69: Puzzle

Kaspar schüttelt den Kopf. „Sie war nicht die Einzige, die davon profitiert hatte, dass die DDR nicht an die BRD auslieferte. Susanne Albrecht und Inge Viett sind auch nach drüben gegangen. Es gab eben Kontakte.“ Alena überlegt. „Das allein kann es nicht gewesen sein. Das ist nichts, was die Dahlem dir verschweigen müsste.“ Sie sieht Kaspar aufmerksam an. „Und wenn deine Mutter Hilfe hatte? Hilfe von jemandem, dem die Dahlem und der Rest des Kommandos nicht vertrauten?“ Kaspars Gesicht wird misstrauisch. „Du willst auf etwas hinaus, nicht wahr?“ Er runzelt die Stirn. „Du weißt etwas, das ich nicht weiß,“ stellt er fest. Alena beginnt innerlich zu fluchen. Ihre Versuche haben keinen Sinn mehr, aber sie hat Pia versprochen, nichts von dem Foto zu erzählen. Verzweifelt sucht sie einen Ausweg und Kaspar macht es ihr nicht gerade leicht. Wortlos sieht er sie an, ohne auch nur zu blinzeln. Alena wagt die Flucht nach vorn. „Wir sollten Brigitte Dahlem fragen, weil sie diejenige ist, die alles über deine Mutter weiß.“ Sie macht eine winzige Pause. „Wenn du tatsächlich alles über deine Mutter erfahren möchtest.“

Sonntags ist es angenehm leer im Präsidium und Pia genießt die Stille auf den Fluren. Vereinzelt ertönen Stimmen aus den Büros und irgendwo klingelt ein Telefon. Sie geht an Oberdorfs Büro vorbei, das heute garantiert leer steht, denkt an das Foto in ihrer Tasche und lächelt. Als sie ihr Büro aufschließt, überlegt sie, warum sie heute eigentlich hergekommen ist. Es gibt keine Spuren, die sie verfolgen könnte. Aber sie hält es nicht zu hause aus, ihr Kopf ist zu voll mit den Ereignissen der letzten Woche. Und sie könnte sich zum wiederholten Mal das Dossier über Schwarz und seine schriftlichen Hinterlassenschaften ansehen. Riesels Schreibtisch ist unbesetzt, sein Bildschirm schwarz, und Pia atmet auf.

Während der Kaffee in die Kanne tropft, betrachtet Pia das Foto von Schwarz und Marianne Wagenbach. Eine verrückte Geschichte. Hat Alena etwas aus Kaspar herausholen können? Pia bezweifelt es. Zwar hat Kaspar während des Verhörs den Kopf verloren, aber später war er ausgesprochen kontrolliert. Ein seltsamer Typ, denkt Pia stirnrunzelnd. Sie legt das Foto beiseite und öffnet den Ordner, den Riesel über Schwarz angelegt hat. Eine Weile blättert sie durch die Seiten, auf denen Schwarz´ Werdegang beschrieben ist. Seine Zeit beim BKA. Der Terroristenjäger. Sie starrt auf ein Foto, das ihn zusammen mit Horst Herold zeigt. Schwarz hat dazu gehört. Er war Teil des großen Netzwerks gegen den Terror, an dessen Rändern hysterische Bürger misstrauisch die langhaarigen Kinder der Nachbarn bespitzelten und in dessen Zentrum der neue Supercomputer des BKA stand, in dem abertausende Namen und Daten von Auffälligen und Verdächtigen gespeichert waren. Dazwischen Rasterfahndung und Straßensperren. Was für eine Zeit. Und Schwarz mittendrin. Ein Fanatiker, der jahrelang versuchte, die Mitglieder des Kommandos zu erwischen, die 1978 fliehen konnten. Wieso konnten sie fliehen? Nein, denkt Pia, fangen wir am Anfang an: wie ist Schwarz überhaupt so nah an die RAF herangekommen. Das Foto scheint darauf hinzudeuten, dass Marianne Wagenbach seine Quelle war. Hat sie ihre Leute verraten? Pia beginnt, mit der gummierten Seite ihres Bleistiftes auf die Schreibtischfläche zu tippen; die Frequenz wird immer schneller. Das würde erklären, warum Brigitte Dahlem heute nicht mehr über die Wagenbach reden möchte. Über eine Verräterin, die ihnen den größten Coup der RAF-Geschichte versaut hatte. Der Bleistift bleibt in der Luft hängen. Das setzt voraus, dass die Dahlem herausbekommen hat, dass Marianne sich mit Otto Schwarz getroffen hatte. Was wiederum der Grund dafür gewesen sein könnte, dass allen Mitgliedern die Flucht gelang. Und Marianne, die wahrscheinlich in Todesangst geschwebt hatte, weil sie die Rache ihrer ehemaligen Mitstreiter fürchten musste, floh in die DDR. Wie ein Puzzle schiebt Pia die nächsten Teile zusammen. Marianne könnte von Schwarz Hilfe für ihre Flucht eingefordert haben. Und weil Schwarz diese nicht abschlagen konnte, hatte er ein Geheimnis, das auf keinen Fall ans Licht kommen durfte. Das Foto, auf dem Schwarz und Herold sich die Hände schütteln, zieht erneut ihren Blick an. Nein, niemand durfte erfahren, dass der Terroristenjäger einer Terroristin die Flucht ermöglicht hatte. Aus diesem Grund musste er auch die Drohbriefe geheim halten, seine Nachforschungen alleine betreiben, im Nacken eine Vergangenheit, die ihn nie losgelassen hatte und vor ihm der unbekannte Gegner. Pia lächelt wieder, bis ihr ein Gedanke kommt, der das Lächeln aus ihrem Gesicht schiebt. Warum hat der Schreiber Schwarz schließlich getötet? Warum hat er das Katz und Maus Spiel auf diese Weise beendet? Es wäre so egal gewesen, wenn Schwarz den Schreiber enttarnt hätte. Er hätte auch dann nicht seine Kollegen rufen können, mit den Schatten aus der Vergangenheit, die weiter an ihm hafteten. Nein, entscheidet Pia. Der Schreiber hat Schwarz nicht deshalb umgebracht, weil er Entdeckung fürchtete. Außerdem scheint es ihm Spaß gemacht zu haben, den Pensionär zu quälen. Auch das wäre eher ein Grund gewesen, Schwarz am Leben zu lassen. Pia steht auf und geht zum Fenster. Ohne die Außenwelt wahrzunehmen, konstruiert sie weiter an einer Kette von Gründen und Folgen. Und wenn Schreiber und Mörder nicht identisch sind, wie sie alle bisher gedacht haben? Der Gedanke lässt sie stocksteif werden. Warum wurde Schwarz dann getötet?

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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