

Die Bildschirmuhr von Pias Rechner zeigt 20.00. Müde reibt sie sich die Augen und starrt dann erneut auf die Unterlagen, die aus Schwarz´ Schließfach stammen. Zum wiederholten Mal hat sie die Notizen durchgeblättert, immer auf der Suche nach Anhaltspunkten auf den Briefeschreiber und Mörder. Sie stoppt den Gedanken. Handelt es sich dabei wirklich um eine Person? Pia massiert ihre Schläfe. Wenn der Schreiber auch der Mörder war, warum hat er Schwarz dann plötzlich an diesem Freitag Abend ermordet, nachdem er sich monatelang damit begnügte, ihn lediglich mit Briefen in den Wahnsinn zu treiben? Ist Schwarz ihm auf die Spur gekommen und hat ihm gedroht, ihn der Polizei auszuliefern? Deutlich wird aus den handbeschriebenen Blättern, dass Schwarz die Spur des Schreibers verfolgte, aber Pia findet keinen Hinweis darauf, dass er tatsächlich den Aufenthaltsort von Dahlem, Burg und Koch herausgefunden hatte. Hat sie etwas übersehen? Als die Buchstaben vor ihren Augen verschwimmen, schließt sie ihre Lider, aber in ihrem Kopf arbeitet es weiter. Hätte Schwarz den Schreiber wirklich den Kollegen ausgeliefert? Wenn er das vorgehabt hätte, warum hat er sich nicht bereits früher an die Kollegen gewandt? Warum hat er ganz allein die Ermittlungen aufgenommen? Mit Hilfe der früheren Kontakten wäre es ein leichtes gewesen, die Informationen zu beschaffen, die er brauchte, um Dahlem und Co. zu finden. Pia schlägt mit der flachen Hand auf den Schreibtisch und öffnet die Augen. „Du hattest etwas zu verbergen, stimmt´s? Es ging Dir nicht darum, den einsamen Wolf zu spielen. Du konntest niemanden um Hilfe bitten,“ murmelt sie mit zusammengebissenen Zähnen. Abrupt steht sie auf und läuft aus dem Zimmer. An Oberdorfs Tür bleibt sie stehen und klopft kurz. Die Vorzimmersekretärin ist bereits nach Hause gegangen. Auf das überraschte „Herein.“ öffnet sie die Tür, geht mit langen Schritten in den Raum und lässt sich in den Besuchersessel fallen. „Kennen Sie den Grund, aus dem Schwarz sich entschieden hat, die alten Kollegen nicht über die Briefe zu informieren?“ Oberdorf sieht sie an und richtet sich dann langsam auf. „Sie glauben, dass Schwarz einen bestimmten Grund hatte? Ich vermute eher, dass er es noch einmal wissen wollte. Er wollte auf eigene Faust den Absender ermitteln und dann den Kollegen auf dem Silbertablett präsentieren.“ Er zuckt müde mit den Schultern. „Vermutlich hat er sich zu keiner Zeit wirklich bedroht gefühlt. Es war vielleicht so etwas wie eine Freizeitbeschäftigung. Er hat den aktiven Dienst vermisst.“ Oberdorf seufzt. Pia hat sich seine Erläuterungen stirnrunzelnd angehört und ihr vehementes Kopfschütteln zeigt ihm deutlich, dass sie nicht überzeugt ist. „Er soll sich nicht bedroht gefühlt haben? Er hat sein halbes Leben lang Terroristen verfolgt und wusste wie gefährlich sie werden konnten. Er kannte die Mentalität der RAF-Mitglieder. Von einem Polizisten mit seiner Erfahrung würde ich eher erwarten, dass er die Sache ernst genommen hat und dass ihm daran gelegen war, den Schreiber so bald als möglich zu finden. Das wäre aber nur mit Hilfe der Informationsbeschaffung durch die Kollegen möglich gewesen. Ein Blick in die hiesigen Meldedaten, und er hätte zumindest schon mal Brigitte Dahlem gefunden.“ Oberdorf schließt kurz die Augen. „Ich bin mir sicher, das er Dahlem auch ohne die Hilfe der hiesigen Kollegen sehr schnell gefunden hat. Sie ist gemeldet. Er hat wahrscheinlich einen seiner alten Kontakte beim BKA angerufen.“ Die kleinen runden Augen öffnen sich. „Haben Sie die Dahlem gefragt, ob Schwarz sich bei ihr gemeldet hat?“ Pia beißt sich auf die Lippen. „Sie hat sich geweigert, überhaupt mit uns über den Fall zu reden. Ich bin nicht mehr dazu gekommen.“ Sie macht eine kurze Pause. „Ich versuche jetzt, auf andere Art und Weise an die Informationen zu kommen.“ Schwarz sieht sie prüfend an, fragt aber nicht weiter. Das Abkommen zwischen ihnen funktioniert. „Aber ich glaube trotzdem, dass da noch etwas anderes ist. Er wollte die Kollegen nicht einschalten. Es ging ihm dabei nicht um Ehre oder Ehrgeiz, sondern um irgendetwas anderes.“ Ihre Augen werden schmal. „Wenn ich weiter ermittle, dann werde ich eine Antwort auf diese Frage finden, das ist Ihnen doch klar, oder? Und vielleicht wird Ihnen diese Antwort nicht unbedingt gefallen.“ Mit einem Kopfschütteln wehrt Oberdorf die Frage an. „Finden Sie den Mörder von Schwarz. Alles andere sehen wir dann.“
Flannery Culp - 15. Nov, 21:50


Ich bitte die Pause zu entschuldigen, aber der Krimiblogger hatte Schreibpause, dem immer mal wieder aufkeimenden Wunsch nachgebend, das heimische Arbeitszimmer und die heimelige Tastatur zu verlassen, um einen Ausflug in die Realität zu machen, die zwar auch durch Wörter geprägt, aber nicht aus Buchstaben geformt ist. Wie man an obigem Satz unschwer erkennt, hänge ich noch tief im Jetlag, der mir weniger als fehlender bzw. hinterherreisender und noch nicht angekommener Schatten vorkommt, wie Gibson es seine Protagonistin Cayce in "Pattern Recognition" so einprägsam beschreiben lässt, sondern banal als dumpfes Gefühl totaler müder Blödheit.
