Samstag, 25. November 2006

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36: das stille Wasser

„Zum Teufel mit den Scheißbullen.“ Kaspar läuft hektisch in Alenas Wohnzimmer herum. „Was wollen die denn noch von mir wissen? Das ist doch reine Schikane! Es gibt überhaupt keine Anzeichen, dass ich irgendetwas mit dem Mord an Schwarz zu tun habe. Die kleben jetzt nur an mir, weil ich Marianne Wagenbachs Sohn bin. So etwas nennt man Sippenhaftung.“ Alena nippt an einer Tasse schwarzen Tee. Die Tasse, die sie für Kaspar auf die Ecke des Schreibtisches gestellt hat, ist unberührt. Helle Morgensonne scheint von außen herein und sie wünschte, es wäre nicht so hell im Zimmer. Als Kaspar heute morgen unangemeldet in ihre Wohnung stürmte, riss er zuallererst die Vorhänge auf, die wie gewohnt ihr Wohnzimmer verdunkelten. Dann berichtete er, unterbrochen von diversen Schimpftiraden, dass Kommissar Riesel ihn heute morgen telefonisch für nachmittags in die Dienststelle gebeten hatte. „Zu weiteren Fragen? Was glauben diese Idioten, was ich ihnen erzählen könnte? Haben die nichts anderes zu tun?“ Alena schließt die Augen und versucht die wütende Stimme Kaspars für einen Moment auszublenden. Sie wäre jetzt lieber allein. Langsam lässt sie sich seitwärts auf ihr Ledersofa sinken, hebt die Beine auf die Sitzfläche und zieht die Knie an. Sie bleibt so liegen, während Kaspar die Strecke von der Tür bis zum Fenster hin und her läuft. Ihre Gedanken hängen an der telefonischen Vorladung. Warum lädt Pia Kaspar nun doch vor? Hat ihr Kollege Riesel den Fragenkatalog nicht zufriedenstellend abgearbeitet? Haben sich Änderungen ergeben, die ein erneutes Gespräch erforderlich machen? Oder besteht doch ein Verdacht gegen Kaspar, vielleicht aufgrund von Tatsachen, die ihr selbst unbekannt sind? „Nett, dass du die Zeit nutzt, um ein bisschen zu schlafen, während ich hier gleich durchdrehe.“ Alena bleibt liegen, aber öffnet ihre Augen und wendet den Kopf der vorwurfsvollen Stimme Kaspars zu. „Gibt es irgendeine Kleinigkeit, die du mir vielleicht verschwiegen hast?“ Ihre Stimme ist ruhig und sanft. „Sie laden dich nicht ohne Grund vor. Sie haben irgendwas. Und ich frage mich, ob du weißt, was das sein könnte.“ Kaspar steht sehr still und sieht sie an. Die Strahlen der Morgensonne nehmen die Gelegenheit wahr, schräg bis in den letzten Winkel dieses Raums zu leuchten, aus dem sie sonst so rigoros ausgeschlossen werden. Kaspar steht mit dem Rücken zum Fenster, sein Gesicht ist im Schatten verborgen. Alena hört nur seine Stimme, die aus dem undeutlichen Dunkel seines Gesichts spricht. „Du hattest von Anfang an die Vermutung, dass ich Schwarz getötet haben könnte, nicht wahr? Dann hast du den Gedanken verdrängt, was ich dir durchaus zugute halte. Aber in bestimmten Situationen kommt er wieder an die Oberfläche, dieser Verdacht, den du niemals tief genug versenken kannst.“ Es ist irritierend, das Gesicht nicht zu sehen, das zu dieser seltsam leisen Stimme gehört und Alena richtet sich auf. „Der Gedanke steigt nach oben wie eine Wasserleiche, die jetzt halb verrottet und stinkend auf dem Wasser treibt.“ Alena spürt, wie ihre Halswirbel sich anspannen, ihre Hände klammern sich in das kühle Leder der Sitzkante. Kaspar macht einen Schritt auf sie zu und sie braucht all ihre Selbstbeherrschung, um nicht auf dem Sofa nach hinten zu rutschen. „Du hast mir noch nie getraut. Von Anfang an nicht. Warum nicht? Was ist los mit mir? Oder sollte ich besser fragen, was ist los mit dir?“ Sie antwortet nicht, das sind keine Fragen, die eine Antwort verlangen. „Wir waren niemals Freunde, Alena. Für dich war ich immer ein interessantes Objekt, eine Begegnung, die die Langeweile vertreibt, die dich manchmal überfällt, wenn du genug von deinem zurückgezogenen Lesen hast. Ich selbst habe nie gezählt für dich, ich habe dich nur in meiner Eigenschaft als Marianne Wagenbachs Sohn interessiert. Der Sohn einer Terroristin, wie aufregend.“ Er redet immer weiter, zwingt Alena seine Worte auf. „Und es war meine Besessenheit, die dich fasziniert hat. Die Fragen, die ich mir immer wieder stellen musste, die so wichtig für mich waren – für dich gibt es keine Fragen, die dich nachts wach halten, die dich quälen, die dein ganzes Leben bestimmen. Du hast kein Ziel, dein Leben hat keinen Sinn, du lebst vor dich hin und hebst Steine auf in der Hoffnung, das etwas Spannendes darunter liegt. Und ich bin nichts anderes als einer dieser Steine.“ Alena schließt die Augen und stellt sich vor, dass sie mit dem Rücken auf einem stillen See treibt, sie spürt die leichten Wellen um sich, die sie fort tragen, immer weiter weg. Kaspars Stimme dringt jetzt gedämpft zu ihr, als wenn er durch das kühle, durchsichtige Wasser spricht. Sie öffnet ihren Mund, um etwas zu sagen, das ihr am Herzen liegt, etwas, das sie unbedingt sagen muss, es ist wichtig. Ohne ihn wirklich zu sehen oder zu hören spürt sie, dass er aufgehört hat zu reden und sie anstarrt. Aus ihrem Mund kommen die Worte: „Lass mich allein.“

