Sonntag, 29. April 2007

sternkleinsternkleinsternklein

106: Aktion

„Sie bleiben hier oben,“ kommandiert Frau Dahlem, als sie sich vorsichtig vom Fenster wegrobbt. „Kommt nicht in Frage,“ wispert Alena empört. Sie steht auf und geht schnell in Richtung Flur. „Sie müssen mich schon anbinden, wenn Sie wollen, dass ich hier bleibe.“ Ihr fällt ein, dass Brigitte Dahlem mit einer solchen Aktion wahrscheinlich keine Probleme hat, aber sie kreuzt trotzig die Arme über der Brust und presst die Lippen aufeinander. Die Frau folgt ihr in den Flur und baut sich direkt vor ihr auf. Alena hält dem bohrenden Blick stand und schließlich seufzt Frau Dahlem. „Aber Sie halten sich im Hintergrund und machen genau, was ich sage!“ Eingeschüchtert von dem Befehlston nickt Alena schnell.

Die beiden verlassen die Wohnung und gehen leise die Treppe hinunter. Im Haus ist alles still. Alena wagt einen Blick auf ihre Armbanduhr. Kurz vor halb drei. Vor ihr biegt die schmale Gestalt von Frau Dahlem um die Ecke und steigt die Kellertreppe hinab. Unten ist eine Tür, die in den Hinterhof führt. Es ist stockdunkel im Keller, nur durch das Milchglasfenster der Tür kommt ein wenig Licht hinein. Vorsichtig drückt die Frau die Klinke und macht Alena ein Zeichen. Sehr leise lässt sie die Tür wieder ins Schloss fallen, als beide auf dem Betonfußboden des Hofs stehen.

Alena blickt nach oben. Kein Stern am Himmel, es ist bewölkt. Plötzlich muss sie an Kaspar denken, der diese Nacht bestimmt nicht schläft. Vielleicht sieht er auch gerade in den Himmel. Falls seine Untersuchungszelle überhaupt ein Fenster hat. Sie fühlt einen starken Griff an ihrem Arm und wird nach vorne gezogen. „Schlafen Sie nicht ein,“ zischt Brigitte Dahlem. Der Hof ist durch eine brusthohe Mauer von einem weiteren Hof abgetrennt, die Frau Dahlem mühelos überklettert. Alena zieht zweifelnd auf die verputzte Wand, dann krallt sie sich am Mauerrand fest, springt ungeschickt hoch und schwingt ein Bein über die Mauer. Sie fällt eher herunter als dass sie weich landet und Frau Dahlem stöhnt leise. „Du lieber Himmel, ich wäre doch besser allein gegangen,“ murmelt sie ungeduldig, aber Alena ist schon wieder auf ihren Füßen. „Wo geht’s lang?“ Die Hand der Dahlem zeigt auf die Hintertür des Mietshauses vor ihnen. Vor der Tür bleibt sie stehen und hantiert an dem Schloss herum. Es ist zu dunkel um etwas zu erkennen, aber schnell ist die Tür auf und beide betreten einen dunklen Raum, der das genaue Gegenstück zu dem vorigen Kellerraum bildet. Sie schleichen die Treppe hinauf und verlassen das Mietshaus durch den Vordereingang. Jetzt stehen sie auf der Parallelstraße. „Kommen Sie,“ flüstert Frau Dahlem und joggt voran; Alena sieht den Pferdeschwanz wippen. Sie bemüht sich, Schritt zu halten und die beiden laufen bis zum Ende der Straße. Hier ist ein kleine Kreuzung.

„Wir laufen jetzt an den Häusern vorbei, über meine Strasse hinweg, bis zur nächsten Kreuzung, dann rechts die Straße runter. Ungefähr auf der Mitte der Straße ist ein kleiner Trampelpfad, der zwischen den Blöcken durch führt. Wenn wir im Vorhof sind, schleichen wir uns an den Häusern vorbei bis wir bei dem Haus sind, wo Sie gerade gestanden haben. Dort stellen wir uns hinter die Mülleimer.“ Sie sticht mit dem ausgestreckten Zeigefinger in Alenas Brustkorb. „Und da bleiben Sie stehen. Wenn Sie mir weiter folgen, breche ich die Aktion ab. Sie können von dort den Wagen sehen und wahrscheinlich auch alles hören. Mehr ist nicht drin.“ Ihre Flüstern ist bestimmt und Alena nickt ergeben. Frau Dahlem ist noch nicht fertig. „Wenn wir gleich über die Straße laufen, müssen wir schnell und leise sein, sonst bemerkt er uns vielleicht. Der Wagen ist zwar ziemlich weit weg, aber mit Ihnen im Schlepptau werde ich wahrscheinlich noch erwischt , wenn der Fahrer blind und taub ist.“ Alena zieht eine Grimasse, nickt aber gehorsam. „Los!“