Jedenfalls konnte ich die Stadt mit dem Loch (Zitat von Tomte, was nicht heißt, dass ich Tomte-Fan bin, aber dieser Ausdruck ist schon irgendwie treffend) nicht verlassen, ohne einen Blick auf den berühmten und berüchtigten und von mir schon lange vor der Idee zu diesem Krimi und unabhängig von etwaigem historischen Interesse gesehen zu haben wollenden Zyklus
Oktober 18, 1977 von Gerhard Richter zu werfen. Wenn das MoMA die Bilder nicht genommen hätte, könnten sie jetzt vielleicht bei uns im Wohnzimmer hängen. Schade irgendwie. Aber auch relativ unwahrscheinlich.
Ich bin jetzt leider momentan oder wohl eher auch überhaupt nicht in der Lage, dieses Kunstwerk in kriminalliterarischer, historischer oder philosophischer Weise zu würdigen, daher verzichte ich jetzt darauf (was natürlich nicht heißt, dass ich nicht später doch noch etwas nachschiebe...) und gehe ins Bett um die verlorene Zeit wieder einzuschlafen.
Flannery Culp - 14. Nov, 19:58
Brigitte Dahlem sieht ihn einen Moment regungslos an und zuckt dann mit den Schultern. „So war das jedenfalls. Keine große Sache. Man kommt mehr oder weniger zufällig zusammen, stellt fest, dass die Chemie stimmt und dann plant man ein Projekt.“ – „Wer war der Chef des Kommandos,“ fragt Alena und wird mit einem verächtlichen Blick bedacht. „Bei uns gibt es keine Hierarchie. Wer mitmacht, entscheidet mit.“ Alena lehnt sich interessiert nach vorn. „Sie reden im Präsens, aber ich dachte, dass es 1998 eine schriftliche Auflösungserklärung gegeben hat.“ Sie stützt sich mit den Ellenbogen auf den Tisch. „Gibt es die RAF noch?“ Jetzt werden kleine Wutfalten auf Dahlems Stirn sichtbar. Sie wendet sich wieder Kaspar zu. „Was soll das eigentlich? Schreibt sie wirklich an dem Buch mit, oder hat sie ganz andere Pläne?“ Kaspar wirft Alena einen undefinierbaren Blick zu. „Jetzt lass mal gut sein.“ Dann in Richtung Brigitte: „Sie ist immer so. Kritisch und bohrend. Das ist gut für das Buch, aber für die Mitwirkenden manchmal etwas anstrengend.“ Er bringt ein jungenhaftes Grinsen zustande. „Nerve ich Sie mit meinen Fragen,“ wirft Alena jetzt unschuldig ein. Sie weiß, dass sie den Bogen überspannt hat. „Tut mir leid. Ich halte mich zurück.“ Sie lächelt nicht und senkt die Augen auf ihre Notizen. Einen Moment lang spürt sie den Blick der Frau auf sich, dann entspannt sich die Situation wieder. „Wollen Sie sonst noch etwas wissen? Sonst reicht es mir nämlich für das erste Treffen.“ Kaspar nickt schnell. „Kein Problem. Darf ich Sie für das nächste Treffen anrufen?“ Brigitte Dahlem schiebt ihren Stuhl zurück und steht auf. „Ok,“ sagt sie und verlässt das Cafe ohne ein weiteres Wort.
Ein paar Minuten sitzen sich Alena und Kaspar wortlos gegenüber. Dann atmet Kaspar hörbar aus. „Komplizierte Situation.“ Er lehnt sich nach vorne. „Und du machst die Sache nicht gerade einfacher. Ich glaube es wäre besser, wenn Du mich demnächst reden lässt.“ Alena starrt an ihm vorbei auf die Gestalt von Brigitte Dahlem, die sich mit schnellen Schritten entfernt. „Du führst das Gespräch und ich werfe hin und wieder meine Fragen ein. Einverstanden?“ Kaspar richtet sich auf. „Es hat keinen Sinn sie zu vergraulen. Wenn sie sich bedrängt fühlt, bricht sie das Gespräch einfach ab und lehnt jedes weitere Treffen an. Sie ist immer am Zug.“ Langsam schüttelt Alena den Kopf. „Das würde ich nicht so sehen.“ Jetzt richtet sie ihren Blick direkt auf Kaspar. „Warum glaubst du, macht sie das hier? Doch nicht, um uns einen Gefallen zu tun.“ Sie fixiert ihn. „Wie du schon bei dem ersten Telefonat angedeutet hast, wir bieten ihr auch etwas, nämlich die Gelegenheit gehört zu werden.“ Alena schließt ihre Augen, sie spürt, dass sie müde wird. Es wird Zeit, dass sie wieder in die wohltuende Einsamkeit ihrer Wohnung zurückkehrt. „Sie ist seit einem Jahr aus dem Gefängnis und alles ist anders. Keine Gruppe, in deren Schoß sie zurück kann. Die RAF hat sich aufgelöst und die alten Mitstreiter sind tot oder verschollen oder weit weg. Brigitte Dahlem ist isoliert. Und sie ist allein mit ihren Gedanken. Sie fragt sich, ob es das wirklich wert war, ob das alles Sinn gemacht hat. Wo alles hin ist. Ob sich alles in Luft aufgelöst hat.“ Ohne die Augen zu öffnen murmelt sie weiter: „Wenn sie mit uns redet, hat sie das Gefühl, dass etwas davon geblieben ist, dass es noch irgendwie real ist.“ Das Stimmengewirr der vielen Menschen um sie herum erscheint ihr immer lauter; es dringt immer weiter in ihr Bewusstsein ein und stört den Gedankenfluss in ihrem Kopf. Sie öffnet die Augen einen winzigen Spalt wie jemand, der unter starker Migräne leidet. „Ich muss jetzt nach hause.“ Kaspar springt auf, er kennt diesen Zustand. „Ich bringe dich nach hause.“ Brüsk wehrt Alena ab, ihre soziale Toleranzgrenze ist überschritten. „Ich gehe lieber allein.“
Flannery Culp - 14. Nov, 19:50