Freitag, 24. November 2006

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35: Heimfahrt mit Kollegen

Als sie zurück nach Altenburg fahren, versinkt der Tag in der Dämmerung einer frühen Herbstnacht. Lang ist einsilbig und Pia ist froh, ihren Gedanken nachhängen zu können. Zwischendurch gibt sie Anweisungen: „Lang, die Projektile müssen untersucht werden. Ich will wissen, ob Burg mit der gleichen Waffe erschossen wurde, wie Schwarz.“ – „Dafür muss ich ihn erst aufschneiden, die Kugeln stecken noch in der Leiche,“ erklärt Lang müde. „Die Autopsie mache ich gleich morgen früh.“ Sein Ton enthält die Botschaft, dass es ihr nicht einfallen sollte, schon heute nacht auf der Autopsie zu bestehen. Riesel schaltet sich ein: „Wenn Burg tatsächlich von dem Typen erschossen wurde, der auch Schwarz getötet hat, können wir dann davon ausgehen, dass Burg den Mörder erpressen wollte?“ – „Gucken Sie bitte auf die Straße, ich habe keine Lust in einem schwarzen Sack neben Burg zu liegen,“ herrscht Pia ihn an, als er sich zu ihr umdreht. Dann erklärt sie: „Vielleicht war Burg auch ein Komplize, der dem Mörder zu heiß geworden ist. Aber bevor wir uns in Spekulationen verlieren, warten wir mal auf die Ergebnisse der Ballistik-Untersuchung.“ Sie dreht sich Richtung Rücksitz, wo Lang neben seinem Koffer sitzt. „Damit hängt es also von Ihnen ab, ob der Fall voran geht – und wie sich die Laune von Oberdorf in den nächsten Tagen entwickelt.“ – „Oberdorf ist Ihr Chef, nicht meiner,“ murmelt Lang, aber er kennt genauso gut wie Pia den Einfluss, den Oberdorf in der Behörde hat. Riesel fährt langsamer, als er in die Ausläufer des Feierabendverkehrs kommt. „Wir sollten uns diesen Wagenbach noch mal ansehen,“ überlegt Pia. „Ich gestehe, dass ich ein bisschen neugierig bin. Und es schadet nichts, nach seinen Aktivitäten am gestrigen Tag zu fragen.“ Sie wendet sich wieder Lang zu, der sich tiefer in den Polyestersitz drückt. „Ich brauche also ganz dringend den Todeszeitpunkt.“ – „Wie ich schon sagte, die Autopsie. Dann haben Sie Ihren Todeszeitpunkt. Morgen früh.“ Seine Stimme klingt endgültig. „Und da sagt man immer, keiner kann meinem Charme wiederstehen,“ bemerkt Pia, aber niemand lacht. „Also, rufen Sie Kaspar Wagenbach mal morgen früh an und laden Sie ihn für nachmittags vor, oder wann er auch immer von der Arbeit kommt. Wir sind da ja flexibel.“ – „Er ist ziemlich schräg,“ sagt Riesel, den Blick unverwandt auf die Straße vor ihm gerichtet. „Weiß man, wer sein Vater ist?“ Er schüttelt vorsichtig den Kopf. „Die Mutter hat keine Angaben gemacht. Sie sagte, sie wüsste seinen Namen nicht.“ Lang wirft von hinten ein: „Ich glaube, das war in der wilden Flowerpowerzeit nichts Besonderes. Kennt man ja, wer einmal mit der gleichen pennt….“ Pia wirft ihm einen Blick zu. „Wollten Sie jetzt etwas Gehaltvolles zur Diskussion beitragen?“ Abwehrend hebt Lang seine Hand. „Schon gut. Ich halte jetzt meinen Mund, bis wir auf der Dienststelle sind.“ Riesel biegt auf die Hauptverkehrsstrasse Altenburgs. Sie fahren am Markt vorbei, auf dem Studenten sich in den diversen Biergärten vom anstrengenden Studium erholen und berufstätige Singles über Kollegen und gemeinsame Freunde herziehen oder von ihren gescheiterten Beziehungen erzählen. „Sie glauben also nicht, dass Kaspar Wagenbach inmitten dieser fröhlichen Menge weilt,“ fragt Pia. Riesel grinst starr geradeaus. „Absolut nicht. Ich könnte ihn mir eher mit einem Pumpgun in einer Schule vorstellen.“ – „Sie sollten sich durch Ihre kaum verborgenen Vorurteile nicht die objektive Einschätzung von Verdächtigen versauen,“ belehrt Pia in einem milden Ton. „Ist er denn ein Verdächtiger? Wir haben doch gar keine Anhaltspunkte.“ Riesel reißt die Augen auf und Pia lächelt. „Jeder ist ein Verdächtiger, bis er mir das Gegenteil beweist.“ – „So viel wie ich weiß, geht der Spruch aber anders,“ macht sich Lang bemerkbar. „So viel wie ich weiß, gibt der Erfolg immer Recht,“ erwidert Pia kühl. „Kümmern Sie sich besser um Ihre Toten und die Spuren. Ich würde mich äußerst glücklich schätzen, wenn ich bis 11 Uhr die ersten Ergebnisse habe.“

