Kapitel Vier

Samstag, 20. Januar 2007

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60: Pakt

Pia überlegt, was sie nun tun soll. Die Frau auf dem Foto ist Marianne Wagenbach, dessen ist sie sicher. Arm in Arm mit Otto Schwarz, dem Polizisten, der einen Großteil seines Lebens damit verbrachte sie zu jagen. Wie alt mag das Foto sein? Wo war es entstanden? Kannten sie sich, bevor Marianne Wagenbach in den Untergrund gegangen ist? Oder lernten sie sich erst im Rahmen der polizeilichen Untersuchungen kennen? Wurde Schwarz als Spitzel eingeschleust? Die Tatsache dass er das Foto aufbewahrt hat, deutet für Pia darauf hin, dass Schwarz die Angelegenheit nicht nur beruflich betrachtete. Oder hat der Mörder das Foto mitgebracht? Aber wenn er Schwarz als Verräter offenbaren wollte, hätte er das Foto so positioniert, dass man es sofort gefunden hätte. Wurde das Foto in einem der Drohbriefe mitgeschickt? Aber warum sollte Schwarz es dann an einem so intimen Ort wie seinem Bett verstecken? Wenn es für ihn nur die Bedeutung eines Beweisstücks hatte, hätte er es mit in das Schließfach legen können. Das Foto wurde mit einer Sofortbildkamera geschossen. Kein Stempel eines Fachgeschäfts. Die Kleidung der Frau gibt wenig Hinweise, sie trägt ein enges graues T-Shirt zu Jeans. Schwarz hat ein schwarzes Poloshirt an, ebenfalls zeitlos. Pia fragt sich, wer das Foto geschossen hat. Das Paar ist nicht in der Mitte des Fotos positioniert. Ein Arm von Marianne Wagenbach ist abgeschnitten. Vielleicht wurde es per Selbstauslöser gemacht. Warum hat Schwarz überhaupt dieses verfängliche Foto zugelassen? Pia schüttelt verständnislos den Kopf. Reiner Selbstmord. Nur verständlich, wenn er nicht wusste, dass die Wagenbach Mitglied in einem RAF-Kommando war. Pia steht auf und geht zum Fenster. Wer hatte wen bespitzelt? Sie sieht auf einen kleinen Innenhof, in dessen Mitte sich eine Birke in den Himmel reckt, um ein wenig mehr Licht abzubekommen. Eine Stimme in ihrem Kopf sagt: und wenn es ernst war? Wenn sie sich einfach ineinander verliebt hatten? Wieder schüttelt sie den Kopf. Die RAF war nicht der richtige Ort für Romantik. Wahrscheinlicher war, dass man die gutaussehende Marianne als Köder benutzt hatte, um Informationen über die polizeilichen Ermittlungen zu bekommen. Und Schwarz hatte angebissen. Vielleicht erklärte das auch, dass er später wie ein Besessener hinter den Mitgliedern des Kommandos her war. Die Jagd war zu etwas Persönlichem geworden. Wieder betrachtet Pia das Foto und diesmal denkt sie darüber nach, ob Kaspar Wagenbach von dieser Bekanntschaft seiner Mutter weiß. Und wie er auf diese Information reagieren würde.

„Was für ein Detail,“ fragt Alena unwillkürlich. Sofort hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Hat sie damit implizit dem Angebot zugestimmt? Einen Teufel sollte sie tun. Pia würde sofort merken, dass etwas nicht stimmt. Wenn sie überhaupt jemals wieder mit ihr redet. Andererseits kann Alena wirklich gut lügen. Was, wenn sie Pia in den Plan von Brigitte Dahlem einweihen und von ihr kontrollierte Infos weitergeben würde? Brigitte Dahlem grinst und Alena fährt verzweifelt mit einer Hand durch ihre Haare. Sie eignet sich nicht wirklich als Doppelagent. „Die Stein-Bachmüller ist nicht blöd. Ich könnte sie keine Sekunde hinters Licht führen,“ sagt Alena und denkt, doch, vielleicht könnte sie es. Aber eigentlich sträubt sich alles in ihr dagegen. Brigitte Dahlem zuckt mit den Schultern. „Schade. So kommen wir nicht weiter.“ Sie hat recht, denkt Alena. Sackgasse. Weder von Pia noch von Brigitte Dahlem wird sie Informationen erhalten. Das Bedauern, das sie in diesem Moment fühlt, gilt weniger Kaspar als eher der Tatsache, dass die Wahrheit jetzt in unerreichbarer Ferne liegt. Brigitte Dahlem dreht sich auf dem Absatz um und geht langsam zurück in die Richtung ihrer Wohnung. Alena folgt ihr eine Weile schweigend. Dann holt sie tief Luft. „Ok. Einverstanden. Ich versuche es. Aber um ihr Vertrauen zurück zu gewinnen, brauche ich etwas wirklich Gutes. Etwas, das sie nicht schon weiß. Etwas, das ihr Appetit auf mehr macht. Denn eins ist klar, wenn ich ihr erzähle, dass ich die Information von Ihnen bekommen habe, wird sie mir nur dann helfen, wenn ich ihr weiter zuliefere. Quid pro quo.” Brigitte Dahlem bleibt stehen. Ohne sich nach Alena umzudrehen sagt sie: „In diesem Fall sind Sie diejenige die kontrolliert, wie viel Sie uns beiden jeweils erzählen.“ Alena starrt auf den geraden Rücken der Frau. Brigitte Dahlem greift in ihre Hosentasche und zieht ein verknittertes Päckchen Billigzigaretten heraus. Während sie sich eine der Zigaretten ansteckt wendet sie sich zu Alena um. „Ok, wir machen es. Aber wenn Sie ein falsches Spiel spielen, wird es Ihnen leid tun. Verdammt leid tun.“ Ihr Gesicht bleibt unbewegt, aber Alenas Hals ist auf einmal sehr trocken. Sie nickt beklommen und spürt wie nervöse Gänsehaut ihren ganzen Körper überzieht. Nach dem Versuch mit einem Räuspern ihre Stimme zu stärken sagt sie: „Was haben Sie denn für Frau Stein-Bachmüller?“