Pia sitzt im Büro und denkt nach, als Riesel von seinem Ausflug zurückkehrt. „Wagenbach war nicht zu hause,“ teilt er mit. „Die Nachbarn sagen, er sei ein sehr ruhiger Typ, verlässt kaum die Wohnung. Sie glauben, dass er beruflich irgendwas mit dem Computer macht, aber keiner weiß etwas genaues, da er nicht mit seinen Nachbarn redet.“ Er setzt sich und beginnt, seinen Bericht zu schreiben, während er Pia weiter informiert. „Er scheint allein zu wohnen, auf dem Klingelschild steht nur sein Name und die Nachbarn sind alle der Meinung, dass er keine Freundin hat.“ Er grinst. „Es ist die Hölle, in einem Mietshaus mit lauter alten Tanten zu wohnen.“ Er unterbricht sein Getipse auf der Tastatur. „Seine direkte Nachbarin hat wohl schon mal eine Braunhaarige vor seiner Tür gesehen, aber die kommt laut ihrer Aussage nur sehr selten, zu selten für eine feste Freundin.“ – „Versuchen Sie es einfach später noch mal“, erwidert Pia zerstreut. „Vielleicht ist er auf der Arbeit.“ Dann tippt sie mit einem Bleistift auf die Schreibtischunterlage. „Haben Sie schon mal die Verwandten von diesem Koch gesucht?“ Riesels Kopf schnellt in ihre Richtung. „Sicher. Sein Vater ist ein hohes Tier, Banker. Hermann Koch wohnt und arbeitet in Frankfurt. Nachdem Robert Koch aus der DDR verschwunden ist, hat man vermutet, dass sein Vater ihm geholfen hat, aber es ist ihm nie etwas nachgewiesen worden. Papa Koch ist von Schwarz´ Männern rund um die Uhr beschattet worden. Wenn da was gelaufen ist, dann wahrscheinlich über andere Kanäle, ohne dass Papa sich die Hände schmutzig gemacht hat.“ Pia zieht ihre Stirn in Denkerfalten. „Wer hat denn damals die Beschattungen durchgeführt? Gibt es irgendwelche Protokolle oder Berichte?“ Riesel zuckt mit den Schultern. „Bestimmt. Wenn Sie möchten, versuche ich die Teile zu bekommen.“ Zufrieden registriert er das Nicken von Pia und wendet sich wieder seinem Bildschirm zu.
„Wie haben Sie die anderen kennen gelernt? Burg, Koch und Wagenbach,“ mischt sich Alena ein. Sie hat keine Lust mehr, stumm neben den beiden im Cafe zu sitzen. Brigitte Dahlem wirft ihr einen kurzen Blick zu. Es ist offensichtlich, dass Alenas Anwesenheit ihr nicht passt, aber sie entschließt sich dennoch, auf die Frage zu antworten. „Hajo war Anfang der Siebziger Pfleger in Heidelberg. Er ist dort mit Huber in Kontakt gekommen, der das SPK gegründet hat.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Irgendwann kam er nach Frankfurt, hat mit irgendwem Kontakt aufgenommen und ist so zu uns gestoßen.“ Alena macht eine mentale Notiz, um Kaspar später nach der Abkürzung SPK zu fragen, aber Kaspar kommt ihr zuvor. „Er war Mitglied beim Sozialistischen Patientenkollektiv?“ Dahlem nickt desinteressiert. „Ja, er war in einem von diesen Arbeitskreisen. Zum inneren Kreis, zu den Führungskadern, hat er nicht gehört.“ Sie sieht Alena jetzt direkt in die Augen. „In dem Arbeitskreis hat er gelernt, mit Sprengstoff umzugehen. Das war ziemlich praktisch.“ Unbeeindruckt fragt Alena weiter: „Und was war mit Koch?“ Brigitte Dahlem trinkt einen Schluck Wasser. „Koch hat in Frankfurt gewohnt, sein Vater war ein echter Bonze, so ein Bankerschwein. Bob hatte die Schnauze voll von dem ganzen Materialistenscheiß und darum ist er zu uns gekommen. Er hatte viele Freunde in Frankfurt und ist immer wieder an Knete gekommen. Bevor sein Vater die Konten gesperrt hat, haben wir da ziemlich abgeräumt.“ – „Koch war also eine Art Geldkassette,“ bemerkt Alena und Brigitte Dahlem widerspricht nicht. Kaspar meldet sich. „Bestand der Plan, mit Kochs Kontakten ähnlich zu verfahren, wie mit Susanne Albrecht?“ Alena erinnert sich, dass Susanne Albrecht den Zugang zu Jürgen Ponto ermöglicht hatte, der mit ihren Eltern gut befreundet war. Der Chef der Dresdner Bank wurde im Frühjahr 1977 bei einem missglückten Entführungsversuch erschossen. Brigitte Dahlem fixiert Kaspar misstrauisch. „Wieso wollen Sie das wissen? Ist doch jetzt egal, oder?“ Kaspar zuckt mit den Schultern. „War nur so ein Gedanke. Liegt ja nahe, oder?“ Dahlem antwortet nicht. „Und schließlich Wagenbach,“ fragt Alena weiter und registriert bewundernd, dass Kaspar äußerlich völlig locker bleibt. Sie hat mittlerweile die Ahnung, dass er ihr Beisein bei diesem Gespräch nicht mehr ganz so lästig findet; für sie ist es sehr viel einfacher, Brigitte Dahlem auf seine Mutter anzusprechen. „Wagenbach war Hoffmanns Freundin,“ erklärt Brigitte Dahlem ausweichend. Sie sieht Kaspar nicht an und auch Kaspar konzentriert sich auf einen Tisch in ihrer Nähe. „Wo kamen Hoffmann und Wagenbach her,“ bohrt Alena unerschütterlich. Eine wegwerfende Handbewegung seitens Brigitte Dahlem. „Aus Berlin. Sie haben da in einer WG zusammen gewohnt.“ Nun heftet sie ihren Blick auf Kaspar. „Aber das wissen Sie doch wahrscheinlich genauso gut wie ich.“ Kaspar schüttelt leicht den Kopf. Sein Gesichtsausdruck ist unergründlich. „Ich habe keine Ahnung. Die ersten Jahre meines Lebens habe ich anscheinend in einem Kinderladen in Berlin verbracht und später bin ich in ein Heim gekommen. Wie sie ihre Zeit verbracht hat, bevor sie nach Frankfurt gegangen ist und zur RAF stieß, entzieht sich meiner Kenntnis.