Mittwoch, 22. November 2006

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34: Autobahnraststätte

Der Parkplatz an der Autobahnraststätte ist in mildes Abendlicht getaucht. Das laute Fahrgeräusch wird von ein paar Bäumen gedämpft, die lustlos am Rand der Autobahn vor sich hinwachsen. Hinter Pia laufen müde LKW-Fahrer und ältere Ehepaare durch die Glastür der Raststätte. Vor ihr beginnt ein kleines Waldstück, das in einem Feld ausläuft. Unter einem der Bäume liegt die Leiche von Hans-Joachim Burg. Pia geht einen Schritt näher an die Gestalt heran, die auf der braunen krümeligen Erde liegt. Das Gesicht des Toten ist mit einer Seite in die trockene Erde gedrückt, die andere Seite ist dem Betrachter zugedreht, ein blickloses Auge starrt ins Nichts. Er trägt Jeans und ein graues T-Shirt, von dem sich zwei blutverkrustete Löcher abheben. „Von vorn erschossen,“ meint Lang von der Spurensicherung, den sie gleich mitgebracht haben und der zu Pias Leidwesen die ganze Fahrt über ein angeregtes Gespräch mit Riesel über Geländewagen geführt hat. Nun kniet er sich neben die Leiche und öffnet seinen Metallkoffer. Pia sieht Riesel mit gesenktem Kopf durch die Bäume laufen, in der Hoffnung, irgendeine Spur zu erspähen. „Wie lange liegt er hier schon? Können Sie eine Vorabprognose machen, wann er getötet wurde?“ Lang hebt den Kopf und sieht sie unbewegt an. „Er wurde Dienstag Nacht um exakt 11.34 getötet.“ Ohne zu lachen fährt er fort: „Das wollen Sie doch hören, oder? Vergessen Sie´s. Ich mache keine Prognosen, die ich dann wieder zurücknehmen muss und auf die Sie mich festnageln.“ – „Himmel, jetzt seien Sie doch nicht so schwierig,“ murmelt Pia. „Ich will doch nur wissen, ob er heute oder gestern erschossen wurde. Und ich nagele Sie auf gar nichts fest.“ Lang macht einen misstrauischen Eindruck. Dann bequemt er sich dazu: „Heute nicht, eher gestern,“ zu brummeln. Der Wind geht frisch hier, außerhalb der Stadt. Langsam wird das Sonnenlicht fade, es ist sechs Uhr. Pia geht langsam auf Kommissar Bennemann zu, der sich mit dem Kollegen unterhält, mit dem er unterwegs war, als die Leiche von einem älteren Autofahrer gefunden wurde, dem die kleine Schlange vor den Toiletten zu lang gewesen war. Die beiden lachen, hören aber abrupt auf, als Pia sich nähert. Unfreundlich mustert Bennemann sie. Er ist ein schlanker großer Typ in den 40ern. „Und, sind Sie zuständig?“ Pia verzieht keine Miene. Genauso unfreundlich erwidert sie: „Ist der Fahrer noch da, der beinahe auf die Leiche gepinkelt hat?“ Bennemann schüttelt den Kopf, während sein Kollege ihr neugierige Blicke zuwirft. „Wir haben seine Aussage aufgenommen und dann durfte er weiterfahren. Er hat die Leiche gefunden, nichts angerührt und die Polizei gerufen. Ende der Geschichte.“ – „Wann die Geschichte zu ende ist, bestimme ich. Das ist mein Fall,“ erklärt Pia kalt. Bennemann starrt sie an. „Schon gut,“ murmelt er. Dann in Richtung seines Kollegen: „Oh Mann, Müller hat nicht übertrieben.“ Der dunkelhaarige, etwas beleibte Kollege grinst und Pia ahnt, dass sie hier keinen leichten Stand hat. „Gibt es sonst noch etwas, das Sie für erwähnenswert halten,“ fragt sie mit einem höhnischen Unterton. Bennemann schüttelt den Kopf. „Wir sind sofort hergefahren, als wir den Funkspruch gehört haben. Der Zeuge stand ein paar Meter vor dem Waldstück und war ziemlich bleich. Wir haben uns die Leiche näher angesehen und dann ist meinem Kollegen die Fahndung eingefallen, die uns noch erreichte, bevor wir losgefahren sind. Wir dachten, dass das ja wohl ein Scheißzufall wäre, wenn wir hier wirklich den Gesuchten finden, aber genau das war es. Wir haben die Leiche nicht angerührt, wir konnten ihn auch so identifizieren.“ Pia nickt und geht zurück zu Lang. „Und?“ Genervt blickt Lang erneut hoch. „Was, und? Wollen Sie jetzt von mir den Namen des Mörders?“ Sie zuckt mit den Achseln. „Schöne Abwechslung, wenn Sie auch mal ein schnelles Ergebnis liefern.“ Ohne ein weiteres Wort beugt sich Lang wieder über seine Leiche. Als Pia sich umdreht, sieht sie zwei Männer mit einer Trage auf sich zukommen. Lang wendet sich ihnen zu. „Ich bin fertig, Sie können ihn einpacken.“ Seite an Seite sehen Pia und Riesel zu, wie Burg in den schwarzen Plastiksack gepackt und auf der Trage zum Combi gebracht wird, der in der Nähe parkt. Mittlerweile haben sich ein paar Neugierige vor der Raststätte versammelt, aber niemand nähert sich Bennemann und seinem Kollegen um sie auszufragen. Leichen an Autobahnraststätten sind nicht die Ereignisse, die ausufernde Fragen aufwerfen.

Montag, 20. November 2006

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33: Berichte

Alena holt tief Luft. Sie hat so etwas geahnt, aber immer weit aus ihren Gedanken verdrängt. „Mach Dir keine Gedanken,“ versucht sie Kaspar zu beruhigen. „Das ist Routine. Sie werden nach den Angehörigen der lebenden und toten Mitglieder der Terroristen gesucht haben, weil ja auch einer von den Verwandten den Mord begangen haben könnte. Du stehst auf ihrer Liste. Das ist reine Routine.“ – „Hast Du etwa davon gewusst?“ Kaspars Stimme überschlägt sich fast. „Du lieber Himmel, nein. Das ist bloß gesunder Menschenverstand.“ Dann versucht sie es mit Ablenkung, außerdem platzt sie trotz der angespannten Situation fast vor Neugierde. „Was wollte er wissen?“ Für einen Moment herrscht Stille. Dann reißt Kaspar sich hörbar zusammen. „Natürlich, was ich Freitag Nacht getan habe. Wie Du Dir denken kannst, war ich zu hause und habe am Computer gesessen. Das ist ein wahnsinnig tolles Alibi.“ Alena ist froh, dass Kaspar seinen Sarkasmus wieder gefunden hat. „Dann hat er mich über mein Verhältnis zu meiner Mutter ausgefragt, das, wie du weißt, nichtexistent ist. Er wollte wissen, ob ich Schwarz kannte, was ich glücklicherweise verneinen konnte.“ Alena hört, wie Kaspar schluckt. „Leider ist er auch auf die vollkommen absurde Frage gekommen, ob ich die ehemaligen Mitstreiter von Marianne kannte. Ich habe erzählt, dass ich ihnen einen Brief ins Gefängnis geschrieben habe, weil ich damals etwas über meine Mutter erfahren wollte, und dass sie jeden Kontakt abgelehnt hatten. Ich dachte, der Eingang des Briefes könnte sich vielleicht noch zurückverfolgen lassen, darum habe ich an dieser Stelle die Wahrheit gesagt. Was das Treffen mit der Dahlem angeht,“ er zögert und Alena fängt an, nervös an ihren Locken zu drehen. „Das habe ich erst mal verschwiegen. Es wäre zu kompliziert geworden. Und ich dachte dann könnte es auch für Dich eng werden.“ Alena atmet erleichtert aus. Aber fast gleichzeitig drängelt sich ein anderer Gedanke nach vorn. „Mist, ich hoffe nur, sie befragen die Dahlem nicht noch einmal und erfahren dann, dass du dich mit ihr getroffen hast. Das wäre ziemlich kontraproduktiv.“ Beide schweigen einen Moment. „Allerdings hat die Kripo-Beamtin ja schon angedeutet, dass die Dahlem sich weigert überhaupt mit ihnen zu reden.“ Zögernd fragt Kaspar: „Arbeitet deine Polizistin mit diesem Riesel zusammen?“ Unsicher bringt Alena ein „Ja.“ heraus. „Wie heißt sie?“ Alena antwortet nicht. Ist es ein Problem, wenn Kaspar Pias Name erfährt? Was kann passieren? Es hätte vielleicht sogar etwas Positives, er wäre gewarnt und dementsprechend vorsichtig, würde er ihr jemals begegnen. „Also gut. Sie heißt Pia Stein-Bachmüller.“ – „Danke,“ flüstert Kaspar. Unbehaglich rutscht Alena auf dem Stuhl herum, auf den sie sich mittlerweile gesetzt hat. Aus einem Grund, den sich nicht begrifflich ausdrücken kann, war ihr wohler, als Kaspar den Namen ihres Kontaktes noch nicht kannte. Wird er sich selbständig an sie wenden? Unwahrscheinlich. Aber was würde passieren, wenn Pia erfährt, dass Alena und Kaspar sich kennen? Dass sie Kaspar ins Spiel gebracht hat, ohne Pia über die ungewöhnlichen Umstände zu informieren? Alena wird kalt. Das wäre das absolut Schlimmste, was passieren könnte. Sie weiß nicht, was konkret passiert, sie weiß nicht, wie Pia genau reagiert, aber sie weiß, dass es schrecklich wird.

