44: Konfrontation

Einen Moment lang denkt Brigitte Dahlem über diese Frage nach. Dann nickt sie. Pia wartet, aber eine sprachliche Erläuterung der Geste bleibt aus. „Hamburg,“ schlägt sie vor. Dahlem deutet ein kurzes Nicken an. „Freiburg,“ fährt Pia geduldig fort. Ein weiteres kurzes Nicken. „Was hat Burg wohl in Freiburg gemacht,“ fragt sie im Konversationston. „Gearbeitet,“ sagt Brigitte Dahlem. Das Bohren beginnt Pia sichtlich zu nerven. „Kommen Sie, können wir vielleicht in ganzen Sätzen reden? Wir wissen, dass Burg in dem Altenheim gearbeitet hat, in dem seine Mutter lebt. Warum hat er dort unter falschem Namen einen Arbeitsvertrag unterschrieben?“ Überraschung zeichnet sich auf dem angespannten Gesicht der Dahlem ab. „Hat er? Keine Ahnung. Er hat mir erzählt, dass er als Pfleger arbeitet. Ich wusste weder, dass seine Mutter in dem Heim ist, noch dass er einen falschen Namen benutzte.“ Pia beobachtet, wie sich ihr Blick nach innen wendet, als sie diese Information überdenkt. „Wann hat Burg Sie kontaktiert?“ Brigitte Dahlem konzentriert ihre Aufmerksamkeit zurück auf Pia. Sie antwortet nicht sofort und formuliert ihre Aussage vorsichtig. „Vor ungefähr zwei Monaten.“ – „Was wollte er? Aus welchem Grund hat er sich bei Ihnen gemeldet?“ Wieder eine Pause. „Er hatte keinen bestimmten Grund. Er stand vor meiner Tür und wir haben uns unterhalten. Über die Zeit im Gefängnis. Was wir jetzt machen.“ Pia rollt mit den Augen. „Sicher. Wie nett, mal wieder Bekannte aus der guten alten Zeit zu treffen.“ Sie beugt sich vor und ihr Ton wird schärfer. „Warum ist Burg plötzlich vom Himmel gefallen, zwei Monate bevor Schwarz ermordet wird? Ist ihm ein Idee zu einer neuen Aktion gekommen, die er unbedingt mal mit Ihnen durchsprechen wollte? Haben Sie beide daraufhin geplant, Schwarz zu töten? Und gab es dann Probleme und Sie haben sich dazu entschlossen, Ihren alten Kommando-Kollegen loszuwerden?“

Brigitte Dahlem antwortet nicht. Ihr Gesichtsausdruck spiegelt eine gelangweilte Indifferenz, aber Pia kann die Anspannung in ihren Augen sehen. Sie setzt ein wissendes Lächeln auf. „Die ganzen Jahre im Knast, die aufgezwungene Zeit zum Nachdenken. Der Sinn einer Gefängnisstrafe besteht darin, dass man irgendwann zu dem Punkt kommt, an dem man einsieht, das man falsch gehandelt hat und sich daraufhin ändert, dass man ein besserer Mensch wird. Hat das bei Ihnen funktioniert?“ Das Lächeln verschwindet, Pias Augen werden kalt, ihr Blick abschätzig. „Und, sind Sie in die moralische Falle getappt, wie die kleinen Diebe und reuigen Mörder, die mit Ihnen eingesessen haben? Haben Sie Ihre revolutionären Ziele gegen eine gutbürgerliche Sackgasse eingetauscht? Den bewaffneten Terror zugunsten des Konsumterrors aufgegeben?“ Wachsamkeit in Pias Gesicht. „Sie nicht. Sie haben sich doch durch das System nicht korrumpieren lassen. Sie waren sich bewusst, was im eigenen Kopf passiert, wenn man lange genug allein ist, abgeschlossen von der Außenwelt, von Information, vom Austausch mit Gleichgesinnten. Sie wussten, dass man nach einer gewissen Zeit anfängt, alles in Frage zu stellen, alles was man vorher für unbestreitbar wahr und richtig gehalten hat. Und Sie wussten, dass man Sie genau dazu in diese Fünf-Quadratmeter-Zelle gesteckt hat. Darum haben Sie Widerstand geleistet. Sie standen mit genau den Zielen und Idealen nach der Entlassung hinter dem Gefängnistor, mit denen Sie zwanzig Jahre vorher hineinspaziert sind.“ Sie lehnt sich zurück und inspiziert ihre Fingernägel, runzelt dann die Stirn, weil diese dringend einer neuen Maniküre bedürfen.