Freitag, 19. Januar 2007

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59: Allianzen

Auf dem Foto ist ein sehr junger Otto Schwarz zu sehen. Er steht in einem Raum am Fenster. Aus dem Fenster kann man den grauen Himmel sehen. Der Raum ist fast leer. Neben Schwarz ist eine halbe Tischplatte zu sehen, auf der ein dunkler Gegenstand liegt, der vom Bildrand abgeschnitten ist. Neben Schwarz steht eine junge Frau. Sie hat lange blonde Haare. Mit einer Zigarette im Mund lacht sie in die Kamera. Otto Schwarz lächelt ebenfalls. Er hat einen Arm um ihre Hüfte gelegt, sie stehen dicht beieinander. Der Gegenstand auf dem Tisch ist eine Waffe. Die Frau hat große Ähnlichkeit mit Kaspar Wagenbach.

Nervös schaut Alena zu Brigitte Dahlem hinüber. „Selbstjustiz bringt Sie jetzt nicht weiter,“ murmelt sie. „Sie sind gerade entlassen worden, wollen Sie etwa sofort wieder in den Knast?“ Brigitte Dahlem starrt sie an, legt dann den Kopf in den Nacken und lacht aus vollem Hals. Ihr Lachen ist heiser und sie fängt an zu husten. Schließlich betrachtet sie Alena grinsend. „Sie halten mich für eine schießwütige Irre, stimmt´s?“ Alena muss lächeln. „Tut mir leid.“ Sie legt den Kopf schief. „Aber was genau wollen Sie tun, wenn Sie Burgs Mörder kennen?“ Brigitte Dahlem zuckt mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Vielleicht töte ich ihn doch.“ Alena sieht sie unbehaglich an. „Würden Sie ihn der Polizei übergeben?“ Auf dem Gesicht von Frau Dahlem spiegelt sich Abscheu. „Den Bullen helfen?“ Einen Moment lang scheint sie zwischen den beiden Alternativen zu wählen, dann zuckt sie wieder mit den Schultern. „Ich werde darüber nachdenken, wenn ich weiß wer es war.“ Alena reißt erwartungsvoll die Augen auf. „Wollen Sie nach ihm suchen? Haben Sie schon eine Spur?“ Ein spöttisches Lächeln kräuselt die Lippen der Frau. „Bin ich Privatdetektiv? Glauben Sie mir, ich habe Besseres zu tun, als durch die Gegend zu laufen und herumzuschnüffeln. Ich warte einfach bis die Kripo ihn hat.“ Sie wirft Alena einen langen Blick zu. „Oder haben Sie schon einen Verdacht?“ Alena fühlt sich in die Ecke gedrängt. Das fehlt ihr noch, eine Ex-Terroristin auf die Spur des Mörders ihres Kollegen zu bringen. Schnell schüttelt sie den Kopf. „Darum bin ich ja bei Ihnen. Ich habe keine Ahnung wo ich anfangen soll zu suchen. Aber wenn ich nichts tue, steht Kaspar weiter im Mittelpunkt der Nachforschungen von Frau Stein-Bachmüller.“ Sie stoppt hier. Sie hatte gehofft, dass Brigitte Dahlem ihre Suche unterstützt, aber jetzt ist sie nicht mehr sicher, ob sie diese Hilfe überhaupt möchte. Plötzlich sieht sie sich mit dem Feuer spielen. Interesse glimmt in den grau-grünen Augen auf. „Haben Sie noch Kontakt zur Stein-Bachmüller? Können Sie den Stand der Ermittlungen herausbekommen?“ Innerlich beginnt Alena zu fluchen. Erst versucht Pia sie einzuspannen und jetzt auch noch eine Ex-RAF. Dann schlägt ihr Herz schneller und sie spürt Beunruhigung in sich aufsteigen. Das ist eine Ecke zu groß für sie. „Frau Stein-Bachmüller fühlt sich von mir betrogen, weil ich ihr Kaspars Existenz verschwiegen habe. Von ihr erfahre ich nichts mehr.“ Brigitte Dahlem scheint nicht überzeugt und Alena versucht eine dramatischere Erläuterung. „Sie war bei mir in der Wohnung und hätte mich beinahe geschlagen. Und ich wette, sie gehört zu den Menschen, die nie etwas vergessen oder verzeihen. Außerdem hat sie überhaupt kein Verständnis für mein Handeln. Sie würde nie in Erwägung ziehen, dass ich Kaspar schützen wollte, weil er mein Freund ist. Sie denkt, ich wollte sie reinegen.“ Brigitte Dahlem starrt auf den leeren Bürgersteig. „Vielleicht sollten Sie ihr etwas anbieten, womit Sie ihr Vertrauen zurück gewinnen.“ Ihr Blick wandert zu Alena und zwingt deren Aufmerksamkeit in ihre Richtung. Alenas Kopf fühlt sich an als wäre er in einer Schraubzwinge, sie kann die Augen nicht mehr von der Frau abwenden. „Wir könnten zusammenarbeiten. Ich liefere Ihnen ein Detail, das Ihnen die Kooperation von der Kripofotze sichert und Sie teilen die Informationen mit mir, die sie Ihnen gibt.“