„Er macht einen ziemlich seltsamen Eindruck,“ berichtet Riesel unterdessen Pia von seinem Besuch bei Kaspar. „Er wohnt allein in einer ziemlich heruntergekommen Wohnung, von der ich allerdings nur das Wohnzimmer und den Eingang gesehen habe. Auf meine Frage hin, was er beruflich macht, erklärte er, dass er Programmierer für die Altatec ist, eine der größeren Softwarefirmen hier in Altenburg.“ – „Ich weiß, was Altatec ist,“ unterbricht ihn Pia ungeduldig und Riesel vertieft sich in seine Notizen. „Freitag Abend war er jedenfalls allein zu hause. Angeblich kannte er Schwarz nur aus der Zeitung und auch von dem Todesfall hat er durch die Zeitung erfahren.“ Riesel sieht auf. „Er war etwas erstaunt, als ich sagte, dass Schwarz ermordet worden sei. Er hätte aufgrund der kleinen Anzeige gedacht, dass er eines natürlichen Todes gestorben sei. Aber das war vielleicht auch nur gespielt.“ Pia zuckt mit den Achseln und Riesel fährt fort: „Wagenbach hat zugegeben, dass er die Rolle kannte, die Schwarz bei der Beinahe-Verhaftung seiner Mutter spielte. Als ich ihn fragte, ob er Rachegedanken hegt, hat er gemeint, wieso, er hat sie ja nicht gekriegt.“ Pia grinst. „Wo er recht hat, hat er recht. Haben Sie auch etwas Substantielles herausgefunden?“ Nur Riesels Nasenspitze wird rot, langsam gewöhnt er sich an die Verbalangriffe Pias. „Er hat berichtet, dass er mal Briefe an Dahlem und Burg ins Gefängnis geschickt hat. Er wollte etwas über seine Mutter erfahren, die er nach eigenen Aussagen niemals wirklich kennen gelernt hatte. Damals hatten sich die beiden geweigert, mit ihm zu sprechen.“ – „Und heute? Hat er es nach der Entlassung wieder versucht,“ wirft Pia ein. Riesel schüttelt den Kopf. „Er erklärt, dass er keine weitere Kontaktaufnahme wollte. Er lebt jetzt sein eigenes Leben, meinte er, da würde die Vergangenheit nur stören. So in der Richtung hat er sich ausgedrückt.“ Pia seufzt. „Na gut. Das war ja ein überaus erfolgreicher Besuch. Aber immerhin haben Sie jetzt mal den Sohn einer echten Terroristin kennen gelernt.“ Bevor Riesel sich überlegt, ob er darauf antworten soll, klingelt erneut das Telefon. Pia stürzt sich auf den Hörer. Enttäuschung auf ihrem Gesicht. „Bennemann, von der Autobahnpolizei? Was wollen Sie denn von mir? Hier ist die Mordkommission, wir kümmern uns nicht die ausgesetzten Haustiere auf Ihren Rastplätzen .“ Der genervte Gesichtsausdruck weicht Anspannung. „Wo?“ Sie springt auf. „Wir sind schon unterwegs.“ Sie wirft den Hörer zurück auf die Gabel und läuft zu ihrem Trenchcoat. Auf dem Weg erinnert sie sich dass sie nicht allein arbeitet. Mit einem flüchtigen Blick auf Riesel erklärt sie kurz: „Ein Toter wurde auf dem Rastplatz Schönewald, ca. 30 km vor Altenburg, gefunden. Es scheint sich um Burg zu handeln. Er konnte identifiziert werden anhand der elektronischen Fahndungsfotos, die Frankfurt verschickt hat. Informieren Sie die Spurensicherung und beeilen Sie sich, sonst bin ich weg.“

Sonntag, 19. November 2006

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32: Unruhe

Pia dreht sich zu Riesel um. „Burg ist weg. In der Wohnung ist er nicht und auf der Arbeit ist er auch nicht wieder aufgetaucht. Allerdings haben die Kollegen verifiziert, dass es sich bei Brückner tatsächlich um Burg handelt. Die Leiterin des Altenheims hat ihn anhand des Fotos identifiziert. Die Kollegen haben die Fahndung eingeleitet“ Sie beginnt erneut, mit den Fingern auf der Tischplatte zu trommeln, als wenn sie dadurch die Suche beschleunigen könnte. „Die Kollegen werden sich jetzt das Apartment ansehen, das Burg unter dem Namen Brückner für ein halbes Jahr gemietet hat. Aber Brenner von der Kripo Freiburg hat bereits anklingen lassen, dass die Räume eher spartanisch eingerichtet sind, um nicht zu sagen, fast völlig leer stehen.“ Ein Stirnrunzeln zeigt an, dass sie diesen Umstand in ihrem Kopf hin und her wälzt. „Der Zeitvertrag auf der Arbeit. Das Apartment für sechs Monate. Freiburg sollte definitiv nur ein Intermezzo sein, das in zwei Monaten geendet hätte. Warum hat er sich die ganze Mühe gemacht?“ Sie sieht Riesel skeptisch an. „Um bei seiner Mutter zu sein? Er hätte sie doch einfach besuchen können. Er wird schließlich nicht gesucht. Er muss sich nicht verstecken.“ Vorsichtig wirft Riesel ein: „Und wenn doch?“ Pia starrt ihn an. Diese Option entbehrt momentan jeder Grundlage, trotzdem ist sie es wert, im Hinterkopf behalten zu werden. Sie seufzt tief auf. Es bringt nichts, jetzt auf den nächsten Anruf aus Freiburg zu warten. „Was haben Sie heute noch vor? Ich werde mich jetzt mal den Berichten aus Frankfurt widmen.“ Riesel zuckt mit den Schultern. „Ich versuche es noch einmal bei Marianne Wagenbachs Sohn. Vielleicht ist er heute Nachmittag zu hause.“ Dann sieht er den Zettel auf seinem Schreibtisch. „Gut, und außerdem werde ich versuchen, Harald ausfindig zu machen.“ Pia nickt sein lakonisches Grinsen mit unbewegtem Gesicht ab.