Flannery Culp - 4. Nov, 17:09


In einem Büro im historischen Institut sitzt Christopher auf einem ausgesessenen Sofa, vor sich, auf einem ausgedienten Sofatischchen, eine Tasse Kaffee. Ihm gegenüber hängt Professor Bergmann auf einem Ohrensessel, der schon bessere Tage gesehen hat. Christopher erinnert sich vage daran, dass Bergmann vor zwei Semestern an der Altenburger Uni eine Juniorprofessur erhalten hat, was aufgrund seines Alters kurzzeitig Schlagzeilen machte. Bergmann ist 28 Jahre alt und Christopher hat keine Übung im Umgang mit Wunderkindern. „Was verschafft mir die Ehre eines Besuchs des bekanntesten Vertreters des Instituts für Philosophie,“ grinst Bergmann jetzt und schlürft seinen Kaffee. Christopher lächelt gewinnend. „Abgesehen davon, dass wir uns noch gar nicht kennen gelernt haben, seitdem Sie hier tätig sind, und ich der Meinung bin, dass man die Kontakte zwischen den Instituten pflegen sollte, habe ich gehört, dass Sie, abgesehen von Ihrer unbestreitbaren Kompetenz in Deutscher Geschichte ab 1945, neuerdings einen Schwerpunkt in Sachen Terrorismus aus Deutschland setzen.“ Er nippt an dem viel zu starken Kaffee, für den Bergmann zu Christophers Bedauern keine Milch anbieten konnte. „Ich denke momentan selbst darüber nach, ob man das Phänomen Terrorismus mal aus philosophischer Perspektive angehen sollte. Aus diesem Grund wollte ich ein wenig Brainstorming mit Ihnen vornehmen. Vorausgesetzt, Sie haben ein wenig Zeit für mich.“ Bergmann setzt sich aufrecht. „Das ist ja hochinteressant,“ erklärt er aufgeregt und Christopher kann ein Grinsen nicht unterdrücken. „Ich finde es ist höchste Zeit, dass auch in dieser verstaubten Bude mal ein aktuelles Thema aufgegriffen wird. Und Terrorismus ist hochaktuell. Ich beschäftige mich nicht nur mit dem zeitgeschichtlichen Terrorismus in der BRD der 70er bis 90er Jahre, sondern greife natürlich auch ein wenig auf die aktuellen Geschehnisse aus – auch wenn das vielleicht nicht gerne von den Kollegen aus dem politischen Institut gesehen wird.“ Er rollt verständnislos mit den Augen. „Dieser verdammte Abgrenzungswahn geht mir echt auf die Nerven.“ Christopher lacht laut heraus. „Es ist fast schockierend, diese Einsicht von einem Kollegen zu hören, aber Sie haben natürlich recht. Überall wird die interdisziplinäre Forschung propagiert, aber an den wenigsten Instituten hat sie sich bisher durchgesetzt.“ Er schneidet eine Grimasse. „Und ich fürchte, Altenburg hat den Ehrgeiz, die letzte Bastion der Isolationsforschung zu werden.“ Bergmann reißt begeistert seine leere Kaffeetasse hoch. „Und ich dachte, ich wäre der einzige, dem das auf den Geist geht. Darauf trinke ich!“ Er langt nach der Warmhalte und Christopher legt schnell seine Hand über die Tasse, bevor er einen Nachschlag von dem Gebräu erhält. „Ich bin eher Teetrinker,“ erläutert er schnell angesichts Bergmanns fragendem Gesicht. Der zuckt wohlwollend mit den Schultern. „Typisch Philosophen, oder?“ Christopher lacht wieder. Er findet die Unbefangenheit des jungen Professors ausgesprochen erholsam. „Hin und wieder trinke ich auch Kaffee,“ gibt er zu, „aber dann mit etwas geringerer Kaffeepulver-Konzentration.“ Bergmann nickt fröhlich. „Wenn Sie das nächste mal vorbeikommen, stelle ich Ihnen heißes Wasser hin, zum Verdünnen.“ – „Sehr zuvorkommend,“ lächelt Christopher. „Aber sagen Sie einmal, in Bezug auf Deutschem Terrorismus beschäftigen Sie sich sicher auch mit der Roten Armee Fraktion?“ Bergmann hebt die Arme und lässt sie wieder fallen. „Klar. RAF, Bewegung 2. Juni, Revolutionäre Zellen und der ganze Kleinkram, der aber entweder schnell in der Versenkung verschwunden ist, oder in die beiden großen Organisationen aufgegangen ist.“ Er starrt Christopher erwartungsvoll an. „Ist die RAF ein philosophisches Thema? Ich hatte bisher eher den Eindruck, dass man die politischen Aussagen nicht zu genau hinterfragen sollte.“ – „Hatte die RAF denn überhaupt irgendein Programm? Etwas, das über die Schlagworte Antifaschismus und Antiimperialismus hinausgeht?“ Bergmann steht auf und geht zu seinem Rechner. „Ulrike Meinhof hat 1971 ein Papier verfasst, das
„Konzept Stadtguerilla“.
