verblassten grünen Augen, die sie forschend ansehen. Pia verflucht sich, aber sie bekommt die Windrose nicht in den Griff, die die Gedanken in ihrem Kopf durcheinanderwirbelt. „Eigentlich finde ich es vollkommen verständlich, dass Kaspar Wagenbach sich mit der Geschichte der RAF befasst. Ausgangspunkt war sicher, dass er seine Mutter verstehen wollte. Und vielleicht hat er später gemerkt, dass da etwas ist, das die individuellen Entscheidungen übersteigt, und hat sich daher auf einer wissenschaftlichen Ebene angenähert.“ Sie wartet auf Pias Reaktion, die kaum zugehört hat. „Seine Assistentin, diese Frau Brandenburg, war das eine schlanke Frau mit blauen Augen und braunen Locken?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen nickt Brigitte Dahlem und Pia hat das unangenehme Gefühl, als wenn sie gerade etwas preisgegeben hat. Brüsk sagt sie: „Das war bestimmt nicht das letzte Mal, dass wir Sie sprechen wollten. Wir sehen uns.“ Dann wendet sie sich um und geht mit schnellen Schritten zurück ins Präsidium.

Samstag, 16. Dezember 2006

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44: Konfrontation

Einen Moment lang denkt Brigitte Dahlem über diese Frage nach. Dann nickt sie. Pia wartet, aber eine sprachliche Erläuterung der Geste bleibt aus. „Hamburg,“ schlägt sie vor. Dahlem deutet ein kurzes Nicken an. „Freiburg,“ fährt Pia geduldig fort. Ein weiteres kurzes Nicken. „Was hat Burg wohl in Freiburg gemacht,“ fragt sie im Konversationston. „Gearbeitet,“ sagt Brigitte Dahlem. Das Bohren beginnt Pia sichtlich zu nerven. „Kommen Sie, können wir vielleicht in ganzen Sätzen reden? Wir wissen, dass Burg in dem Altenheim gearbeitet hat, in dem seine Mutter lebt. Warum hat er dort unter falschem Namen einen Arbeitsvertrag unterschrieben?“ Überraschung zeichnet sich auf dem angespannten Gesicht der Dahlem ab. „Hat er? Keine Ahnung. Er hat mir erzählt, dass er als Pfleger arbeitet. Ich wusste weder, dass seine Mutter in dem Heim ist, noch dass er einen falschen Namen benutzte.“ Pia beobachtet, wie sich ihr Blick nach innen wendet, als sie diese Information überdenkt. „Wann hat Burg Sie kontaktiert?“ Brigitte Dahlem konzentriert ihre Aufmerksamkeit zurück auf Pia. Sie antwortet nicht sofort und formuliert ihre Aussage vorsichtig. „Vor ungefähr zwei Monaten.“ – „Was wollte er? Aus welchem Grund hat er sich bei Ihnen gemeldet?“ Wieder eine Pause. „Er hatte keinen bestimmten Grund. Er stand vor meiner Tür und wir haben uns unterhalten. Über die Zeit im Gefängnis. Was wir jetzt machen.“ Pia rollt mit den Augen. „Sicher. Wie nett, mal wieder Bekannte aus der guten alten Zeit zu treffen.“ Sie beugt sich vor und ihr Ton wird schärfer. „Warum ist Burg plötzlich vom Himmel gefallen, zwei Monate bevor Schwarz ermordet wird? Ist ihm ein Idee zu einer neuen Aktion gekommen, die er unbedingt mal mit Ihnen durchsprechen wollte? Haben Sie beide daraufhin geplant, Schwarz zu töten? Und gab es dann Probleme und Sie haben sich dazu entschlossen, Ihren alten Kommando-Kollegen loszuwerden?“