Samstag, 28. April 2007

sternkleinsternkleinsternklein

105: Heimfahrt und Aufbruch

Pia sieht müde auf die Uhr. Halb Zwei. Krause hat vor einer Stunde mit seiner Frau das Essen verlassen, und seitdem wehrt sie die neugierigen Fragen von Bergmann ab. „Ich kann Ihnen wirklich nicht mehr erzählen. Es handelt sich um laufende Ermittlungen,“ wiederholt sie genervt, aber Bergmann lässt sich nicht so schnell abwimmeln. „Aber warum suchen gerade Sie flüchtige RAF Terroristen? Das ist doch eigentlich Sache des Verfassungsschutzes oder des BKA.“ Pia rollt mit den Augen. „Wollen Sie das jetzt zu einem Zuständigkeitsproblem machen? Das BKA hat augenscheinlich keine Ahnung wo Koch steckt. Das ist doch nicht meine Schuld. Ich werde es ihnen schon früh genug mitteilen. Aber den Zeitpunkt bestimme ich.“ Sie fixiert Bergmann drohend. „Und wenn ich irgendwas davon morgen in der Zeitung lese, dann hole ich mir Ihren Kopf.“ Bergmann grinst verschwörerisch. „Ich schweige wie ein Grab.“

Christopher kommt zurück an ihren Tisch und stützt sich mit den Unterarmen schwer auf die runde Platte. „Ich kann nicht mehr. Die Ausführungen von Professor Helmstedt zur Lichtmetaphysik haben mir den Rest gegeben.“ Er sieht Pia an. „Wollen wir langsam mal fahren, oder kannst du dich noch nicht losreißen?“ Pia zieht die Augebrauen hoch. „Ich warte nur darauf, dass du dich endlich entschließt, deine entzückenden Kollegen, die du schon morgen alle wieder siehst, endlich zu verlassen.“ Sie wirft einen Blick auf Bergmann. „Während du dich erleuchten ließest, musste ich mich hier um den universitären Nachwuchs kümmern. Ich komme mir schon vor wie ein Babysitter.“ Bergmann lacht aus vollem Halse und schlägt Christopher auf den Rücken. „Sie ist klasse. Echt. Habe ich schon gesagt, dass ich sie liebe?“ Christopher seufzt und nickt. „Wie kommen Sie nach hause,“ fragt er, im Hinblick auf den leicht alkoholisierten Zustand seines Kollegen. „Keine Ahnung. Vielleicht schlafe ich im Büro. Das habe ich schon öfter gemacht.“ – „Das wundert mich nicht,“ murmelt Pia und Christopher nimmt Bergmann beim Arm. „Kommen Sie, wir teilen uns ein Taxi.“

Eine halbe Stunde später steht das Taxi vor dem modernen Mehrfamilienhaus, in dem sich ihre Eigentumswohnung befindet. Christopher bezahlt den Fahrer, während Pia den schwarzen Wollschal enger um ihre Schultern zieht. Es ist kühl geworden. Sie blickt nach oben und sieht nichts als das unruhige Dunkel einer bewölkten Nacht. Der Fahrer knallt die Wagentür zu und fährt los. Sie betrachtet die wenigen Fahrzeuge, die an der Straße parken und versucht automatisch, den Umriss eines Körpers in einem der Wagen zu entdecken. Christopher kommt zu ihr und legt den Arm um sie. „Kalt,“ fragt er. Sie nickt und schmiegt sich enger an ihn. „Vielleicht hätte ich Krause doch folgen sollen,“ murmelt sie. Christopher löst sich von ihr und sieht streng in ihr Gesicht. „Kannst du nicht einmal diesen Fall vergessen? Himmel, wir stehen hier in der Nacht, du hast ein bezauberndes Kleid an, ich bin leicht betrunken und die Sterne funkeln über uns. In einer solchen Situation könnten wir doch mal ein anderes Gesprächsthema anschneiden. Oder besser gar nicht reden.“ Pia verzichtet darauf, ihn darauf hinzuweisen, dass die Sterne nicht über ihnen funkeln, und erwidert seinen Kuss.