Donnerstag, 18. Januar 2007

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58: Freunde und Feinde

Alena schaut tapfer in das misstrauische Gesicht von Brigitte Dahlem. Vorsichtig erklärt sie: „Bei dem Mordfall in dem Haus, in dem ich wohne, habe ich ihr geholfen.“ Sie wird rot und verbessert sich schnell: „Nicht wirklich geholfen, sie hat den Fall natürlich allein bearbeitet. Aber es ging um sehr spezielles Wissen und sie hatte mich diesbezüglich angesprochen. Als jetzt der Tod von Schwarz in der Zeitung stand, habe ich mit Kaspar gesprochen und wir waren der Meinung, dass wir versuchen sollten, mehr darüber zu erfahren. Deswegen hatte ich sie angerufen, einfach in der Hoffnung, dass sie sich an mich erinnert und mir ein paar Einzelheiten gibt. Wir wollten ja keine Geheimnisse erfahren, nur ein wenig mehr als das, was in der Zeitung gestanden hat.“ Alena denkt kurz nach und fügt dann hinzu: „Ich habe ihr allerdings nichts von Kaspar erzählt, weder dass Marianne Wagenbach einen Sohn hat, noch das ich ihn kenne. Ersteres hat sie natürlich schnell allein herausgefunden und letzteres weiß sie nun auch. Ich glaube, damit habe ich endgültig bei ihr verschissen.“ Sie setzt ein komplizenhaftes Lächeln auf, aber die Augen der hageren Frau bleiben kalt. Eine Weile hält Alena dem eindringlichen Blick stand, dann schaut sie verunsichert zur Seite. „Was ist jetzt mit Wagenbach, ist er verhaftet?“ Die Frage kommt unvermittelt und Alena blinzelt. Dann schüttelt sie den Kopf. „Bisher gibt es nur den Verdacht gegen ihn. Aber momentan ist er ihr einziger Verdächtiger.“ Sie stockt kurz und fügt dann hinzu: „Bis auf Sie, natürlich.“ Neugierig sieht sie Brigitte Dahlem an, deren Gesicht unbewegt bleibt. „Hat sie gesagt, dass ich unter Verdacht stehe,“ fragt die Frau dann, und ihre Augen werden schmal. Alena weiß, dass sie einen Fehler gemacht hat. Sie versucht sich herauszuwinden: „Nein, natürlich hat sie mit mir nicht über Verdächtige gesprochen,“ lügt sie. Brigitte Dahlem darf auf gar keinen Fall erfahren, dass Pia sie und Kaspar auf die Ex-Terroristin angesetzt hatte. „Aber wenn sie Kaspar gefunden hat, dann hat sie bestimmt auch Sie gefunden. Sie war doch sicher schon bei Ihnen, oder?“ Alena wartet gespannt und Frau Dahlem nickt kurz. „Sie hat versucht mich auszuquetschen, hat aber bisher keinen Erfolg gehabt.“ Alena beobachtet erleichtert, wie ihre Gegenüber ein Grinsen unterdrückt. Gemeinsame Gegner sind eine noch bessere Kommunikationsbasis als gemeinsame Freunde. „Haben Sie ein Alibi für die Tatzeit? Den Mord an Schwarz?“ Sie hat das Gefühl jetzt mehr wagen zu dürfen. Die blassen grünen Augen beobachten sie forschend, begleitet von einem Kopfschütteln. „Ich habe keine Arbeit, bin in keinem Sportverein und gehe auch nicht zu Tupper-Parties. Natürlich habe ich kein Alibi.“ Alena liegt es auf der Zunge zu fragen, woher eine Frau, die über 20 Jahre inhaftiert war weiß, was Tupper-Parties sind. Aber woher weiß sie selbst das eigentlich? Sie konzentriert sich wieder auf das Thema: die Morde. „Hat sie Sie auch zum Mord an Burg befragt?“ Brigitte Dahlem nickt. „Ja. Es scheint ihr egal zu sein, dass es total sinnlos ist, mich des Mordes an einem alten Freund zu verdächtigen.“ Dann ändert sich der Gesichtsausdruck, plötzlich blickt sie Alena fast entschuldigend an. „Sie weiß von mir, dass Sie und Kaspar Wagenbach mich Mittwoch in diesem Kaffee interviewt haben. Habe ich Sie damit reingerissen?“ Alena atmet tief ein. Pias Auftauchen hatte sie so geschockt, dass sie sich bisher noch gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, woher Pia von ihrer Bekanntschaft zu Kaspar wusste. Vielleicht hatte sie stillschweigend angenommen, dass Pia irgendwann alles herausfindet. Alena zieht eine Grimasse und senkt dann ihren Kopf. „Sieht fast so aus.“ Interessiert schaut sie dann wieder hoch. „Haben Sie denn gestern noch mit ihr gesprochen? Gegen Abend hat sie jedenfalls sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie mir am liebsten den Kopf abreißen würde. Kaspar war vormittags bei ihr und ihm gegenüber hatte sie noch keine Andeutungen gemacht. Und ich glaube kaum, dass sie sich diese Gelegenheit entgehen lassen hätte, ihn fertig zu machen.“ Brigitte Wagenbach kaut auf ihren blassen Lippen. „Sie hat mich kurzfristig vorgeladen. Um über den Mord an Hajo zu sprechen.“ Auf einmal beginnen die Lippen zu zittern und für einen Moment birgt sie das Gesicht in den Händen. Die plötzlich erscheinenden Emotionen irritieren Alena und sie kann nicht anders als Brigitte Dahlem fassungslos anzustarren. Die rauen Hände mit den kurzgeschnittenen Nägeln fahren kurz über die zurückgebundenen Haare und das Gesicht sieht wieder undurchdringlich aus. „Wenn ich das Schwein erwische,“ murmelt Brigitte Dahlem.