Brigitte Dahlem antwortet nicht. Ihr Gesichtsausdruck spiegelt eine gelangweilte Indifferenz, aber Pia kann die Anspannung in ihren Augen sehen. Sie setzt ein wissendes Lächeln auf. „Die ganzen Jahre im Knast, die aufgezwungene Zeit zum Nachdenken. Der Sinn einer Gefängnisstrafe besteht darin, dass man irgendwann zu dem Punkt kommt, an dem man einsieht, das man falsch gehandelt hat und sich daraufhin ändert, dass man ein besserer Mensch wird. Hat das bei Ihnen funktioniert?“ Das Lächeln verschwindet, Pias Augen werden kalt, ihr Blick abschätzig. „Und, sind Sie in die moralische Falle getappt, wie die kleinen Diebe und reuigen Mörder, die mit Ihnen eingesessen haben? Haben Sie Ihre revolutionären Ziele gegen eine gutbürgerliche Sackgasse eingetauscht? Den bewaffneten Terror zugunsten des Konsumterrors aufgegeben?“ Wachsamkeit in Pias Gesicht. „Sie nicht. Sie haben sich doch durch das System nicht korrumpieren lassen. Sie waren sich bewusst, was im eigenen Kopf passiert, wenn man lange genug allein ist, abgeschlossen von der Außenwelt, von Information, vom Austausch mit Gleichgesinnten. Sie wussten, dass man nach einer gewissen Zeit anfängt, alles in Frage zu stellen, alles was man vorher für unbestreitbar wahr und richtig gehalten hat. Und Sie wussten, dass man Sie genau dazu in diese Fünf-Quadratmeter-Zelle gesteckt hat. Darum haben Sie Widerstand geleistet. Sie standen mit genau den Zielen und Idealen nach der Entlassung hinter dem Gefängnistor, mit denen Sie zwanzig Jahre vorher hineinspaziert sind.“ Sie lehnt sich zurück und inspiziert ihre Fingernägel, runzelt dann die Stirn, weil diese dringend einer neuen Maniküre bedürfen.

„Zweiundzwanzig Jahre,“ sagt Brigitte Dahlem. Ihre Stimme ist fest, aber als Pia wieder aufsieht, entdeckt sie einen Ausdruck im Gesicht der Frau, den sie nicht deuten kann. Schmerz? Wut? Hass? Oder einfach nur Müdigkeit? „War es nicht wie nach einem langen Schlaf,“ fragt Pia sanft. „Sie sind nach zweiundzwanzig Jahren aufgewacht und dachten, es geht weiter. Sie waren ausgeruht und voller Tatendrang. Aber niemand war mehr da. Es war vorbei, Sie hatten es verschlafen. Und plötzlich steht Burg vor Ihrer Tür und Sie waren bereit. Bereit, den Kampf wieder aufzunehmen. Und vor allem bereit, allen zu zeigen, dass der Knast Sie nicht kaputt gemacht hat. Sie nicht gebrochen hat. Dass die ganze versuchte Gehirnwäsche ohne Wirkung geblieben ist. Dass Sie niemals aufgeben werden.“ Die Worte fließen ruhig und einlullend aus Pias Mund, während sie versucht, tief in die Augen von Brigitte Dahlem einzudringen, ihre Gedanken und Gefühle zu lesen. Und sie spürt etwas, das sie nicht fassen kann, eine winzige Bewegung, die sofort wieder verschwindet. Brigitte Dahlem schließt kurz die Augen, als wollte sie Pia abwehren. Als sie sie wieder öffnet, ist nichts als Verachtung in ihrem Gesicht und ihren Augen.