Aber ihre Gedanken sind nicht bei ihrem Mann. Sie schweben über einer Straßen in Weißbach. Ihr imaginäres Auge überblickt die Reihe von Autos, die dicht hintereinander an beiden Seiten der Straße stehen. Es zoomt hinunter, in jeden einzelnen Wagen hinein, und versucht eine Silhouette zu erspähen, ein Profil. Was, wenn Brigitte Dahlem doch recht hatte mit ihrer Beobachtung? Und was, wenn Krause oder Koch heute Abend wieder seinen Wachposten einnimmt? Sie denkt an das Weinglas in ihrer Tasche. Ob Krause wirklich Koch ist, wird sich erst nach einer Analyse der Fingerabdrücke zeigen. Aber ihr Instinkt sagt ihr, dass kein Zweifel besteht. Und ihr Instinkt lockt sie in die diese Straße. Jetzt. Ihr Instinkt hat immer recht, oder? Na gut, fast immer. Aber was spricht schon dagegen, heute nacht noch mal bei der Dahlem vorbeizufahren? Wenn sie sich irrt, wird es nie jemand erfahren. Und wenn sie recht hat, …. Pia muss bei dem Gedanken an ihren Triumph lächeln. Und an die Beförderung, auf die sie schon so lange wartet. Vielleicht bekommt sie eine eigene Abteilung?

„Schatz, kann es sein, dass du nicht ganz bei der Sache bist?“ Christopher schaut sie fragend an und Pia kann die Frustration in seinen Augen entdecken. Sie gibt ihm einen entschuldigenden Kuss auf die Wange. „Es tut mir leid, wirklich. Aber ich ziehe mich jetzt um und fahre noch mal los. Es ist wichtig.“ Sie legt einen flehenden Ausdruck in ihre Augen, auch wenn sie langsam ahnt, dass Christopher darauf nicht mehr hereinfällt. Ihr Mann reißt entsetzt die Augen auf. „Du kannst jetzt nicht mehr fahren, du hast getrunken! Und nicht nur ein Glas Wein! Und was soll das überhaupt, hat das nicht Zeit bis morgen früh?“ Er reißt seinen Arm hoch und schüttelt die Armbanduhr unter seinen Jackettärmel hervor. „Es ist fast halb drei! In fünf Stunden bist du doch eh schon wieder im Büro.“ Fassungslos starrt er sie an. Pia fasst sanft seinen Arm und zieht ihn in Richtung Haustür, wo sie den Schlüssel aus ihrer Handtasche holt. „Ich bleibe nicht lange weg, versprochen. Ich bin vielleicht in einer Stunde schon wieder zurück. Ich muss mich nur von etwas vergewissern. Vorher kann ich sowieso nicht schlafen.“ Seufzend folgt Christopher ihr in den Hausflur. Er weiß, dass er gegen den Starrsinn seiner Frau keine Chance hat.

Donnerstag, 26. April 2007

sternkleinsternkleinsternklein

Buback-Boock Gespräch

Mittwoch Abend sendete die ARD ein Gespräch zwischen Michael Buback und Peter-Jürgen Boock. Moderiert wurde das ganze von Herrn Herres und auch Stefan Aust, als außenstehender Experte, war anwesend. Inhalt und Kommentare sind nachzulesen z.B. hier oder hier.

Mein subjektiver Eindruck: es war ordentlich gruselig. Es berührte, den offensichtlichen Schmerz von Herrn Buback zu beobachten, wenn Boock davon sprach, wie sein Vater als potenzielles Anschlagsziel ausgewählt wurde und dabei automatisch in einen mehr oder weniger technischen Jargon verfiel. Man konnte die Anspannung förmlich spüren, die zwischen den beiden geherrscht hat und vielleicht auch zum ersten Mal einen echten Eindruck davon bekommen, wie hart die Situation damals, aber auch jetzt für die Hinterbliebenen der Terroropfer sein muss.