Montag, 15. Januar 2007

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57: Schwierigkeiten

Brigitte Dahlem sieht sie verächtlich an. „Das war doch schon immer so. Alle interessieren sich nur für das kleine bisschen Leben, das direkt vor ihnen liegt. Keiner will das Unrecht sehen, das in einem anderen Teil der Welt geschieht. Was ist schon real, das außerhalb des eigenen Wohnzimmers passiert?“ Alena schweigt einen Moment und sagt dann vorsichtig: „Aber ist es in Ordnung, wenn man Unrecht mit Gewalt bekämpft?“ Ungeduldig erklärt Brigitte Dahlem: „Ist es nicht manchmal besser, überhaupt etwas zu tun, als einfach nur alles mit sich geschehen zu lassen?“ Ohne Alenas Antwort abzuwarten, meint sie dann: „Aber wir diskutieren hier nicht das, was ich oder Marianne Wagenbach getan haben. Wir sind vom Thema abgekommen. Was ist mit Kaspar Wagenbach und den Morden?“ Alena muss erst ihre Gedanken ordnen, bevor sie anfängt Brigitte Dahlem von Kaspars Verhör zu erzählen. Sie erwähnt allerdings nicht, dass es eine Fortsetzung bei ihr in der Wohnung gefunden hat. Als sie endet, runzelt Brigitte Dahlem ihre Stirn. „Er wird also tatsächlich verdächtigt. Interessant.“ Alena sieht sie fragend an. „Der Verdacht gründet sich vor allem auf einer Art Psychose, die Kaspar Wagenbach in Bezug auf Marianne haben soll?“ Ein breites Grinsen überzieht Brigittes Gesicht und für einen Moment kann Alena bissigen Humor hinter den harten Zügen erkennen. „Vergessen Sie´s. Die Bullen haben nichts. Das ist ein Schuss ins Blaue.“ Alena nickt zögernd. „Aber Sie kennen Frau Stein-Bachmüller nicht. Wenn sie sich auf etwas eingefahren hat, dann macht sie so lange weiter, bis sie ihr Ziel erreicht. Und ich fürchte, im Moment heißt ihr Ziel Kaspar.“ Brigitte Dahlem sieht sie forschend an. „Kennen Sie denn Frau Stein-Bachmüller?“ Alena zögert einen Moment. Aber da es keinen Sinn hat sich zu verstellen, sagt sie ergeben: „Ich kenne sie flüchtig. Bei mir im Haus ist Anfang des Jahres ein Mord geschehen und sie hat ermittelt.“ Ihre Augen fragt Brigitte Dahlem, ob das genug Information ist und trifft auf eine Mischung aus Verwunderung und Zurückhaltung. Schnell sagt Alena: „Ich wollte Kaspar helfen und habe sie nur angerufen um nähere Informationen zu bekommen.“ Plötzlich befürchtet sie, dass die Ex-Terroristin sie als Spitzel betrachten könnte. Ihre Bemerkung ist jedoch nicht geeignet, um diesen Verdacht zu zerstreuen. „Wieso dachten Sie, dass die Kripofotze Ihnen etwas über den Fall erzählt?“ Alena hat das untrügliche Gefühl, dass sie in Schwierigkeiten steckt.

Pias Tag hat nicht gut angefangen und der weitere Verlauf verspricht keine Besserung. Nach dem Gespräch mit Oberdorf durchsuchte sie nervös die Unterlagen und beschloss dann in einer Kurzschlussreaktion noch einmal in die Wohnung von Schwarz zu fahren. Riesel übertrug sie die undankbare Aufgabe in den Meldedaten von Altenburg nach einem Zuzug ab 1978 zu suchen, der altersmäßig Koch entsprechen könnte, und diese Daten mit dem Studentenverzeichnis der Uni Altenburg zu vergleichen. Die Chancen sind minimal, aber Riesel hat in ihren Augen sowieso nichts Wichtigeres zu tun als ihr zuzuarbeiten. Das stoische Nicken Riesels bestärkte sie in ihrer Auffassung und jetzt steht sie in dem kargen Flur von Schwarz´ Wohnung und konzentriert sich auf die Spuren. Oder deren Abwesenheit. Ihre Suche beginnt langsam und wird immer hektischer, bis sie fluchend im Schlafzimmer steht und gegen den Bettpfosten tritt. Auf den Wutanfall folgt Resignation und sie lässt sich auf die nackte Matratze fallen. Den Bezug hat sie abgerissen, in der vergeblichen Hoffnung dort etwas zu finden. „Hast Du keine Geheimnisse, alter Mann,“ flüstert sie zwischen ihren Zähnen hindurch. Zwei Tote und die Verbindung ist offensichtlich. Ein Terroristenjäger und ein Terrorist. Das zersplitterte Kommando. Ein Motiv, die sich aufdrängen. Die Drohbriefe deuten auf Rache hin. Auf Hass. Wer hat sie geschrieben – Burg? Aber sie wurden in der Nähe von Altenburg zur Post gegeben. Brigitte Dahlem? Kaspar Wagenbach? Pias Augen ziehen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. Kaspar Wagenbach. Er scheint verrückt genug, um diese Briefe zu schreiben. Aber er wohnt schon ein paar Jahre in Altenburg – warum hat er erst vor einem halben Jahr damit angefangen? Gab es einen Auslöser? Der Zuzug von Brigitte Dahlem? Wollte er ihr imponieren? Sie auf seine Seite ziehen; ihr Vertrauen gewinnen, um mehr über seine Mutter zu erfahren? Wie weit war er bereit zu gehen, weit genug um einen Mord als Loyalitätsbeweis zu begehen? Aber warum dann Hajo Burg? Es steht eher zu vermuten, dass Brigitte Dahlem sich angepisst fühlt, wenn einer ihrer alten Kollegen ermordet wird. Was hatte Hajo Burg mit der ganzen Sache zu tun? Pia knirscht mit den Zähnen als ihr klar wird, dass sie dringend mit Brigitte Dahlem sprechen muss. Sie könnte etwas über Burg wissen, wer sonst, wenn nicht sie. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt des ganzen verdammten Falls. Sie ist die einzige, die noch vom Kommando übrig ist. Außer Koch natürlich. Koch. Hat Schwarz Koch gefunden? Pia wirft verzweifelt das Kissen an die Wand, direkt gegen ein Bronzekreuz, das an der Wand hängt und in den Zwischenraum von Bettkopf und Matratze fällt. Als sie es herausfingert, fühlt sie noch etwas anderes in dieser Ritze. Karton. Ein Foto. Langsam zieht Pia es heraus. Quadratisch, die Rückseite ist schmutzig weiß. Ein altes Foto. Pia dreht es um und hält dem Atem an.