Es ist allerdings eher so eine Art Positionspapier. Ein Jahr später ist
„Stadtguerilla und Klassenkampf" erschienen. Ich drucke Ihnen die Sachen mal aus. Es ist nicht gerade Weltklassetheorie.“ Bergmann grinst wieder. „Aber für Philosophen ist wahrscheinlich vor allem der Ausspruch interessant: Ob es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist; ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln.“ Christopher simuliert Schmerzen. „Das ist starker Tobak. Aber gut, geben Sie mal her, ich kämpfe mich durch.“ Er steht auf und schüttelt Bergmann die Hand. „Danke für den Kaffee. Ich melde mich bei Ihnen.“
Flannery Culp - 1. Nov, 17:45


„Was wollen Sie wissen,“ fragt Brigitte Dahlem und drückt die Zigarette aus. „Sie sind über die
Rote Hilfe zur RAF gekommen,“ schlägt Kaspar vor und trinkt von seiner Cola. Er erntet ein Stirnrunzeln. „Soll ich Ihnen jetzt meine Lebensgeschichte erzählen?“ Kaspar schüttelt ernst den Kopf. „Ich frage mich, wann Sie die Entscheidung getroffen haben, in den Untergrund zu gehen. Und aus welchen Gründen.“ Er legt seinen Kopf schief. „Hatte die Arbeit bei der Roten Hilfe damit zu tun?“ Brigitte Dahlem schüttelt ungeduldig den Kopf. „Die Rote Hilfe, klar habe ich da die Kontakte bekommen. Aber die Entscheidung selbst ist schon vorher gefallen.“ Sie sieht ihm zornig in die Augen. „Die ganze Scheiße damals. Und heute ist es doch nicht besser, es rührt sich nur keiner mehr.“ Alena registriert den kurzen Anflug von Hass auf ihrem Gesicht und ist zu ihrer Überraschung berührt. Aber danach suchen wir, denkt sie dann. Das wollen wir hören. Wir wollen Missionen und Aufopferung für höhere Ziele. Sie konzentriert sich wieder auf die Worte Dahlems. „Ich habe mal Jura studiert, in Münster. Damals dachte ich noch, es gäbe so was wie Gerechtigkeit.“ Sie lacht höhnisch. „1972 war das. Ich bin in schicken Klamotten rumgerannt und habe mit meinen spießigen Kommilitonen, alles Kinder reicher Eltern, Kaffee und Likörchen getrunken.“ Sie schweigt einen Moment und Alena hat den Eindruck, als wenn sie das Bewusstsein verdaut, wie lange diese Zeit her ist. Viel länger als 34 Jahre. Länger als eine Ewigkeit. Im normalen Tonfall fährt Brigitte Dahlem dann fort: „Es war so, als wenn 68 niemals passiert wäre. Aber eine Kommilitonin war anders. Sie hat nachgedacht, sie hat versucht, das System zu durchschauen. In den Semesterferien bin ich dann mit ihr nach Berlin gefahren und sie hat mich ein paar Bekannten vorgestellt. Alle politisch engagiert. Wir waren auf Demos und ich habe mehr Leute kennen gelernt. Auch welche aus der Roten Hilfe. Als wir dann wieder in Münster waren, habe ich gemerkt, dass ich da nicht mehr reinpasse. Anfang 73 haben die Hungerstreiks angefangen und da war mir vollkommen klar, das es sinnlos ist, weiter zu studieren. Dass ich ein Rechtssystem unterstütze, das für Folter und Isolationshaft steht. Das immer noch im dritten Reich verwurzelt ist.“ Emotionslos spult sie die Sätze herunter und Alena hat den Eindruck, als wenn sie diese Erläuterungen schon oft gegeben hat. Sich und anderen. „November 74 hatte ich die Schnauze endgültig voll und bin wieder nach Berlin, um was Sinnvolles zu tun.“ Kaspar nickt. „
Holger Meins ist an den Folgen des Hungerstreiks gestorben.“ Dahlem nickt wortlos. „Bei der roten Hilfe habe ich Peter Hoffmann kennen gelernt. Er hat irgendwann gefragt, ob ich Lust habe, ein paar Leuten zu helfen, die gegen den Faschismus kämpfen.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Ich sollte einen Käfig mit einer Katze nach Frankfurt bringen. Im Boden des Käfigs waren zwei Knarren und Geld. In Frankfurt habe ich eine Frau in einer Bahnhofskneipe getroffen und ihr den Käfig übergeben; das war Hanna Krabbe.“ – „Die Geiselnahme in der
Stockholmer Botschaft,“ ergänzt Kaspar. Dahlem ignoriert den Einwurf. „Hoffmann ist eine Woche später mit seiner Freundin nach Frankfurt gekommen.“ Ein halbes Grinsen. „Die RAF war zu der Zeit knapp an Personal. Wir dachten, wir helfen ein bisschen aus.“
Flannery Culp - 30. Okt, 21:05


Alena weiß, dass dies ein kritischer Moment ist. Auch Kaspar wirkt angespannt. „Leider können wir Ihnen kein finanzielles Angebot machen,“ beginnt er langsam. „Wir sind noch bei den Vorbereitungen und haben uns bisher nicht um einen Verleger gekümmert. Dazu kommt, dass wir beide nicht so vermögend sind, dass wir Ihnen einen Vorschuss zahlen könnten. Wir können höchstens anbieten, Sie am Verkauf zu beteiligen.“ Alena schluckt. In ihrer Welt spielt Geld allerhöchstens eine marginale Rolle und sie hatte dementsprechend nicht daran gedacht, dass Brigitte Dahlem eine finanzielle Forderung erheben könnte. Und am Verkauf beteiligen? Das würde bedeuten, dass sie das Buch tatsächlich schreiben müssen. Ihr wird übel. Sich an ein Projekt zu binden, passt ebenso wenig zu ihrer Art zu leben. Dann zwingt sie sich zur Konzentration auf Brigitte Dahlems Gesichtsausdruck, der unergründlich bleibt. Kaspar fährt fort: „Andererseits bieten wir Ihnen die Möglichkeit, die Geschichte der RAF und Ihre persönliche Rolle darin aufzuarbeiten und aufzuschreiben.