„Zweiundzwanzig Jahre,“ sagt Brigitte Dahlem. Ihre Stimme ist fest, aber als Pia wieder aufsieht, entdeckt sie einen Ausdruck im Gesicht der Frau, den sie nicht deuten kann. Schmerz? Wut? Hass? Oder einfach nur Müdigkeit? „War es nicht wie nach einem langen Schlaf,“ fragt Pia sanft. „Sie sind nach zweiundzwanzig Jahren aufgewacht und dachten, es geht weiter. Sie waren ausgeruht und voller Tatendrang. Aber niemand war mehr da. Es war vorbei, Sie hatten es verschlafen. Und plötzlich steht Burg vor Ihrer Tür und Sie waren bereit. Bereit, den Kampf wieder aufzunehmen. Und vor allem bereit, allen zu zeigen, dass der Knast Sie nicht kaputt gemacht hat. Sie nicht gebrochen hat. Dass die ganze versuchte Gehirnwäsche ohne Wirkung geblieben ist. Dass Sie niemals aufgeben werden.“ Die Worte fließen ruhig und einlullend aus Pias Mund, während sie versucht, tief in die Augen von Brigitte Dahlem einzudringen, ihre Gedanken und Gefühle zu lesen. Und sie spürt etwas, das sie nicht fassen kann, eine winzige Bewegung, die sofort wieder verschwindet. Brigitte Dahlem schließt kurz die Augen, als wollte sie Pia abwehren. Als sie sie wieder öffnet, ist nichts als Verachtung in ihrem Gesicht und ihren Augen.

„Glauben Sie mir, Ihre Kollegen vom BKA haben schon bessere Psychotricks an mir ausprobiert. Man merkt sofort, dass Sie ein paar Stufen tiefer auf der Leiter stehen. Dass Sie ein Provinzbulle sind.“ Riesel beobachtet Pia nervös, aber sieht nur ein amüsiertes Grinsen, das nicht bemüht wirkt. Pia macht eine lässige Handbewegung. „Ja, die Provinz. Das schöne, ruhige Altenburg. Irgendwas muss Sie ja auch sehr angezogen haben, da Sie sich entschlossen haben, Ihren Lebensabend hier zu verbringen. Die malerische Altstadt? Die berühmte Universität?“ Ihre Augen leuchten auf. „Oder ein Ex-BKA-Bulle?“ Brigitte Dahlem lächelt. „Fick Dich,“ sagt sie, völlig ruhig. Pia zieht die Augenbrauen nach oben. Dann zuckt sie mit den Schultern und sagt: „Ich fürcht, wir haben Ihr ziviles Potential zu sehr bemüht. Gut, eigentlich sind wir auch am Ende des Gesprächs.“ Als wenn ihr noch etwas einfallen würde, bemerkt sie dann beiläufig: „Ach, sagen Sie mir doch noch, was Sie am Mittwoch gemacht haben.“ Brigitte Dahlem denkt augenscheinlich darüber nach, ob sie diese Frage noch beantworten soll und verzieht genervt die Mundwinkel. Dann erklärt sie: „Ich habe mich mit einem Historiker getroffen. Wir haben von 10 bis 12 Uhr in einem Cafe in Altenburg gesessen. Zusammen mit seiner Assistentin.“ Sie legt den Kopf schief. „Ist am Mittwoch noch jemand erschossen worden, den ich kenne?“ Pia schüttelt bedauernd den Kopf. Dann fragt sie mit gespieltem Interesse: „Ein Historiker? Was wird das, ein Buch über die RAF?“ Brigitte Dahlem macht keine Anstalt, das Projekt zu erklären, darum beschränkt sich Pia auf eine letzte Frage: „Ich brauche den Namen des Historikers und den seiner Assistentin.“ Sie kann sich auf keinen Fall die Gelegenheit entgehen lassen, Alenas Kontaktperson näher zu beleuchten, auch wenn der das sicher nicht gefallen würde. Aber sie muss ja nicht erfahren, denkt Pia. Brigitte Wagenbach sieht sie misstrauisch an, scheitert aber an Pias unschuldigem Gesichtsausdruck. „Gut, kann ich gehen, wenn Sie den Namen haben?“ Als Pia nickt, steht sie auf und wendet sich zur Tür. Im Hinausgehen erklärt sie: „Der Historiker heißt Kaspar Wagenbach, seine Mitarbeiterin ist eine Frau Brandenburg.“ Die Tür schließt sich hinter ihr.

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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