Die Berichte der Frankfurter Polizei hinsichtlich der Überwachung von Robert Kochs Vater sind wenig informativ. Herrmann Koch wurde zwei Wochen lang beschattet, nachdem sich die Spur von Robert Koch in der DDR verloren hatte. Vorher hatte das BKA den Tipp vom Bundesamt für Verfassungsschutz erhalten, dass Robert Koch anscheinend vom Monitor der Stasi verschwunden sei. Letztlich war die Überwachung von vornherein fruchtlos, da davon auszugehen war, dass jegliche Aktion zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen war. Dementsprechend wurde das Verhalten Herrmann Kochs als überaus normal und unauffällig geschildert. Dies betraf auch seine Kontakte, die sich in diesem Zeitraum ausschließlich auf Geschäftskunden und private Freunde beschränkten. Frustriert wirft Pia die Akten an den Rand ihres Schreibtisches. Sackgasse. Es würde nicht einfach sein, Robert Koch ausfindig zu machen. Und doch hatte Schwarz von irgendwem mit Namen Harald den Hinweis erhalten, dass Schwarz sich in Altenburg aufhalten sollte. Wo könnte er sein? Unter welchem Namen? Sie beißt sich auf die Lippen. Das Dossier, das Riesel angefertigt hatte, enthält ein Foto von Koch im Alter von 20 Jahren. Blonde, etwas zu lange Haare. Blaue Augen. Nicht unattraktiv. Weicher Mund. Er sieht nicht aus wie ein Terrorist, eher wie ein reiches Kind, das ein wenig Abenteuer will. Aber das sind die Interpretationen von jemandem, der die ganze Geschichte kennt, denkt Pia. Die langweiligen Familienväter, die ihre Frauen ermorden, sehen im Nachhinein auch immer wie gewissenlose Mörder aus. Außerdem kennt sie die ganze Geschichte von Koch nicht. Vielleicht wollte er tatsächlich Revolution machen und ist aus der DDR in den Nahen Osten verschwunden. Vielleicht ist er von dort irgendwann und aus irgendwelchen Gründen nach Altenburg gekommen. In das verschlafene, gelehrte, langweilige Altenburg. Pia verdreht ihre Augen angesichts der Abstrusität dieses Gedankens. Sie sieht sich erneut das Dossier an. Robert Koch hatte ein Studium abgebrochen, als er sich der RAF anschloss. Philosophie in Frankfurt. Müde reibt sie ihre Augen und nimmt dann entsetzt ihre Hände weg, mit denen sie ihr Mascara verwischt hat. „Auch das noch,“ murmelt sie verzweifelt. Als sie im Waschraum mit einem feuchten Papierhandtuch versucht, die schwarzen Striche unter ihren Augen zu entfernen, fällt ihr erneut das Foto von Koch ein. Philosophie. Es kann nichts schaden, ihrem Mann eine Kopie des Fotos zu zeigen. Vielleicht ähnelt der 20-jährige darauf einem seiner Kollegen….

Entspannt schließt Alena die Haustür auf. Sie war ein wenig spazieren und hatte sich dann mit einem Buch in den kleinen Park in ihrem Viertel gesetzt; ganz entgegen ihrer Gewohnheit, sich vor der Sonne in ihrer Wohnung zu vergraben. Heute hatte sie das unbestimmte Gefühl gehabt, dass ihre Wohnung, ihr geliebter Zufluchtsort, zu viele Schatten barg. Eigentlich liebte sie Schatten, die für sie Zeichen waren für etwas, das auf den ersten Blick verborgen lag. Wie die Schatten in der Höhle Platons. Flüchtige Hinweise auf Dinge, nach denen man forschen konnte, die man suchen musste und deren Entdeckung momentanes Glück bedeutete. Manchmal fühlte sie sich jedoch mit der Zweideutigkeit des Phänomens konfrontiert, mit der Assoziation von Schatten und dem Nichtgreifbaren aber Vorhandenen, dem Drohenden, der Erinnerung an etwas, das es zu vergessen galt. Auf dem Weg nach draußen, der einer kleinen Flucht ähnelte, blieb ihr Blick für eine Sekunde an der Tür in der Diele hängen, die immer verschlossen blieb. Dann war sie aus der Wohnung gestürmt, in die heiße Mittagsonne, die jeden Schatten auf ein Minimum reduzierte. Aber nun war das Gefühl vorbei und Alena freut sich auf die angenehme Kühle ihrer Wohnung, als sie das Telefon klingeln hört. Sie murmelt eine Fluch und beschließt, nicht abzuheben. Dann fällt ihr ein, dass es Pia sein könnte. Die determinierte, energische Pia, die immer wieder anrufen würde, bis Alena ans Telefon gehen würde, oder die vielleicht sogar bald vor ihrer Tür stehen würde. Also schließt sie die Augen, hebt den Hörer ab und wartet. Nicht Pias selbstbewusste Stimme kommt ihr aus dem Hörer entgegen, sondern die mit Panik aufgeladene Aufregung Kaspars. „Alena, die Polizei war heute bei mir. Ein Typ namens Riesel. Er hat mich zum Mord an Schwarz befragt.“