Dies ist meiner Meinung nach ein wichtiges Ergebnis dieser Sendung, die wenig neue Informationen zu Tage brachte und deren Ausstrahlung und Ausführung bisher vornehmlich kritisiert wird.

Was noch überdeutlich wurde: die Angehörigen weigern sich, die tödlichen Anschlage in einem politischen oder weltanschaulichen Zusammenhang stehen zu lassen. Der Wunsch nach gezielter Aufklärung des Todesschützen ist m.E. ein wesentlicher Hinweis darauf. Die RAF mag sich als Gruppe für die Anschläge verantwortlich zeigen, aber für die Hinterbliebenen ist es Mord. Ein Mord, der von einem Einzelnen verübt wurde, und der damit aus dieser Gruppenverantwortlichkeit herausgerissen werden muss. Das ist die deutlichste Demonstration dafür, dass niemand von ihnen die politischen Gründe der RAF anerkennt – und ganz abgesehen davon, dass diese Gründe bald sowieso nur noch Alibifunktion hatten, haben sie m.E. Recht mit dieser Einstellung.

Zu Herr Boock: trotz des Hangs zur Selbstdarstellung, zu dem Herr Boock zu neigen scheint, erfordert es Mut, sich diesem Treffen öffentlich zu stellen. Er kann nicht damit rechnen, die Akzeptanz der Gesellschaft zurück zu gewinnen, auch wenn er seine Kooperation anbietet. Sollte der Anruf bei Buback ein Schritt zur Absolution sein? Er hat selbst zugegeben, dass die persönliche Aufarbeitung niemals beendet sein wird und vielleicht wird auch die gesellschaftliche Aufarbeitung niemals aufhören. Die RAF hat sich damals aus der Gesellschaft ausgegrenzt indem sie ein politisches System attackierte, hinter dem die Mehrheit der Deutschen damals stand. Was auch dazu geführt hat, dass der Einzelne dieser Mehrheit sich persönlich bedroht gefühlt zu haben scheint. Das mag auch der Grund dafür zu sein, dass diese Ausgrenzung für den Einzelnen RAF-Angehörigen bis heute kaum zu überwinden sein wird.

104: Beschlüsse

Sie hört die Atemzüge von Brigitte Dahlem, gleichmäßig und tief. „Es kann nur Robert Koch sein.“ Alena verschluckt sich fast beim hastigen Luftholen. „Ist das jetzt eine Vermutung, oder haben Sie Beweise?“ – „Alles andere macht keinen Sinn,“ antwortet die Stimme unter dem Fenster. „Vermutlich hat Schwarz ihn aufgespürt und Koch wollte unerkannt bleiben. Er wird sich ein respektables bürgerliches Spießerleben aufgebaut haben und glaubt, dass es seinem Ruf schadet, wenn die lieben Nachbarn erfahren, dass er früher mal bei der RAF war.“ Alena hört die Verachtung aus ihrer Stimme heraus und das beunruhigt sie. „Wenn das wirklich Koch ist, dann sollten wir die Polizei einschalten. Ich könnte Frau Stein-Bachmüller anrufen.“ Sofort hebt Frau Dahlem die Hand und zischt: „Auf keinen Fall. Das ist meine Angelegenheit. Ich werde damit allein fertig.“ – „Unsinn,“ zischt Alena zurück. „Das ist nicht allein Ihre Angelegenheit. Das ist vor allem Sache der Polizei. Hier geht es doch nicht um einen internen Bandenkrieg.“ Wütend flüstert die Gestalt im Schatten: „Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?“ – „Auf Kaspars Seite,“ antwortet Alena würdevoll. „Und wenn die Polizei den Mörder an Schwarz und Burg verhaftet, dann können ihm diese Taten wenigstens nicht mehr angelastet werden.“ Sie macht eine Kunstpause und fügt dann hinzu: „Wollen Sie Kaspar nun helfen oder nicht?“