Sonntag, 14. Januar 2007

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56: Auswirkungen

Alena denkt über die letzten Worte Brigitte Dahlems nach und sie traut sich nicht, nach deren Bedeutung zu fragen. Brigitte Dahlem ergreift erneut das Wort: „Warum steckt Kaspar Wagenbach in Schwierigkeiten? Hat er etwas mit den Morden zu tun?“ Langsam dreht Alena ihr den Kopf zu. „Glauben Sie, dass er die Morde begangen haben könnte?“ Überrascht heben sich die dunklen Augenbrauen der Dahlem. „Woher soll ich das wissen? Sie kennen ihn besser als ich.“ Dann erscheint ein abfälliges Lächeln auf ihrem Gesicht. „Oder glauben Sie, er ist der Sohn seiner Mutter? Weil seine Mutter eine Mörderin war, muss auch Kaspar zwangsläufig Leute erschießen?“ Alena atmet tief ein und wieder aus. Was für eine blöde Frage ihrerseits. Aber es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass sie tatsächlich so denkt und das tut ihr weh. Eine Erwähnung Brigitte Dahlems lenkt ihre Aufmerksamkeit auf einen neuen Punkt. „War Marianne Wagenbach eine Mörderin? Das frage ich in zweierlei Hinsicht. Zum einen, hat sie tatsächlich jemals einen Menschen getötet? Und wenn ja, ist dann in Ihren Augen der Begriff Mörderin für Frau Wagenbach angemessen?“ Ein Mundwinkel wird zynisch angehoben. „Sie wollen von mir hören, dass die Opfer der RAF-Aktionen ihren Tod verdient hatten? Dass die kleinen Angestellten und die Fahrer, die dabei drauf gegangen sind, Kollateralschäden waren, die notwendig waren, weil ihr Tod einer höheren Sache gedient hatte?“ Ihr Gesicht wird abweisend und Alena kann fast beobachten, wie Frau Dahlem eine der inneren Stahltüren zuzieht. Ihre Augen werden abwesend. „Scheiße, ich habe keine Lust, mit Ihnen darüber zu diskutieren. Was verstehen Sie schon,“ murmelt Brigitte Dahlem, ohne Alena anzusehen. „Sie leben Ihr kleines dünnes Leben, Sie drehen sich um Ihre ärmlichen bürgerlichen Bedürfnisse. Sie sind zu schwach, um anders zu leben, zu schwach, um anders leben zu wollen. Sie haben Angst vor Konsequenzen, die Sie nicht einplanen können, Sie verstecken sich vor der Verantwortung, die Sie übernehmen müssten.“ Ihr Gesicht verzerrt sich vor Schmerzen, die tief aus ihrem Inneren zu kommen scheinen. Alena muss über diesen Vorwurf nachdenken. Hat sie recht? Sie seufzt. Es ist schwierig, zu einem Ergebnis zu kommen, sie selbst hat keine Ziele. Sie hat keinen Grund, etwas zu ändern. Weder für sich, noch für andere. Sie stellt ihre Frage: „Ist es nicht überheblich zu denken, man muss das Leben der Anderen ändern? Die Aktionen der RAF zielten darauf ab, das private Leben zu politisieren. Aus Eltern Kader zu machen und aus Kindern kleine Revolutionäre. Die Weltgeschichte zu einem Teil der Individualgeschichte zu machen, die Individualgeschichte zu marginalisieren. Das Individuum zählte nur noch im Rahmen der politischen Zielsetzung. Wie können Sie sich anmaßen, Anderen dieses Leben auf zu oktroyieren? Woher wollen Sie wissen, ob Sie dazu berechtigt sind. Ob Ihre Gründe besser sind, als die der Anderen? Ob Ihr Leben besser ist als das der Anderen?“ Brigitte Dahlems Augen sind leer. „Sie haben den Zeitpunkt verpasst, das zu verstehen,“ sagt sie. „Wir waren am Kairos der Weltgeschichte, 1968 war ein solcher Moment, der Beginn einer Phase, in der die Tür der Zeit offen stand und die Menschen für Veränderungen empfänglich waren.“ Gesichtszüge wie aus Stein. „Die Tür ist zugefallen, Ihr habt sie zufallen lassen. Jetzt ist es zu spät. Was wir getan haben, was wir wollten, ist für immer Eurem kleinen Verständnis entzogen.“ Alena schüttelt den Kopf und spürt so etwas wie Ungeduld aus ihrem vorsprachlichen Bewusstsein hochsteigen. „Sie können nicht verhindern, dass die politische, die wissenschaftliche und auch die private Welt über Ihre Handlungen urteilt. Das ist ihr gutes Recht und jeder Urheber eines historischen Ereignisses muss sich dessen bewusst sein und sich dem stellen. Das hat auch etwas mit Verantwortung zu tun, mit der Verantwortung der Zukunft gegenüber. Alles, was wir tun, was Sie getan haben, verändert die Welt in der wir leben. Und das sind nicht nur die Handlungen, die einen großen Wirkungskreis nach sich ziehen, das sind auch die vielen kleinen Handlungen und Entscheidungen. Ich muss mich für mein Leben und die winzigen Veränderungen, die ich vornehme, genauso rechtfertigen, wie Sie. Und Sie haben das Leben in der Bundesrepublik verändert, das können Sie nicht leugnen.“ Alenas Stimme wird sanfter. „Sie haben allerdings genau das erreicht, was Sie verhindern wollten. Die Gesetze sind strikter geworden. Die Überwachung des Staates umfangreicher und detaillierter. Der Bürger hat sich mehr denn je ins Private zurückgezogen. In den Konsum. Die 80er Jahre waren an restaurativen Tendenzen kaum zu überbieten. Wissen Sie was, das Hauptziel derjenigen ist, die in den 80ern erwachsen geworden sind? Sicherheit. Eine abgesicherte finanzielle und berufliche Existenz.“