Samstag, 18. November 2006

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31: Amtshilfe

Pia fragt nicht lange, woher Alena die Informationen hat. Die Erwähnung des unbekannten Historikers reicht ihr völlig: „Das ist hochinteressant.“ Pias Stimme verrät die nur mühsam unterdrückte Aufregung. „Wenn Burg also Kippe ist, dann hält er sich lt. den Ermittlungen von Schwarz in Freiburg auf.“ Eine kurze Pause. „Macht das Sinn? Was sollte er in Freiburg tun? Warum ist er nicht legal dorthin gezogen, hat sich in Hamburg abgemeldet und in Freiburg wieder angemeldet?“ Alena hält sich zurück, sie ahnt, dass Pia gerade laut denkt ohne sich dessen bewusst zu sein. „In der Nähe von Freiburg lebt Burgs Mutter in einem Pflegeheim,“ kommen weitere Überlegungen aus dem Hörer. „Hat er vor, sie zu besuchen? Aber angeblich wurde bisher niemand dort vorstellig. Die Leiterin hat meinem Kollegen erzählt, dass Frau Burg schon lange keinen Besuch mehr hatte.“ In Alenas Kopf klickt eine Verbindung. Etwas, das Kaspar erwähnte, bei dem Gespräch mit Brigitte Dahlem. „Pia, Burg soll selber Pfleger gewesen sein. Er hat in Heidelberg gearbeitet, ist dort mit dem sogenannten Sozialistischen Patienten Kollektiv in Berührung gekommen und von dort in die RAF gerutscht.“ Am anderen Ende ist Stille. Eine angespannte, rotierende Stille. Dann der Ausruf: „Verdammt, Burg könnte als Pfleger in dem Altenheim arbeiten. Unter falschem Namen.“ Erneute Stille, jetzt wieder nachdenklich. „Aber warum diese Heimlichtuerei?“ Alena steigt in die Spekulation ein. „Vielleicht wollte er seiner Vergangenheit entfliehen. Da weiter machen, wo er aufgehört hat. Und gleichzeitig etwas gut machen. Der Grund für sein Versteckspiel müssen keine geplanten Verbrechen gewesen sein, Burg hat vielleicht psychologische Gründe für sein Verhalten.“ Pia zögert, ohne zuzustimmen. „Vielleicht.“ Es klingt wenig überzeugt. „Aber das bekommen wir noch heraus. Ich werde jetzt erst mal anfragen, ob ein neuer Pfleger vor kurzem in dem Altenheim angestellt wurde. Dann sehen wir weiter.“ Kurze Pause, als erinnere sie sich an etwas. „Danke, Alena.“ Dann zeigt ein Klicken an, das der Hörer aufgelegt wurde. Alena lässt den Hörer auf die Gabel fallen und lehnt sich zurück. Mit weitgeöffneten Augen starrt sie in die Dämmerung des verdunkelten Raums.

Nervös klopft Pia mit den Fingern auf die Schreibtischunterlage. Tatsächlich arbeitet seit zwei Monaten ein Joachim Brückner in dem Altenheim, mit einem befristeten Vertrag zur Aushilfe. Laut Auskunft der Leiterin wurde Brückner aufgrund eines akuten Personalmangels eingestellt, er hatte gute Zeugnisse und gute Referenzen. Man sei froh gewesen, schnell einen Ersatz für einen krankheitsbedingten Ausfall erhalten zu haben, darum habe man sich mit den vorgelegten Papieren zufrieden gegeben. Es habe ohnehin keinen Anlass zum Zweifel gegeben. Pias Nervosität ist vor allem durch den Zusatz begründet, dass Brückner seit gestern nicht mehr zur Arbeit erschienen sei. Er habe außerdem Dienstag früher Schluss gemacht, aus dringenden persönlichen Gründen. Daraufhin hat Pia sich mit dem Leiter der Mordkommission des Kommissariats Freiburg verbinden lassen und ihn um Amtshilfe gebeten. Seine Leute sollten zu diesem Zeitpunkt bereits mit einem Foto von Burg auf dem Weg zum Altenheim und mit einer Vorladung auf dem Weg zur Wohnung von Joachim Brückner sein. Allerdings kann sich Pia an fünf Fingern abzählen, dass Burg nicht mehr in der Wohnung ist. Warum ist er plötzlich verschwunden? Wollte er sich mit jemandem treffen? Hat er Schwarz ermordet und wollte nun fliehen? Schwarz wurde Freitag Nacht ermordet, und Brückner hatte laut Auskunft der Leiterin Frühschicht, die um 16.00 Uhr endete. Mit einem Wagen könnte er es in vier Stunden bis nach Altenburg geschafft haben, den Mord verübt haben und wieder zurück nach Freiburg gefahren sein, wo er um 7.00 Uhr pünktlich seinen Dienst aufgenommen hatte. Alles möglich. Als Riesel zurück ins Büro kommt, brieft Pia ihn kurz und er starrt sie mit offenem Mund an. „Burg arbeitet als Pfleger im Altenheim seiner Mutter?“ Er legt die Notizen und ein paar Mappen ab und lässt sich auf seinen Stuhl fallen. „Ich habe die Überwachungsberichte von der Frankfurter Kripo, die damals für das BKA angefertigt wurden. Hansen aus der Verwaltung kennt jemanden bei der Kripo Frankfurt und der hat uns Kopien von den Berichten auf dem kleinen Dienstweg zugeschickt.“ Er klopft grinsend auf die Aktendeckel und Pias Augen leuchten auf. „Nicht schlecht, Riesel.“ Für eine Sekunde überlegt sie, ob sie selbst brauchbare Kontakte zu anderen Dienststellen hat oder auch nur jemanden kennt, der sie ihr knüpfen könnte. Da ihr niemand einfällt, zuckt sie mental mit den Achseln. Dafür hat sie kommunikationsbereite Mr. Nice Guys wie Riesel. Als das Telefon klingelt hält sie den Hörer binnen Sekundenbruchteilen an ihr Ohr. „Haben Sie etwas für mich,“ fragt sie anstelle einer Begrüßung. Stirnrunzelnd hört sie eine Weile zu und beendet das Telefonat mit den Worten: „Gut, so machen wir es. Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas Neues wissen.“