Brigitte Dahlem antwortet nicht sofort. Dann meint sie: „Aber wir haben überhaupt keine Beweise, dass Koch tatsächlich der Mörder von Hajo ist. Selbst wenn wir die Bullen holen, womit wollen Sie den Verdacht begründen?“ Bestimmt sagt Alena: „Pia Stein-Bachmüller braucht keine Begründung. Sie ist sehr daran interessiert, Koch zu finden. Und außerdem wird er doch garantiert noch wegen seiner RAF Tätigkeit gesucht.“ – „Wie dick sind Sie eigentlich mit dieser Stein-Bachmüller?“ Das Misstrauen ist wieder fühlbar. Alena macht eine beschwichtigende Handbewegung und ist sich bewusst, dass Brigitte Dahlem ihr Gesicht sehr viel besser sehen kann als sie das der Frau unter dem Fenster. „Wir sind nicht befreundet. Ich glaube, ich weiß nur mittlerweile wie sie… .“ Alena zögert einen Moment diesen Begriff zu verwenden, der für sie so fest in dem RAF-Jargon verankert ist. Aber dann fährt sie fort: „Ich weiß eben, wie sie tickt.“

Alena kann förmlich spüren, dass Brigitte Dahlem nachdenkt und sie hofft, dass das Bekenntnis zu Kaspar gerade nicht nur leere Worte waren. Schließlich beginnt die Ex-Terroristin langsam: „Gut. Wir rufen die Bullen, wenn das Kaspar Wagenbach entlastet.“ Erleichterung steigt in Alena hoch. Aber Brigitte Dahlem ist noch nicht fertig: „Aber vorher vergewissern wir uns, dass da unten im Wagen tatsächlich Robert Koch sitzt. Und wenn er es ist, werde ich ein paar Worte mit ihm wechseln, denn er hat mir offensichtlich einiges zu erklären.“

Alena schließt die Augen. Genaugenommen hat sie keine Wahl. Ihr ist unwohl bei der Sache, aber sie hat kein Handy, mit dem sie Pia jetzt schon verständigen könnte. Und obwohl es ihr selbstverständlich erscheint, dass der Typ unten im Wagen mit den Morden zu tun hat, sei es nun Koch oder jemand anders, ist es unter Umständen vielleicht besser, erst einmal einen Blick auf ihn zu werfen und ihn zu befragen. „Einverstanden,“ murmelt sie schwach. Und beschließt sich nach dieser Nacht schnellstens ein Handy zuzulegen.

Dienstag, 24. April 2007

sternkleinsternkleinsternklein

103: Bekenntnisse

Beide schweigen und die Nacht beherrscht das Zimmer. Unruhige Gedanken flackern in Alenas Kopf. Sie glaubt ihr. Dahlem und Burg haben Schwarz nicht ermordet. Aber wer bleibt dann noch übrig, außer – nein, das will sie erst recht nicht denken. Sie hat sich entschlossen, Kaspars Freund zu sein. Aber wenn Kaspar tatsächlich einen Menschen umgebracht hat? „Haben Sie mal jemanden getötet,“ fragt sie unvermittelt und der Kopf von Brigitte Dahlem dreht sich in ihre Richtung. Einen Moment bleibt sie bewegungslos, dann deutet sie ein Kopfschütteln an.

„Nein, nicht mit eigenen Händen. Aber ich habe bei den Vorbereitungen geholfen. Und ich war einmal dabei.“ Sie ringt nach Worten. Alena spürt, wie schwer es ihr fällt, darüber zu sprechen. Das Geschehen in Begriffe zu fassen, in eine Form zu bringen, die nicht nur innerhalb ihres engen Kommunikationskreises verständlich ist, in dem so vieles ungesagt geblieben war. „Und das ist so, als hätte man denjenigen selbst getötet. Wenn man in einer Gruppe mit identischen Zielen ist, dann trägt jeder die Verantwortung für das Handeln des Einzelnen, das der Realisierung dieser Ziele dient. Und ich hätte es getan, wenn ich an der Reihe gewesen wäre.“