„Glauben Sie mir, Ihre Kollegen vom BKA haben schon bessere Psychotricks an mir ausprobiert. Man merkt sofort, dass Sie ein paar Stufen tiefer auf der Leiter stehen. Dass Sie ein Provinzbulle sind.“ Riesel beobachtet Pia nervös, aber sieht nur ein amüsiertes Grinsen, das nicht bemüht wirkt. Pia macht eine lässige Handbewegung. „Ja, die Provinz. Das schöne, ruhige Altenburg. Irgendwas muss Sie ja auch sehr angezogen haben, da Sie sich entschlossen haben, Ihren Lebensabend hier zu verbringen. Die malerische Altstadt? Die berühmte Universität?“ Ihre Augen leuchten auf. „Oder ein Ex-BKA-Bulle?“ Brigitte Dahlem lächelt. „Fick Dich,“ sagt sie, völlig ruhig. Pia zieht die Augenbrauen nach oben. Dann zuckt sie mit den Schultern und sagt: „Ich fürcht, wir haben Ihr ziviles Potential zu sehr bemüht. Gut, eigentlich sind wir auch am Ende des Gesprächs.“ Als wenn ihr noch etwas einfallen würde, bemerkt sie dann beiläufig: „Ach, sagen Sie mir doch noch, was Sie am Mittwoch gemacht haben.“ Brigitte Dahlem denkt augenscheinlich darüber nach, ob sie diese Frage noch beantworten soll und verzieht genervt die Mundwinkel. Dann erklärt sie: „Ich habe mich mit einem Historiker getroffen. Wir haben von 10 bis 12 Uhr in einem Cafe in Altenburg gesessen. Zusammen mit seiner Assistentin.“ Sie legt den Kopf schief. „Ist am Mittwoch noch jemand erschossen worden, den ich kenne?“ Pia schüttelt bedauernd den Kopf. Dann fragt sie mit gespieltem Interesse: „Ein Historiker? Was wird das, ein Buch über die RAF?“ Brigitte Dahlem macht keine Anstalt, das Projekt zu erklären, darum beschränkt sich Pia auf eine letzte Frage: „Ich brauche den Namen des Historikers und den seiner Assistentin.“ Sie kann sich auf keinen Fall die Gelegenheit entgehen lassen, Alenas Kontaktperson näher zu beleuchten, auch wenn der das sicher nicht gefallen würde. Aber sie muss ja nicht erfahren, denkt Pia. Brigitte Wagenbach sieht sie misstrauisch an, scheitert aber an Pias unschuldigem Gesichtsausdruck. „Gut, kann ich gehen, wenn Sie den Namen haben?“ Als Pia nickt, steht sie auf und wendet sich zur Tür. Im Hinausgehen erklärt sie: „Der Historiker heißt Kaspar Wagenbach, seine Mitarbeiterin ist eine Frau Brandenburg.“ Die Tür schließt sich hinter ihr.

Dienstag, 12. Dezember 2006

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43: Perspektiven?

Kaspar ist durch stundenlang durch die Stadt gelaufen, kopflos, wie jemand, der etwas Wichtiges verloren hat, etwas Essentielles, aber keine Ahnung hat, wo er es wiederfinden kann. Und was es ist. Irgendwann hat er versucht etwas zu essen, aber das Stück Pizza widerte ihn in dem Moment an, als er es in den Mund stecken wollte. Danach bot sich ein leerer Stuhl in einem Cafe an, wie der letzte Ort, wo er hingehen konnte. Von dort aus rief er auf der Arbeit an und entschuldigte sein Fernbleiben mit Krankheit. Sein Chef zweifelte keinen Moment daran, dass Kaspar tatsächlich krank war. „Himmel, Sie hören sich furchtbar an. Bleiben Sie zu hause und kurieren sich aus.“ Stecken Sie uns nicht an, mit was auch immer, schien er sagen zu wollen, und wenn es tödlich ist, sterben Sie irgendwo weit weg von der Firma. Es ist bewölkt und etwas windig. Eine Frau mit Top geht an ihm vorbei und verschränkt die Arme vor der Brust. Bei Kaspar setzt nach der dritten Tasse Kaffee der Beruhigungseffekt ein, ähnlich der Erfahrung, dass starker Schmerz plötzlich nachlässt, wenn man mit einem weniger starken Schmerz konfrontiert wird. Dafür beginnt sein Hirn zu arbeiten und alles wieder aufzurollen. Er sieht Pias Gesicht dicht vor seinem, diese Maske eisiger Entschlossenheit. Was ihn jedoch sehr viel mehr beunruhigt ist der Jagdtrieb, den er dahinter verspürt hatte, eine Lust am Treiben und Fangen. Mit der Empathie eines Exzentrikers erkennt er ihn ihr die Pathologin und das trägt vor allem dazu bei, dass er völlig schwarz sieht, was seine Zukunft und sein Strafregister angeht. Es ist sinnlos sich zu wehren. Sie wird nicht nachlassen, nicht aufhören zu suchen, dicht an seinen Fersen kleben. Er kann nichts vor ihr verbergen. Der Gedanke kriecht in sein Hirn und beginnt dort zu suchen. Und findet. Abgestumpft bestellt Kaspar noch eine Tasse Kaffee und diesmal ein Stück Obstkuchen dazu. Zweiter Versuch. Eine Papiertüte mit dem Logo einer Kaufhauskette fliegt an ihm vorbei. Alles ist im Fluss. Was nun? Er könnte hier für den Rest der Ewigkeit sitzen bleiben. Er sieht sich auf dem Stuhl hängen, nachts mit dem Kopf auf dem Tisch schlafend, morgens als erster Kunde einen Milchkaffee und Hörnchen bestellend, kurz ins WC laufen um sich zu rasieren. Ein gutes Leben. Jedes Leben ist besser als das was er führt. Als der Kaffee kommt klingelt das Telefon. Erst registriert er nicht, dass es sein Handy ist. Dann hat er keine Lust, den Anruf anzunehmen. Es klingelt weiter, schickt einen schrillen Ton in die nächste Windbö und hängt den nächsten Ton nahtlos an. Es wird niemals aufhören zu klingeln, denkt Kaspar und fühlt sich hilflos. Er holt das Handy aus der Tasche und sieht auf das Display. Fokussiert. Sieht hoch, auf einen Punkt der nicht existiert. Starrt erneut auf das Handy. Kann es nicht glauben. Es ist Alena.


