21: ein paar Überlegungen
Christopher nickt. „Ich erinnere mich. Es ist als Rache für den angeblichen Mord des Systems an Baader und Co. dargestellt worden. Der Beinahe-Anschlag hat für riesige Furore in der Presse gesorgt, vor allem wegen des Anschlagsziels. Von daher war es schon fast clever gewählt, sie bekamen die Publicity, die sie wahrscheinlich auch angestrebt hatten.“ – „Auf Publicity scheint sich die RAF eh am besten verstanden zu haben,“ bemerkt Pia trocken und erntet ein Grinsen. „Wirfst Du ihnen vor, dass sie schlampig gearbeitet haben?“ Christopher lehnt sich zurück und lächelt breit. „Tja, vielleicht wärst Du effektiver gewesen, wenn Du damals schon alt genug gewesen wärst. Was meinst Du, kannst Du Dir auch vorstellen, auf der anderen Seite Karriere zu machen?“ Pia antwortet nicht sofort. Sie betrachtet wieder die kleine Porzellantasse, die sie irgendwann mal mit Christopher auf einem Trödel in Rom gekauft hatte. Ihr Leben ist in einer geraden Linie verlaufen, ohne große Schicksalsschläge, ohne besondere Ereignisse. Hätte sie ein Erlebnis aus der Bahn geworfen, was wäre passiert? Nicht jeder findet zurück in die Spur. Und manche verlassen sie freiwillig. Ist es ein Zeichen für Mittelmäßigkeit, dass sie stetig diese Gerade entlang gegangen ist? Ein Zeichen für Phantasielosigkeit oder Bequemlichkeit? Alena fällt ihr ein, die ein Leben neben der Spur lebt, aber sich nie weit davon entfernt, quasi parallel dazu läuft. Dann wird ihr bewusst, dass Christopher sie aufmerksam beobachtet. „Die Frage ist nicht leicht zu beantworten,“ suggeriert er. „Niemand ist als Kripo-Beamter geboren. Oder als Terrorist. Es sind Entscheidungen, die wir treffen.“ Sie weicht seinem Blick aus. „Treffen wir wirklich immer Entscheidungen? Das können doch nur Philosophen behaupten. Tatsächlich gibt es doch Situationen, in die wir hineingeraten, in denen wir in eine bestimmte Richtung geschubst werden und dann einfach weiterlaufen, oder?“ Christopher seufzt. „Bei Heidegger gibt es den Begriff der Geworfenheit, und das bedeutet, dass man immer schon situiert ist, sich bereits in einer Gegebenheit befindet.“ Sein Blick verliert sich im dunklen Flur hinter ihr. „Aber wie zwingend ist diese Gegebenheit für eine Handlungsentscheidung? Jetzt mal abseits von Heidegger und von katheder-philosophischen Überlegungen, aber findest Du nicht, dass der gesunde Menschenverstand uns zeigt, dass wir uns zumindest bewusst werden sollten über die Situation, in der wir uns befinden? Und damit auch bewusst über die Handlungsalternativen, die wir haben?“ Er schüttelt den Kopf, fast ärgerlich. „Nimm Ulrike Meinhof als Beispiel. Sie war angesehene Journalistin, hatte zwei Kinder, einen Ehemann, war wohlhabend. Nichts und niemand hat sie gezwungen, in den Untergrund zu gehen und Bomben zu legen. Oder Gudrun Ensslin, deren Eltern freigeistige Theologen waren und auch noch nach dem Brandanschlag auf das Frankfurter Kaufhaus zu ihr standen. Ensslin hätte sicher jederzeit ihr Studium wieder aufnehmen und sich auf die Unterstützung ihrer Eltern verlassen können.“ Nun sucht er den Blick Pias. „Sie haben diesen Weg frei gewählt. Sie haben eine Entscheidung getroffen.“ Pia fühlt bleierne Müdigkeit in sich aufsteigen. „Vielleicht waren sie zumindest darin vielen Menschen voraus,“ murmelt sie. „Menschen, die keine Entscheidung treffen, sondern sich anpassen, den Weg des geringsten Widerstands gehen. Die sich im Leben treiben lassen, ohne Ambitionen.“ Christopher legt einen Finger unter ihr Kinn und hebt ihren Kopf so, dass sie ihn anschauen muss. „Aber das trifft doch nicht auf dich zu. Du bist der gradlinigste Mensch, den ich kenne.“ Er lächelt. „Du hast Ziele und triffst daraufhin deine Entscheidungen, jeden Tag. Und lässt dich durch nichts davon abbringen. Was nicht immer eine positive Eigenschaft ist.“ Sein Grinsen verschwindet. „Aber deine Gedanken gerade sind ein Echo dessen, was anscheinend die Linke in den 70ern empfand. Schuldgefühle, weil andere konsequenter waren, als sie. Selbstzweifel nach dem Rückzug aus der 68er Revolution in das sogenannte bürgerliche Leben. Die eigene Konfrontation mit Begriffen wie Feigheit oder Bequemlichkeit. Die Frage nach Authentizität.“ Pia fühlt seinen Blick. „Wenn wir mit den extremen Entscheidungen Anderer konfrontiert werden, fühlen wir uns herausgefordert, unseren eigenen Lebensweg zu hinterfragen. Aber das ist eine rein psychologische Reaktion, sie hat keinen ethischen Hintergrund. Das Extreme allein ist keine Handlungsbegründung, es kommt auf den Inhalt einer Überzeugung an, oder die Intention einer Handlung, nicht auf ihre Qualität.“ Pia nickt langsam und steht auf. „Ich muss ins Bett. Und wenn ich Brigitte Dahlem das nächste Mal sehe, lade ich sie mal zum Essen ein, dann kannst Du Dich mal mit ihr unterhalten. Vielleicht belegt sie dann sogar demnächst ein paar Kurse bei Dir.“ Aber ihr Lächeln ist nicht zynisch.
Flannery Culp - 25. Okt, 20:14