Freitag, 17. November 2006

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30: Fragen und Antworten

Nach dem Telefonat macht Alena sich einen schwarzen Tee, als erneut das Telefon klingelt. Sie steht einen Moment bewegungslos im Raum, bevor sie erneut den Hörer aufnimmt. „Kaspar hier. Alles klar bei Dir?“ – „Warte mal kurz.“ Sie holt den Tee aus der Küche und setzt sich vorsichtig mit der Tasse in der einen und dem Hörer in der anderen Hand in das dunkelbraune Ledersofa. „Warum rufst Du an,“ sagt sie in den Hörer. „Ich wollte nur wissen, ob alles in Ordnung ist. Du hast gestern etwas durcheinander gewirkt.“ Kaspars Stimme klingt vorwurfsvoll. Macht er sich Gedanken um sie, macht er sich Sorgen? Ihr gefällt dieser Gedanke nicht. Es darf nicht erneut zu der Situation kommen, vor der sie damals geflohen ist. Nein, sie ist nicht geflohen, sie hat sich zurückgezogen. Hätte sie aus Altenburg wegziehen sollen? „Bist du noch dran?“ Alena ruft sich in Erinnerung, dass sie ein Telefonat führt. „Die Kripo-Beamtin hat angerufen. Ich habe ihr von dem Treffen erzählt und sie will, dass wir so bald als möglich ein neues Treffen vereinbaren. Sie hat Fragen, auf die sie sofort eine Antwort haben muss.“ Sie hört Kaspar durch das Telefon pfeifen, während sie einen Schluck Tee trinkt. Er schmeckt bitter, weil sie den Zucker vergessen hat. „Ich wollte eigentlich ein paar Tage verstreichen lassen. Es ist nicht gut, wenn sie das Gefühl bekommt, wir bedrängen sie.“ Dann fügt er hinzu: „Was sind das für Fragen?“ Alena stellt den Tee auf einen Stapel Bücher auf dem kleinen Beistelltisch aus Mahagoni. „Kennst Du die Spitznamen Kippe und Kennedy? Sie will wissen, um wen es sich dabei handelt. Sie vermutet, dass es Kurznamen für die beiden anderen männlichen Mitglieder des Kommandos sind, deren Namen ich vergessen habe.“ Kaspar überlegt kurz. „In diesem Fall würde ich sagen, Kippe ist Burg und Kennedy ist Koch.“ Verblüfft fragt Alena: „Wie kommt du darauf?“ Sie sieht Kaspar lächeln, als er ihr erklärt: „Vielleicht kann man das als eine Art RAF-Humor bezeichnen. Als der Mord an Siegfried Buback, der damalige Generalbundesanwalt, geplant wurde, nannte man die Operation „Margarine“, weil seine Initialen SB auch der Name einer Margarine-Marke sind. Hans-Joachim Burgs Initialen sind kurz HB, die Zigarettenmarke, also Kippe. Und Kennedy passt ganz gut zu Koch, weil er Robert hieß, wie Bobby Kennedy. Außerdem war sein Vater so reich wie ein Kennedy.“ Alena grinst entzückt. „Das ist echt überzeugend. Am besten rufe ich sie gleich an und erzähle es ihr. Dann haben wir wieder etwas Luft für das nächste Treffen mit Brigitte Dahlem.“ – „Moment mal,“ wirft Kaspar hastig ein. „Wie willst Du ihr erklären, wie du zu dieser Erkenntnis kommst?“ – „Ich sage die Wahrheit, nämlich dass ich dich gefragt habe. Du bist der Spezialist, du kannst solche Sachen wissen.“ Kaspar grummelt durch den Hörer. „Das gefällt mir nicht. Nachher denkt sie noch, ich stecke mit den Dreien unter einer Decke. Vielleicht glaubt sie, es ist keine Schlussfolgerung sondern Insiderwissen.“ Alena runzelt die Stirn. „Mir wäre es lieber, wir können sie erst mal mit dieser Information abspeisen. Du kennst sie nicht, Kaspar. Sie ist absolut determiniert. Sie wird keine Ruhe geben, bevor wir Frau Dahlem nicht zum nächsten Treffen gebeten haben. Und wie willst Du Frau Dahlem die Notwendigkeit dieser Frage erklären? Das geht doch weit über die Informationen hinaus, die man für das Schreiben eines Buchs über Terrorismustheorien benötigt.“ Sie seufzt. „Sie will außerdem wissen, ob Frau Dahlem Kontakt zu ihren alten Bekannten, Burg und Koch hatte, und ob Schwarz sich bei ihr gemeldet hat. Er hat lt. ihren Ermittlungen gewusst, wo sie wohnt.“ Kaspar meint abwertend: „Es kann nicht schwer gewesen sein herauszufinden, wo sie wohnt. Sie steht zwar nicht im Telefonbuch, aber sie ist gemeldet.“ Er macht eine kurze Pause. „Viel interessanter ist, wo Burg und Koch sind. So viel wie ich weiß, ist Koch damals mit Marianne in die DDR geflohen.“ Alena stolpert über die Erwähnung seiner Mutter, es ist ungewohnt, ihren Namen aus seinem Mund zu hören. Aber wie soll er sie sonst nennen? Die Bezeichnung Mutter wäre sicherlich fehl am Platz. Dann konzentriert sie sich erneut auf seine Ausführungen: „Danach ist er verschwunden. Sein Vater ist, wie gesagt, reich, er ist irgendein Banker und hat viele Kontakte. Vermutlich hat er ihn wieder aus dem Osten geholt und jetzt sitzt Koch irgendwo unter falschem Namen. Vielleicht ist Koch aber auch in den Nahen Osten, um da so richtig Revolution zu machen.“ Alena trinkt erneut einen Schluck Tee und verzieht das Gesicht. Nun ist er nicht nur bitter, sondern auch lauwarm. „Burg ist nach der Entlassung ebenfalls verschwunden. Ich glaube, er hat kurz in Hamburg gewohnt, aber dort ist er nicht mehr.“ – „Woher weißt Du das alles,“ fragt Alena stirnrunzelnd. Ihre bösen Erwartungen werden bestätigt. „Ich habe mir einfach überlegt, wo Burg und Dahlem nach der Entlassung hin ziehen könnten. Dann habe ich ein paar Meldeämter angerufen und mich als Sachbearbeiter der Arbeitsgemeinschaft Sozialhilfe ausgegeben. In den meisten Fällen wollte man mir nur auf schriftliche Anfrage Auskunft geben, aber wenn man ein bisschen nett quatscht und über die viele Arbeit und die Hartz-IV-Empfänger stöhnt, dann klappt es oft doch. Auf diese Weise habe ich z.B. erfahren, dass Brigitte Dahlem Stütze erhält, dass sie in Köln gemeldet war, bevor sie nach Weißbach gezogen ist, und dass Burg in Hamburg gemeldet ist, aber die Wohnung leer steht,“ erzählt Kaspar leichtfertig. Alena seufzt. „Ich hätte besser nicht fragen sollen.“ Er lacht. „Das ist doch alles halb so wild. Ich nutze diese Informationen schließlich nur für Privatzwecke.“ – „Du wusstest auch, wo Schwarz wohnt,“ rutscht es Alena heraus. „Klar,“ kommt es prompt von Kaspar. Dann kurze Stille in der Leitung. „Aber nicht, weil ich nachgeforscht habe, sondern weil er in und wieder in der Zeitung stand.“ Alena bereut ihre Frage bereits. Kaspar hat nichts mit Schwarz´ Tod zu tun, sagt sie sich wiederholt. Gleichzeitig geht ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie sich anscheinend doch immer wieder davon überzeugen muss. Weil sie es insgeheim doch glaubt? „Gut,“ sagt sie jetzt. „Kann ich sie anrufen? Die Kripo-Beamtin?“ Kaspar zögert, angesichts des kurzfristigen Themenwechsels. Dann murmelt er: „OK. Aber sei vorsichtig. Wie das auch immer aussehen könnte.“