Brigitte Dahlem und Pia sitzen sich gegenüber wie bei einem Wettkampf, bei dem der erste Kandidat verliert, der den Blick abwendet. Unerwarteterweise kam Frau Dahlem ihren Bürgerpflichten prompt und ohne langwierige Einwände nach und meldete sich vor ein paar Minuten unten bei dem diensthabenden Kollegen. Ohne Worte nickten die beiden Frauen sich zu, fasziniert beobachtet von Riesel, der sich an seinen Schreibtisch verzogen hatte, als ob dieser Schutz vor den zu erwartenden Kollateralschäden bieten würde. Ohne Einleitung beginnt Pia: „Wo haben Sie sich Dienstag Abend aufgehalten?“ Brigitte Dahlem trägt eine dunkelgraue Bluse und Jeans. Die Haare sind straff zurückgebunden, was ihre Gesichtszüge noch härter macht. Einen Moment fixiert sie Pia und runzelt dann die Stirn. „Warum ist das wichtig?“ Pia verzieht keine Miene. „Dienstag Abend?“ Mit dem Gesichtsausdruck einer Frau, die sowieso nichts als sinnentleerte Schikane auf einer Polizeibehörde erwartet, antwortet Brigitte Dahlem lakonisch: „Ich war zu hause. Habe Ferngesehen. Wer wird Millionär, war es glaube ich. Habe ich ein Alibi, wenn ich die Zwangzigtausendeurofrage wiederholen kann?“ Pia wirft Riesel einen Blick zu. „Protokollieren Sie das. Kein Alibi.“ Brigitte Dahlem verzieht genervt einen Mundwinkel nach oben. „Und wofür brauche ich ein Alibi?“ Kaspar Wagenbach hatte eine ähnliche Frage gestellt, erinnert sich Pia und vergleicht den nervösen jungen Mann mit der abgebrühten älteren Frau, die vor ihr sitzt. Sie grinst innerlich. "Dienstag Abend wurde ein Bekannter von Ihnen erschossen. Und wir fragen uns, ob Sie etwas damit zu tun haben.“ Wieder kommt das Photo zum Vorschein und diesmal entdeckt Pia einen Anflug von Betroffenheit auf Dahlems Gesicht. Eine Sekunde später ist der Eindruck verschwunden und Brigitte Dahlem blickt Pia mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Was ist passiert?“ – „Sagen Sie es mir,“ antwortet Pia im Plauderton. Dann legt sie ihre Unterarme auf den Tisch. „Kannten Sie Burgs Aufenthaltsort?“

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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