Freitag, 12. Januar 2007

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55: Kaspar

Kaspar ist heute morgen im Bett geblieben. Er liegt auf dem Rücken und starrt an die Decke. Ein Blick zur Seite, auf die Anzeige des Radioweckers, sagt ihm, dass es nach 11 ist. Aber sein Chef erwartet ihn heute noch nicht wieder zur Arbeit. Also kann er liegen bleiben. Es gibt auch keinen guten Grund aufzustehen. Mit den Füßen den kalten Laminatboden zu berühren. Sich die Zähne zu putzen und das Gesicht zu waschen. Kaffee zu trinken und im Schrank nach Toast zu suchen. Die beiden Tageszeitungen zu lesen, die er abonniert. Manchmal lohnt es sich einfach nicht, all das in Angriff zu nehmen. Diese Tage werden häufiger. Durch das geschlossene Fenster dringen gedämpfte Geräusche, von vorbeifahrenden Wagen, manchmal ein schwacher Ruf. Kaspar wohnt an einer der Hauptverkehrsstraßen in Altenburg. Er überlegt, aus welchem Grund er diese Wohnung damals ausgewählt hatte und es fällt ihm nichts ein. Es könnte die erste Wohnung gewesen sein, die er sich angesehen hatte. Deren Miete er bezahlen konnte und die ein separates Zimmer aufwies. Für seine Forschungen. Sein Mund kräuselt sich verächtlich. Seine Forschungen. So ein Schwachsinn. Alles total sinnlos. Seine Datenbank, die er in jahrelanger Arbeit aufgebaut hat, in die er alle terroristischen Gruppierungen und deren Mitglieder eingetragen hatte, jedenfalls die, von denen er Kenntnis erlangt hatte. Außerdem enthält die Datenbank Einträge über Terroranschläge, samt Anzahl der Opfer. Die Informationen hatte er anfangs aus Zeitungen, aus allen Zeitungen, die er bekommen und die er lesen konnte. Später kam das Internet dazu, eine wahre Fundgrube. Er hatte bereits darüber nachgedacht, ob er die Datenbank ins Netz stellen sollte, offen für Einträge, eine Art Terror-Wikipedia. Aber nicht nur Überlegungen zum Datenschutz hatten ihn davon abgehalten, auch der Gedanke, dass er etwas loslassen würde, das bisher ihm ganz allein gehört. Was ihn zu dem Gedanken führte, warum er das alles überhaupt tut, die pausenlose Beschäftigung mit Theorien über Terrorismus, mit psychologischen Profilen, mit Tathergängen, mit Waffengattungen, mit Biographien. War es wirklich etwas anderes als ein Spleen, oder schlimmer noch, eine Sucht? Was sucht er? Hofft er überhaupt, irgendetwas zu finden? Längst ist seine Mutter in den Hintergrund getreten, ist zu einem Detail in der Weltgeschichte des Terrors geworden. Sie war der Auslöser und die Rechtfertigung. Auch das was ihn davon abhält, endlich ein neues Leben zu beginnen? Fühlt er sich dazu verpflichtet weiterzumachen, auf eine andere Art und Weise das zu leben, woran sie gescheitert ist? Er rollt sich auf die Seite und zieht die Knie an den Oberkörper, wie ein kleiner Junge. Es ist Wahnsinn. Er hat sich von ihr in etwas hineinziehen lassen, das sein ganzes Leben zerstört. Er ist jetzt 36, er könnte verheiratet sein, Kinder haben, ein Haus, einen verantwortungsvollen Posten. Freunde. Stattdessen haust er in dieser Wohnung, zusammen mit den Geistern der toten Terroristen und ihrer Opfer, umgeben von den Bildern zerstörter Gebäude und zerbombter Autos. Dazwischen schweben die zerstörerischen Ziele von Menschen, die von etwas getrieben werden, das er nie verstehen wird. Niemals wird er seine Mutter verstehen. Eine Weile denkt er gar nichts, spürt nur mit geschlossenen Augen der Leere in ihm nach. Ein Ergebnis zumindest hatte seine Beschäftigung: das Leben war für ihn zu einer fragwürdigen Angelegenheit geworden. Zu einem Chaos sich widersprechender Werte und Gründe, zu einem Wirbel der Sinnlosigkeit und der Gewalt, dessen einzige Regelmäßigkeit darin bestand, das zu vernichten, das sich gerade zu etablieren scheint. Dabei hätte auch anders kommen können, die Beschäftigung mit dem Terror hätte auch klare Verhältnisse in seinem Leben schaffen können. Er hätte sich für eine Seite entscheiden können. Wie dieser Schwarz es getan hatte, oder diese verrückte Kommissarin. Oder wie seine Mutter, Brigitte Dahlem und Hans-Joachim Burg. Stattdessen fühlt er sich leer und ausgelaugt. Erschöpft zieht Kaspar sich die Decke über den Kopf. Er würde einfach den ganzen Tag im Bett bleiben.

