Dienstag, 26. Dezember 2006

sternkleinsternkleinsternklein

49: Kaspars Geschichte

Kaspar bleibt stehen und dreht sich zu Pia um. Er steht nun mit dem Rücken zum Fenster und sein Gesicht liegt im Schatten als er antwortet: „Ich bin in einem Kinderladen aufgewachsen. Ich bin in Berlin geboren und meine Mutter hat während der Schwangerschaft in einer Kommune gelebt.“ Kaspar leiert die Fakten herunter, als wenn er sie schon oft genug erzählt hätte. „Nachdem ich geboren bin, blieb sie noch eine Zeitlang in der Kommune, bis sie dann mit Hoffmann nach Frankfurt gegangen ist. Das muss Anfang 75 gewesen sein. Hoffmann hatte ebenfalls in der Kommune gelebt, ich weiß allerdings nicht, ob sie sich dort kennen gelernt haben, oder ob sie gemeinsam zur Wohngemeinschaft gestoßen sind. Ich weiß auch nicht, mit wem sie damals noch zusammen gewohnt haben.“ Sein Kopf ist in Richtung Pia gedreht, aber sein Blick geht über sie hinaus, durch die Wohnzimmerwand hindurch ins Unendliche. „Ich bin 1970 geboren, da war meine Mutter 18 Jahre alt. Als sie nach Frankfurt ging, war ich fast fünf, aber ich kann mich trotzdem nicht an sie erinnern. Ich muss ständig in diesem Kinderladen gewesen sein.“ Ein bitterer Unterton wird unüberhörbar. „In den frühen Jahren nach 68 war ein Ziel der Kinderläden die sogenannte Fixierung der Kleinkinder an die Eltern abzubauen. Kinder sollten in einer Art Kinderkollektiv aufwachsen und sich allein auf dieses Kollektiv orientieren, ohne jede Bindung an die Eltern. Die Kommunarden verstanden den Kinderladen als Gegenentwurf zur bürgerlichen, faschistischen Kleinfamilie.“ Ein zynisches Grinsen wird auf seinem Gesicht sichtbar, das sofort wieder verschwindet. Pia und Alena hören fasziniert zu, als Kaspar nüchtern weiter berichtet: „Während der ganzen Zeit, in der meine Mutter in Frankfurt Terroristin gespielt hat, war ich in diesem Kinderladen und in der Kommune, aus der ständig Leute ein- und auszogen. Als Marianne 1978 verschwunden ist, hat sich wohl irgendwer aus der Kommune beim Jugendamt gemeldet und daraufhin hat man mich in ein städtisches Heim in Berlin gebracht.“ Er zuckt mit den Schultern. „Das wars. Ich hatte keine Ahnung, was mit meiner Mutter war. Keine Ahnung, dass sie aufgrund terroristischer Aktivitäten gesucht wurde, keine Ahnung, wohin sie verschwunden war, ob sie noch lebte. Die Erzieher im Heim klärten mich nicht auf, obwohl sie sehr gut wussten, wer meine Mutter war. Aber ich hatte schon das Gefühl, dass sie mich manchmal misstrauisch beobachteten.“ Wieder das zynische Grinsen. „Einer der Erzieher hatte offensichtlich Erbarmen mit mir und als ich 15 war, hat er mir die ganze Geschichte erzählt. Die RAF, der versuchte Anschlag, die Flucht in die DDR.“ Kaspars Bericht bricht kurzzeitig ab und Alena weiß, dass er diesen Moment gerade erneut durchlebt. Sie fragt sich, was für Gefühle damals in ihm getobt haben und stößt sofort an ihre emotionalen Grenzen. Was denkt man, wenn man erfährt dass seine Mutter eine gesuchte Terroristin ist? Was empfindet man bei dem Gedanken, dass sie den Tod von Menschen in Kauf genommen hat? Dass sie Ziele verfolgte, die damals an Extremität kaum zu überbieten waren? Hilflos zuckt sie innerlich mit den Schultern. Sie kann es sich nicht vorstellen. Unmöglich. Stockend nimmt Kaspar den Faden wieder auf. „1991 hat jemand vom Verfassungsschutz Kontakt mit mir aufgenommen und mir erzählt, dass Marianne Wagenbach Anfang 1990 in der DDR, in der Nähe von Dresden, Selbstmord mit Schlaftabletten verübt hat. Sie hatte zwar keinen Abschiedbrief hinterlassen, aber der hinzugezogene Arzt hatte Suizid fraglos als Todesursache festgestellt. Der Verfassungsschutz versuchte nach dem Fall der Mauer, die ganzen Terroristen ausfindig zu machen, von denen man vermutete oder wusste, dass sie im Osten Zuflucht gefunden hatten. Die Ermittlungen des Verfassungsschutzes bestätigten die Diagnose des Arztes und es gab wohl auch keinen Anlass, etwas anderes als Selbstmord anzunehmen. Sie hatte schlicht Angst, in den Knast zu kommen.“ Überrascht hört Alena so etwas wie Verachtung aus seiner Stimme heraus. Oder bildet sie sich das ein?“ Sie schaut zu Pia hinüber, aber mittlerweile ist es im Raum so dämmrig geworden, dass sie deren Gesichtszüge ebenfalls nicht mehr erkennen kann. Plötzlich hat Alena den Eindruck von drei Verlorenen, die in einem dunklen Wald versuchen, sich allein über die Stimme zu finden. Sie schüttelt sich unwillkürlich, dieses Schaudern, das einen manchmal überfällt, und steht auf, um den Lichtschalter zu betätigen. Sofort verdrängt das warmes Licht der Deckenleuchte die Dämmerung an den Rand des Raums. Pia blinzelt kurz, dann fragt sie Kaspar: „Wissen Sie, wer Ihr Vater ist?“

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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