“ Er sieht sie eindringlich an. „Sie haben Ihr Leben für diese Organisation geopfert. Sie haben ein normales, bürgerliches Leben aufgegeben, um in den Untergrund zu gehen und um für etwas zu kämpfen, von dem Sie überzeugt waren. Sie haben lange dafür im Gefängnis gesessen. Ich könnte mir vorstellen, dass es in Ihrem Interesse liegt, nicht nur der Öffentlichkeit Ihre Motive zu erklären und das Bild der RAF gerade zu rücken, sondern auch für sich selbst eine Klärung zu erreichen – und vielleicht einen Abschluss herbeizuführen.“ Er schweigt eine Sekunde. „Denken Sie nicht, dass eine Reflexion im Zusammenhang mit diesem Projekt Sie frei machen würde, endlich ein neues Leben zu beginnen? Glauben Sie nicht, dass Sie dadurch die Möglichkeit bekommen, endlich aus der Vergangenheit herauszutreten?“ Unwillkürlich hält Alena den Atem an. Das geht zu weit, denkt sie. Das ist nicht klug. Dahlem wird nicht mögen, dass er Anspruch darauf erhebt, ihre Gefühle oder Gedanken zu kennen. Und Alena weiß, dass Kaspar hier zu einem großen Teil seine eigenen Gefühle zum Ausdruck gebracht hat. Auch er sehnt sich nach einem Ende, danach den Kopf endlich frei zu bekommen, frei für etwas Neues, für ein Leben nach einer Vergangenheit, die vollständig durch diese Organisation bestimmt war, der seine Mutter angehörte. Fasziniert wird ihr dann bewusst, dass Brigitte Dahlem und Kaspar sich gegenseitig ansehen, mit Blicken, die wie Lichtstrahlen in die Seele des Gegenübers zu leuchten versuchen. Zu ihrer Überraschung nickt Brigitte Dahlem schließlich, fast unmerklich. „Es geht mir nicht um Geld,“ sagt sie. Nachlässig zündet sie eine neue Zigarette an. „Aber ich bin bereit, mit Ihnen zu reden.“ Sie nimmt einen tiefen Zug und bläst den Rauch zur Seite weg. „Vorerst,“ setzt sie dann entschieden hinzu. „Ich verpflichte mich zu nichts. Ich bestimme, wie lange ich dabei bleibe. Und ich will die Texte lese, bevor sie veröffentlicht werden.“ Zum Einverständnis senkt Kaspar leicht den Kopf, auf seinem Gesicht ist keine Spur eines Lächelns zu entdecken, kein Ausdruck von Freude oder Erleichterung. Er nimmt die Akzeptanz Dahlems ohne Gefühlsregung zur Kenntnis, und Alena ist gegen ihren Willen beeindruckt. „Möchten Sie noch ein Wasser, oder lieber etwas anderes,“ fragt er dann höflich.
Riesel ist nicht im Büro, als Pia eintritt, was sie mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis nimmt. Immerhin hat er Kaffee gekocht und sie schüttet sich ihre Bürotasse randvoll. Nachdem sie eine Weile hektisch auf der vollgestellten Ablage gesucht hat, stellt sie fluchend fest, dass der Würfelzucker alle ist. Koffein ohne Kohlenhydrate ist nur halb so wirksam, also macht sie sich auf den Weg in das Nachbarbüro. Als sie ohne Klopfen eintritt, verstummt das lebhafte Gespräch der vier Kollegen, die sich auf den vorhandenen Sitzgelegenheiten verteilt haben. „Kollegin Stein-Bachmüller. Was für eine Ehre, Sie in diesem bescheidenen Büro empfangen zu dürfen,“ tönt Oberkommissar Krause und Pia blickt in die verschlossenen Gesichter von Oberkommissar Brendel und den Kommissaren Krüger und Flohs. Sie weiß, dass sie im Präsidium so beliebt ist wie eine ansteckende Krankheit. „Haben Sie ein paar Stück Würfelzucker für mich,“ fragt sie, ohne sich lange an einer Begrüßung aufzuhalten. Krause starrt sie an und zuckt dann mit den Schultern. „Tut´s auch Süßstoff?“ Pia murmelt einen weiteren Fluch, hält aber dennoch ihre Hand auf: „Zwei Stück.“ Krause zieht einen Plastikspender aus seiner Schreibtischschublade und lässt zwei kleine Tabs in ihre Handfläche fallen. „Sie bearbeiten den Schwarz-Fall,“ meint er beiläufig. „Stimmt,“ erwidert Pia kühl und wendet sich zum Gehen. „Schwarz hatte viele Freunde im Präsidium,“ bemerkt Krause weiter und Pia hört das angedeutete „Ganz im Gegenteil zu Ihnen“ deutlich heraus. „Schön für ihn,“ murmelt sie nur und bewegt sich weiter in Richtung Tür. „Haben Sie schon eine Spur?“ Die Vorstellung, man könne glauben sie tappe noch im Dunkeln ist ihr unerträglich. Also dreht sie sich kurz um. „Natürlich,“ erklärt sie herausfordernd. „Allerdings gebe ich keine Informationen an Unbefugte weiter.“ Mit einem zufriedenen Kribbeln stellt sie fest, dass nicht nur Krauses Gesicht rot vor Wut wird. „Wir waren Kollegen von Otto Schwarz. Verdammt gute Kollegen. Also sind wir verdammt noch mal sehr wohl befugt zu wissen, welche Ratte ihn erschossen hat,“ zischt Brendel und Krause steht auf und stützt sich mit den Handflächen auf die Schreibtischplatte. „Tun Sie nicht so verdammt arrogant, Frau Kollegin. Ich kann mir keinen Grund der Welt vorstellen, warum Oberdorf ausgerechnet Ihnen diesen Fall übertragen hat. Aber glauben Sie mir, wir gucken Ihnen verflucht genau auf die Finger. Schwarz war einer von uns und wir stellen sicher, dass der Fall bis zum letzten verdammten Stückchen gelöst wird.“ Pias Augen haben sich zu schmalen Schlitzen zusammengezogen. Mit zusammengepressten Lippen erklärt sie: „Ich sage Ihnen, warum Oberdorf mir den Fall gegeben hat. Abgesehen davon, dass ich einer der fähigsten Ermittler in diesem Laden bin, bin ich wahrscheinlich die Einzige, die hier einen klaren Blick behält und nicht mit Schaum vor dem Mund durch die Gegend läuft.“ Dann entspannt sie sich und dreht sich in Richtung Tür, bevor die Kollegen ihre Fassung wieder erlangen. Im Hinausgehen bemerkt sie nonchalant: „Und ob Schwarz tatsächlich einer von uns war, steht erst am Ende meiner Ermittlungen fest.“