Montag, 8. Januar 2007

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54: Konstruktionen

Ein amüsiertes Lächeln erscheint auf Brigitte Dahlems Gesicht. „Gehen wir ein Stück,“ sagt sie. Eine Weile laufen sie schweigend nebeneinander her und Alena weiß nicht, wie sie anfangen soll. Dann beginnt sie über Kaspar zu sprechen. „Wir haben uns in einem Seminar kennen gelernt, das an der Universität Altenburg stattfand. Vor ca. fünf Jahren. Es ging um Terrorismus. Was sonst.“ Sie sieht vorsichtig zu der hageren Frau, die mit festen Schritten neben ihr geht. Brigitte Dahlems Blick ist in die Ferne gerichtet, ihr Gesicht verrät keine Emotion. Aber sie hört zu. „Er ist mir aufgefallen, weil er sehr spezielle Fragen gestellt hat. Es hat sich schnell herausgestellt, dass er in bestimmten Punkten mehr wusste als der Seminarleiter. Leute wie er sind auf solchen Veranstaltungen nicht besonders beliebt.“ Ein leichter Wind kommt auf und Alena verschränkt die Arme vor der Brust. Der Sommer ist schon fast vorbei. „Ich habe ihn gefragt warum er sich so für dieses Feld interessiert und er hatte eine ganz konkrete Antwort. Er sagte, eine nahe Verwandte von ihm sei Terroristin gewesen. Erst später habe ich erfahren, dass es sich um seine Mutter handelte.“

Der Bürgersteig ist leer, nur vereinzelt fährt ein Wagen vorbei, die typischen Kennzeichen einer Schlafvorstadt. Immerhin scheint die Mehrzahl der Mieter einen Job zu haben, fährt es Alena durch den Kopf. Zurück zu Kaspar. „Ich fand es schon immer faszinierend, wenn Menschen sich für etwas engagieren. Ihr ganzes Interesse auf einen Bereich konzentrieren. In etwas total aufgehen. Und ich frage mich dann, warum sie das tun. Welche Gründe sie dafür haben. Es ist mir eher egal, ob diese Gründe gerechtfertigt sind oder ich sie nachvollziehen kann.“ Alena kramt in ihrem Gedächtnis nach einem Beispiel. „Ich kenne jemanden, der sammelt Bücher über Vulkane. Er weiß nicht nur alle physikalischen Einzelheiten über Vulkane, sondern versucht auch die sich wandelnde Vorstellung von Vulkanen zu rekonstruieren. Für mich macht das wenig Sinn, aber das liegt nicht daran, dass es besonders irrational ist. Es gibt viele Sachen, die sinnloser sind. Ich kann es nur nicht nachvollziehen, aber ich denke darüber nach, warum es gerade Vulkane sind, die ihn so fesseln. Warum keine schwarzen Löcher oder tektonische Verschiebungen?“ Sie macht eine Pause, weil sie es nicht gewohnt ist, ein Gespräch ganz allein zu führen.

„Bei Kasper scheint der Beweggrund für seine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Terrorismus so einleuchtend. Seine Mutter, die er nie kennen gelernt hat. Die er nun in diesem Wust von historischen, sozialen und politischen Fakten sucht.“ Sie riskiert einen weiteren Blick auf Brigitte Dahlem. Keine Reaktion, aber ein Anflug von Aufmerksamkeit in ihrem Gesicht. Gut. „Es kam mir seltsam vor, dass er anscheinend versuchte, ein Individuum aus abstrakten Daten zu rekonstruieren. Ich zog einen Schluss: Seine Mutter war für ihn nichts anderes als diese Fakten. Er identifizierte sie mit dem soziologischen Mittelwert aus Motiven, sich der RAF anzuschließen. Mit dem psychologischen Profil des Typs Extremist. Mit den politischen Zielen, die in den Flugblättern und Artikeln veröffentlicht wurden.“ Alena beobachtet eine Plastiktüte, die vom Wind hin und her getrieben wird. „Vielleicht liege ich mit diesen Spekulationen falsch, aber wenn ich recht habe, könnte es noch weiteres Ergebnis seines Rekonstruktionsversuchs geben: er findet nicht die individuelle Persönlichkeit seiner Mutter sondern er entdeckt das Bild, dass sie von sich selbst gezeichnet hat. Das Bild, das für die Öffentlichkeit bestimmt war und das sie nach und nach adaptierte. Wie eine Schauspielerin, die in ihre eigene Rolle hineinwächst.“

Jetzt fühlt sie Brigittes Augen auf sich und dreht vorsichtig ihren Kopf in ihre Richtung. „Was wollen Sie damit sagen? Ich weiß nicht, ob ich verstehen, was Sie meinen.“ Alena sieht sie ernst an. „Niemand kann wissen, was jemand anderes meint. Ich kann nur aufgrund Ihrer Aussagen darauf schließen, was Sie glauben. Oder aufgrund Ihrer Handlungen. Und manchmal wissen wir selbst nicht mehr, was wir eigentlich wollten, welche Gründe wir für etwas hatten oder welche Ziele wir erreichen wollten. Dann müssen wir aus unseren eigenen Aussagen und Aktionen auf unsere Beweggründe schließen. Wir konstruieren im Nachhinein einen Sinn, der uns vollkommen plausibel erscheint und den wir als Motiv für unser Handeln akzeptieren. So etwas Ähnliches könnte Kaspars Mutter getan haben. Und wahrscheinlich ist das das einzige, was für Kaspar von ihr geblieben ist. Ein Bild. Eine Rolle.“ Alena wirft Brigitte Dahlem einen schüchternen Blick zu. „Sie haben Marianne Wagenbach gekannt. Sie sind die Einzige, die dieses Bild verändern kann. Sie können Kaspar einen Menschen beschreiben, jemanden, der diese Hülle aus Statistik und Geschichte sprengt.“ Brigitte Dahlem bleibt lange still, aber Alena beobachtet aus dem Augenwinkel, wie ihr Kiefer mahlt. Dann sieht Alena in die ernsten grünen Augen der Frau. „Vielleicht ist es besser für Kaspar Wagenbach, wenn ich dieses wissenschaftliche Konstrukt von seiner Mutter intakt lasse.“