Donnerstag, 16. November 2006

sternkleinsternkleinsternklein

29: Spuren

Ein Bericht von der IT liegt am nächsten Morgen auf Pias Schreibtisch. Sie hat die Nacht über kaum geschlafen und die dunklen Schatten unter ihren Augen heute morgen notdürftig mit Concealer verdeckt. Müde lässt sie sich auf ihren gepolsterten Drehsessel fallen und zieht die rote Mappe zu sich heran. In der Nacht sind die Briefe mit dem RAF-Emblem durch ihren Kopf gespukt, zusammen mit dem alten Polizisten Schwarz, allein in seiner Wohnung sitzend, die Drohungen immer wieder lesend, bis er sie auswendig konnte. Wenn er laut Oberdorf keine Angst vor der Vergangenheit gehabt hatte, wozu hatte Schwarz sich dann das Sicherheitsschloss einbauen lassen? Gut, das war zwei Jahre her, länger als die Briefe, die erst seit Oktober des letzten Jahres in Schwarz´ vermutlich sonst so leeren Briefkasten gelegen hatten. Aber das Sicherheitsschloss war für Pia trotzdem ein Zeichen für seine Beunruhigung. Oder für Paranoia, was bei Ex-Polizisten meist nahe bei einander liegt. Lustlos schlägt sie den Karton auf und wird plötzlich aufmerksam. Der Bericht über den PC, der aus Schwarz Wohnung abgeholt und untersucht worden ist. Ihre erste Regung ist ein Griff in Richtung Telefonhörer, um sich über die viel zu lange Bearbeitungszeit zu beschweren. Aber ihre Tendenz sich unbeliebt zu machen wird von ihrer beruflichen Neugierde kurzzeitig verdrängt und sie beginnt zu lesen. Aktive Dateien, die Schreiben an die private Krankenversicherung und Ähnliches enthalten, eine Excel-Tabelle mit den monatlichen Ausgaben, die einen spartanischen Lebensstil verrät, gelöschte und überschriebene Dateien, die nicht mehr rekonstruiert werden können, gelöschte Dateien, die rekonstruiert werden können. Darunter eine Datei mit dem Namen „Harald.doc“. Pia erinnert sich an eine entsprechende Notiz auf den Blättern aus dem Schließfach. Vielleicht die Ergebnisse aus der Kontaktaufnahme zu Harald. Sie schreibt „Harald suchen“ auf ein kleines Blatt Papier und wirft es auf Riesels Schreibtisch. Der Inhalt der Datei ist auf den ersten Blick kryptisch. Drei Namen oder Bezeichnungen: Kippe, Gitte und Kennedy. Dahinter jeweils Spiegelstriche mit weiteren Informationen. Gitte lässt sich unschwer als Brigitte Dahlem identifizieren. Harald hat ihre aktuelle Adresse in Weißbach geliefert und weitere Angaben: Entlassung am 15. Juli 2004, eine Adresse in Köln, Auszugsdatum 31. Mai 2005. Einzug in die Wohnung in Weißbach am 1. Juni 2006. Ohne Arbeit. Lebensunterhalt bestritten durch Hartz IV. Hinter dem Spitznamen „Kippe“ befindet sich nur ein Spiegelstrich: Freiburg. Hinter Kennedy ebenfalls nur ein Spiegelstrich: Altenburg? Pia spürt ein leichtes Kribbeln in ihrem Nacken. Kippe und Kennedy könnten für Burg und Koch stehen. Wer ist wer? Und wer von beiden befindet sich in Altenburg? Kurzentschlossen wählt sie Alenas Nummer, nur vage bewusst, dass es erst 8 Uhr morgens ist. Doch bereits nach zweimaligem Klingeln hört sie Alenas Stimme durch den Hörer. Pia meldet sich, aber bevor sie etwas sagen kann, beginnt Alena von dem gestrigen Gespräch mit Brigitte Dahlem zu erzählen. „Es war nicht gerade informativ, oder, aber immerhin ein Anfang. Sie hat zugesagt, uns noch einmal zu treffen,“ endet ihr kurzer Bericht. „Wann ist das nächste Treffen,“ fragt Pia ungeduldig. „Ich habe eine dringende Frage.“ Nach einer kurzen Pause erklärt Alena unsicher: „Ich weiß es nicht. Ich muss mit meinem Bekannten sprechen. Und es sieht sicher komisch aus, wenn wir sie für morgen schon wieder bestellen.“ Pia flucht durch den Hörer und Alena erkundigt sich vorsichtig: „Worum geht es denn?“ Nach einem tiefen Einatmen erklärt Pia: „Ich muss wissen, wer sich hinter den Kurznamen „Kippe“ und „Kennedy“ verbirgt. Vielleicht waren das gängige Spitznamen. Ich vermute, dass es sich dabei um Burg und um Koch handelt, aber ich muss wissen, wer wer ist.“ Bevor Alena antworten kann, fährt sie fort: „Und versuchen Sie herauszubekommen, ob die Dahlem mit Schwarz gesprochen hat. Er wusste, wo sie wohnt. Und ob sie mit Burg oder Koch Kontakt hatte oder hat.“ Pause. „Ich versuche es. Aber sie ist nicht gerade mitteilsam. Eher sehr vorsichtig. Und ich glaube, sie mag mich nicht.“ Pia kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie beide nicht die besten Freundinnen werden. Aber geben Sie sich um Himmels Willen Mühe. Versuchen Sie, am Ball zu bleiben. Es ist mir lieber, wenn Sie bei den Gesprächen anwesend sind und mir die Informationen aus erster Hand liefern können. Ihren Historikerfreund kenne ich nicht und darum traue ich ihm auch erst mal nicht.“ Pia sieht Alena vor sich, in dem düsteren Wohnzimmer, dessen schwere Vorhänge die Morgensonne ausblocken, und mit den Fingern in den unordentlichen Locken spielend. „Ich tue, was ich kann,“ kommt die Antwort. „Wenn ich einen neuen Termin habe, melde ich mich wieder.“

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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