Flannery Culp - 28. Okt, 20:30


Das große Cafe ist gut besucht. Stimmengewirr umschwirrt Alena, lautes Lachen von der Seite, bunte Sommerkleidung. Kaspar hat einen Tisch am Rand des Außenbereichs ausgewählt, trotzdem fühlt sie sich unwohl. Nervös nippt sie an ihrem Eistee. „Wir hätten uns etwas ruhigeres aussuchen können,“ murmelt sie und fühlt Kaspars nachdenklichen Blick. „Zu viele Menschen? Kommst Du klar?“ Sie nickt heftig, ohne ihn anzusehen. „Vielleicht wäre es für Frau Dahlem angenehmer gewesen, uns irgendwo zu treffen, wo wir mehr unter uns gewesen wären. Wo nicht jeder unser Gespräch überhören kann.“ Das ist nicht der wahre Grund für ihr Unbehagen, aber Kaspar geht darauf ein. „Wenn Du Dich in Ruhe unterhalten möchtest, gibt es keinen besseren Ort als dichtes Menschengewühl. Niemand achtet auf uns. Wir verschwinden in der Menge. Und unser Gespräch wird vom allgemeinen Lärmpegel verschluckt.“ Alena nickt schweigend, dann sieht sie auf und heftet ihren Blick auf eine hagere Frau mit braunem Haar, das zu einem lockeren Zopf zusammengebunden ist. Alena weiß sofort, dass es sich um Brigitte Dahlem handelt. Sie steht auf und hebt ihre Hand. Einen Moment mustern sich die beiden Frauen, dann kommt Brigitte Dahlem langsam auf sie zu. Sie sieht von Alena zu Kaspar, der ebenfalls aufgestanden ist. „Frau Dahlem? Ich bin Kaspar Wagenbach. Das ist meine Mitarbeiterin, Frau Brandenburg.“ Brigitte Dahlem heftet ihren Blick erneut auf Alena. „Es war nicht abgemacht, dass noch jemand dabei ist.“ Sie klingt bestimmt und einen Moment fürchtet Alena, sie könne sich umdrehen und sofort wieder gehen. Aber die Dahlem bleibt stehen und fixiert Kaspar, der unerwartet ruhig bleibt. „Tut mir leid, dass ich sie nicht erwähnt hatte, aber wir schreiben das Buch zusammen. Frau Brandenburg ist ebenfalls Historikerin, sie liefert den theoretischen Hintergrund zum allgemeinen Begriff Terrorismus.“ Innerlich verflucht sie Kaspar, aber in Richtung Brigitte Dahlem bringt Alena ein höfliches Lächeln zustande. Wo zum Teufel soll sie auf die Schnelle einen theoretischen Hintergrund herzaubern? Nach einem Moment der beiderseitigen Anspannung zuckt Brigitte Dahlem mit den Schultern. „Gut. Wir werden sehen.“ Sie setzt sich und auch Kaspar und Alena lassen sich auf ihre Stühle fallen. Langsam spürt Alena, dass die lachende und redende Menschenmenge sich von ihrem Dreier-Tisch zurückzieht und ein soziales Vakuum zurücklässt. Sie hat plötzlich das Gefühl, sich an einem anderen Ort zu befinden, einem Ort, zu dem die Welt keinen Zutritt hat. Sie kennt dieses Gefühl, trotzdem schaudert ihr. Es ist nicht ihr Ort, sondern die Wirklichkeit Brigitte Dahlems, die sie schleichend umfängt. Alena atmet tief ein, um das Unbehagen unter Kontrolle zu bekommen. „Was möchten Sie trinken,“ fragt Kaspar, und die Frage klingt für Alena seltsam deplaziert. „Wasser,“ murmelt Frau Dahlem und zieht eine zerdrückte Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche. Sie trägt eine schwarze Bluse über der Jeans im klassischen Schnitt, die Ärmel der Bluse sind hochgekrempelt. Kaspar winkt dem Kellner, der ein wenig Normalität mit bringt, als er an ihren Tisch tritt. „Noch einen Eistee,“ bittet Alene und Kaspar gibt die Bestellung auf. Dann sind sie wieder für sich, in dem vollbesetzten Cafe am Rande der belebten Fußgängerzone und Alena fragt sich, ob Brigitte Dahlem selbst diese Kluft empfindet, die zwischen ihr und den anderen Menschen auf dieser Strasse herrscht. Ob ihr diese Mauer ständig bewusst ist, die sie von dem Rest der Welt trennt. „Was ist das für ein Buchprojekt,“ fragt Brigitte Dahlem nun, an Kaspar gewandt. Alena hat das Gefühl, dass sie ignoriert werden wird und das ist ihr sehr recht. „Es wird einen allgemeinen Focus auf das Phänomen Terrorismus werfen und dann den modernen fundamentalistischen Terrorismus der Marke El-Kaida dem zeitgeschichtlichen Terrorismus der 70er und 80er Jahre gegenüberstellen.“ Sein Lächeln ist ungewohnt charmant. Diesen Kaspar hat Alena noch nicht oft erlebt, aber sie weiß, dass es ihn gibt. Die gesellschaftliche Seite des Außenseiters, die nur hervorgeholt wird, wenn Kaspar sich davon etwas verspricht. Für eine wohlkalkulierte Zeitspanne weichen der ewig misstrauische Gesichtsausdruck, der forschende Blick und die zusammengepressten Lippen und machen einem offenen Grinsen Platz, einem freundlichen Blinzeln und einladenden Handbewegungen. „Da ich mich in der Vergangenheit viel mit der RAF beschäftigt habe,“ Kaspar produziert eine jungenhafte und sehr unschuldige Grimasse, „lag es nahe, dass diese Organisation in dem zweiten Teil des Buches eine größere Rolle spielt.“ Der Kellner bringt die Getränke und Alena reicht ihm die leeren Tassen. „Wir möchten aber nicht nur historische und politische Fakten aufzählen, sondern uns interessieren auch die Beweggründe des Einzelnen. Das Buch soll quasi zwischen den Polen Theorie und Gruppe bzw. Individuum oszillieren.“ Er lächelt gewinnend. „Aus diesem Grund sind wir an einer Zusammenarbeit mit Ihnen interessiert. Sie können zum einen unsere Lücken über die politische Theorie der RAF füllen und zum anderen wesentliche Erkenntnisse über die Gruppendynamik und individuelle Motive beitragen.“ Nach den Worten herrscht kurzes Schweigen. Dann richtet Brigitte Dahlem ihre harten grünen Augen auf Kaspar. „Warum sollte ich Ihnen helfen?“