Mittwoch, 3. Januar 2007

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53: ...die sich trennen

Oberdorf läuft nervös durch das Büro, während Pia mit übergeschlagenen Beinen in dem Besucherstuhl vor dem riesigen Schreibtisch sitzt und die aufgeräumte Platte betrachtet. „Sie bearbeiten den Fall jetzt über eine Woche. Irgendetwas müssen Sie doch haben. Außer einer zweiten Leiche.“ Pia versucht, sein eindringliches Starren zu ignorieren, was ihr schwer fällt. „Wir suchen eine Person namens Harald,“ beginnt sie versuchsweise. „Schwarz hatte mit diesem Harald Kontakt und bekam von ihm Informationen.“ Oberdorf ist offensichtlich nicht zufrieden. „Und,“ tönt seine Stimme unter herabgesenkten breiten Augenbrauen hervor. „Unter anderem gab Harald den Aufenthaltsort von Burg mit Freiburg an, was sich später als korrekt herausstellte.“ Sie zögert kurz, ob sie die Karte ausspielen soll, die Oberdorf garantiert davon ablenkt, sie zur Schnecke zu machen. Oder es zumindest immer wieder zu versuchen. Wie penetrant. Langsam steht sie auf, bis sie knapp über Oberdorfs fleischige Stirn gucken kann. Widerwillig hebt der seinen Blick, als sie so selbstbewusst, als handele es sich nicht um die wildeste Spekulation seit der Behauptung von der Existenz Atlantis, erklärt: „Außerdem erfuhr Schwarz von ihm, dass Robert Koch sich in Altenburg aufhält.“ Sie lächelt, als Oberdorf verblüfft eine Schritt zurück tritt und sie mit aufgerissenen Augen ansieht. „Robert Koch, der aus der DDR verschwunden ist, soll nun in Altenburg leben?“ Pia zuckt mit den Schultern und verschränkt die Arme vor der Brust. „Wir versuchen, Harald zu finden, um ihn auszuquetschen, aber bisher gibt es wenig Anhaltspunkte.“ Wenig hört sich immer noch besser an als keine, denkt Pia. „Natürlich versuchen wir auch, Robert Koch zu finden, aber das dürfte fast noch schwerer sein. Schließlich ist er dem Stasi und dem Verfassungsschutz bisher erfolgreich durch die Lappen gegangen.“ Ihre Augen sagen, dass diese Anfängerinstitutionen kein Maßstab für sie sind, aber als kleiner Dämpfer macht sich der Hinweis ganz gut. „Harald,“ murmelt Oberdorf. Und noch einmal: „Harald.“ Dann lässt er sich auf den Besucherstuhl sinken und starrt brütend aus dem Fenster. „Ich werde meine Kontakte spielen lassen. Vielleicht kennt jemand von der alten Truppe diesen Harald.“ Pia verzichtet darauf nach den Mitgliedern der „alten Truppe“ zu fragen, weil sie für diese Informationszirkel auf Kumpelbasis, von ihr Seilschaften genannt, nichts übrig hat. „Gut,“ meint sie nur, wie jemand, der erfolgreich eine Aufgabe delegiert hat. „In der Zwischenzeit kümmere ich mich weiter um diesen Kaspar Wagenbach.“ – „Ist er der Morde verdächtigt?“ Pia dreht sich zum Fenster und fixiert einen Punkt in weiter Ferne. „Verdächtig ist er auf jeden Fall. Inwieweit er in die Morde verwickelt ist, muss noch geklärt werden. Darüber hinaus scheint er Informationen zu haben, die er nicht mit uns teilen möchte.“ Sie wendet sich wieder Oberdorf zu, und geht dann langsam aus seinem Büro. „Allerdings bin ich zuversichtlich, dass er diesbezüglich seine Zurückhaltung aufgeben wird.“

Alena wartet vor der zerkratzten Milchglastür des Mehrfamilienhauses am Rand von Weißbach. Als Reaktion auf ihr Klingeln war die verzerrte Stimme von Brigitte Dahlem aus der Sprechanlage gekommen: „Wer ist da.“ Nachdem Alena ihren Namen genannt hatte, knisterte es einen Moment lang, bevor ein „Was wollen Sie“ aus dem Lautsprecher rauschte. „Ich will mit Ihnen über die Morde sprechen. Und über Kaspar. Ich glaube, er ist in Schwierigkeiten.“ Das Knistern hatte daraufhin einen verblüfften Beiklang bekommen und Alena gratulierte sich stillschweigend dazu, sich für die totale Offenheit entschieden zu haben, als die Verbindung mit einem „Ich komme runter.“ beendet wurde. Sie tritt einen Schritt zurück, als sich die Tür öffnet und Brigitte Dahlem vor ihr steht. Im verwaschenen kurzärmligen T-Shirt über ausgeblichener schwarzer Jeans wirkt sie wie ein verblasstes Pendant zu der in tiefes Schwarz gekleideten Alena. Misstrauisch steigt Brigittes Blick von den schwarzen Ledersandalen über die schwarze Cordhose hinauf zum gleichfarbenen Baumwollpulli bis zu Alenas ungebräuntem Gesicht, das von dunklen Locken umrahmt ist. „Warum kommen Sie zu mir? Was geht es mich an, wenn Kaspar Wagenbach in Schwierigkeiten ist?“ Alena bewegt leicht ihren Kopf. „Nichts. Es geht Sie überhaupt nichts an. Wahrscheinlich ist Ihnen auch egal, wer Hans Joachim Burg getötet hat.“ Sie sieht direkt in die grau-grünen Augen der Frau. „Ich kann Ihnen auch keinen überzeugenden Grund nennen, aus dem Sie mir helfen sollten.“ Sie zieht die Augenbrauen nach oben. „Helfen Sie mir trotzdem. Ich brauche Informationen über Burg und Koch. Und über Marianne Wagenbach.“

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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