Flannery Culp - 27. Okt, 21:28


Christopher nickt. „Ich erinnere mich. Es ist als Rache für den angeblichen Mord des Systems an Baader und Co. dargestellt worden. Der Beinahe-Anschlag hat für riesige Furore in der Presse gesorgt, vor allem wegen des Anschlagsziels. Von daher war es schon fast clever gewählt, sie bekamen die Publicity, die sie wahrscheinlich auch angestrebt hatten.“ – „Auf Publicity scheint sich die RAF eh am besten verstanden zu haben,“ bemerkt Pia trocken und erntet ein Grinsen. „Wirfst Du ihnen vor, dass sie schlampig gearbeitet haben?“ Christopher lehnt sich zurück und lächelt breit. „Tja, vielleicht wärst Du effektiver gewesen, wenn Du damals schon alt genug gewesen wärst. Was meinst Du, kannst Du Dir auch vorstellen, auf der anderen Seite Karriere zu machen?“ Pia antwortet nicht sofort. Sie betrachtet wieder die kleine Porzellantasse, die sie irgendwann mal mit Christopher auf einem Trödel in Rom gekauft hatte. Ihr Leben ist in einer geraden Linie verlaufen, ohne große Schicksalsschläge, ohne besondere Ereignisse. Hätte sie ein Erlebnis aus der Bahn geworfen, was wäre passiert? Nicht jeder findet zurück in die Spur. Und manche verlassen sie freiwillig. Ist es ein Zeichen für Mittelmäßigkeit, dass sie stetig diese Gerade entlang gegangen ist? Ein Zeichen für Phantasielosigkeit oder Bequemlichkeit? Alena fällt ihr ein, die ein Leben neben der Spur lebt, aber sich nie weit davon entfernt, quasi parallel dazu läuft. Dann wird ihr bewusst, dass Christopher sie aufmerksam beobachtet. „Die Frage ist nicht leicht zu beantworten,“ suggeriert er. „Niemand ist als Kripo-Beamter geboren. Oder als Terrorist. Es sind Entscheidungen, die wir treffen.“ Sie weicht seinem Blick aus. „Treffen wir wirklich immer Entscheidungen? Das können doch nur Philosophen behaupten. Tatsächlich gibt es doch Situationen, in die wir hineingeraten, in denen wir in eine bestimmte Richtung geschubst werden und dann einfach weiterlaufen, oder?“ Christopher seufzt. „Bei Heidegger gibt es den Begriff der Geworfenheit, und das bedeutet, dass man immer schon situiert ist, sich bereits in einer Gegebenheit befindet.“ Sein Blick verliert sich im dunklen Flur hinter ihr. „Aber wie zwingend ist diese Gegebenheit für eine Handlungsentscheidung? Jetzt mal abseits von Heidegger und von katheder-philosophischen Überlegungen, aber findest Du nicht, dass der gesunde Menschenverstand uns zeigt, dass wir uns zumindest bewusst werden sollten über die Situation, in der wir uns befinden? Und damit auch bewusst über die Handlungsalternativen, die wir haben?“ Er schüttelt den Kopf, fast ärgerlich. „Nimm Ulrike Meinhof als Beispiel. Sie war angesehene Journalistin, hatte zwei Kinder, einen Ehemann, war wohlhabend. Nichts und niemand hat sie gezwungen, in den Untergrund zu gehen und Bomben zu legen. Oder Gudrun Ensslin, deren Eltern freigeistige Theologen waren und auch noch nach dem Brandanschlag auf das Frankfurter Kaufhaus zu ihr standen. Ensslin hätte sicher jederzeit ihr Studium wieder aufnehmen und sich auf die Unterstützung ihrer Eltern verlassen können.“ Nun sucht er den Blick Pias. „Sie haben diesen Weg frei gewählt. Sie haben eine Entscheidung getroffen.“ Pia fühlt bleierne Müdigkeit in sich aufsteigen. „Vielleicht waren sie zumindest darin vielen Menschen voraus,“ murmelt sie. „Menschen, die keine Entscheidung treffen, sondern sich anpassen, den Weg des geringsten Widerstands gehen. Die sich im Leben treiben lassen, ohne Ambitionen.“ Christopher legt einen Finger unter ihr Kinn und hebt ihren Kopf so, dass sie ihn anschauen muss. „Aber das trifft doch nicht auf dich zu. Du bist der gradlinigste Mensch, den ich kenne.“ Er lächelt. „Du hast Ziele und triffst daraufhin deine Entscheidungen, jeden Tag. Und lässt dich durch nichts davon abbringen. Was nicht immer eine positive Eigenschaft ist.“ Sein Grinsen verschwindet. „Aber deine Gedanken gerade sind ein Echo dessen, was anscheinend die Linke in den 70ern empfand. Schuldgefühle, weil andere konsequenter waren, als sie. Selbstzweifel nach dem Rückzug aus der 68er Revolution in das sogenannte bürgerliche Leben. Die eigene Konfrontation mit Begriffen wie Feigheit oder Bequemlichkeit. Die Frage nach Authentizität.“ Pia fühlt seinen Blick. „Wenn wir mit den extremen Entscheidungen Anderer konfrontiert werden, fühlen wir uns herausgefordert, unseren eigenen Lebensweg zu hinterfragen. Aber das ist eine rein psychologische Reaktion, sie hat keinen ethischen Hintergrund. Das Extreme allein ist keine Handlungsbegründung, es kommt auf den Inhalt einer Überzeugung an, oder die Intention einer Handlung, nicht auf ihre Qualität.“ Pia nickt langsam und steht auf. „Ich muss ins Bett. Und wenn ich Brigitte Dahlem das nächste Mal sehe, lade ich sie mal zum Essen ein, dann kannst Du Dich mal mit ihr unterhalten. Vielleicht belegt sie dann sogar demnächst ein paar Kurse bei Dir.“ Aber ihr Lächeln ist nicht zynisch.
Flannery Culp - 25. Okt, 20:14