Alena schluckt. „Haben Sie Kaspar auch gefragt, ob er Schwarz erschossen hat?“

Sie fühlt den Blick der Dahlem auf sich. „Ja,“ antwortet die dunkle Gestalt im Sessel. Alena wartet, mit Angst in der Brust, aber Brigitte Dahlem macht keine Anstalten, weiter zu reden. „Und, was hat er gesagt?“ Ihre eigene Stimme hört sich krächzend an. Die Stille tropft zwischen ihnen. Dann ein Seufzer. „Ich habe ihn gefragt, ob er Schwarz ermordet hat und er hat gesagt, er wisse es nicht genau.“

Die Luft im Zimmer wird so dünn, dass man sie kaum atmen kann. „Was soll das heißen? Wie kann man das nicht so genau wissen? Entweder man hat oder man hat nicht.“ In ihrer Verwirrung ist Alena schon fast wieder wütend. „Als ich ihn fragte, ob er den Abzug betätigt hat, hat er verneint. Allerdings,…“ Erneutes Stocken, und Alena weiß, dass sie nichts Erleichterndes hören wird. „Er sagt, ihm sei klar gewesen, dass die Briefe eventuell den Tod von Schwarz zur Folge haben können. Auf die eine oder andere Art. Er hat wohl eher an Selbstmord gedacht. Ausschlaggebend war anscheinend der Versuch, der Sache eine neue Dynamik zu geben. Aber je länger er darüber nachgedacht hat, desto mehr ist ihm klar geworden, dass er irgendwen zur Verantwortung ziehen möchte. Dass irgendwer büßen soll. Der Tod von Schwarz war kein Schock für ihn, eher eine Art Genugtuung.“

Alena lässt das Gesagte sacken. Es entspricht ihren Befürchtungen und doch beruhigt sie sich langsam. Die vergebliche Suche nach seiner Mutter und ihren Motiven hat ihre Spuren bei Kaspar hinterlassen. Er ist rachsüchtig geworden. Ungerecht. Man kommt nicht unbeschadet aus einer solchen Sache heraus. Das ist vielleicht keine Entschuldigung, aber es schließt eine Lücke in ihrer Rekonstruktion. Dann kommt ihr ein anderer Gedanke: „Als Sie Kaspar von seiner Mutter erzählt haben, an dem Tag, an dem ich auch da war, haben Sie schon gewusst, dass ihn das unter den gegebenen Umständen noch mehr treffen muss.“ Fast kommt es ihr so vor, als würde sie ein trauriges Lächeln auf dem Schatten entdecken, der das Gesicht der Dahlem verbirgt. „Ja, das habe ich. Aber es war notwendig. Und vermutlich hätte ich ihm schon vorher von ihr erzählen sollen.“ Wieder der angestrengte Versuch, Angedachtes in Worten zu formulieren. „Ich hätte seine Suche beenden können, wenn ich ihm die wahre Geschichte seiner Mutter erzählt hätte. Dann wäre es vielleicht nie zu diesen Drohbriefen gekommen.“ Die kleine Pause unterstreicht ihre nächsten Worte. „Aber ich habe es nicht getan. Damit ist alles, was geschehen ist, auch meine Schuld. Oder unsere Schuld. Niemand von uns hat an die gedacht, die zurück geblieben sind. Wir waren so damit beschäftigt die Welt zu retten, dass wir die vergessen haben, die uns am nächsten standen. Die wir am leichtesten hätten retten können.“

Alena bekommt kein Wort heraus. Sie fühlt sich völlig erschlagen. Nicht nur, dass sie diese Gedanken nicht von Brigitte Dahlem erwartet hätte. Mehr noch überwältigt sie im Zusammenhang mit Kaspars Misere das Gefühl des bodenlosen Abgrundes, in dem die beiden stecken, jeder für sich und doch durch einen dünnen und instabilen Faden verbunden.

Plötzlich springt Brigitte Dahlem auf. Sie drückt sich an die Wand des Wohnzimmers und schleicht zum Fenster, wo sie sich unter die Fensterbank kniet und sich dann langsam mit den Fingerspitzen hochzieht, bis sie auf die Straße sehen kann. So ist sie von unten unsichtbar, fährt es Alena durch den Kopf. Darum habe ich sie nicht gesehen, obwohl sie den ganzen Abend hier war. „Was ist los,“ flüstert sie. Die Dahlem macht eine warnende Handbewegung. Sie kniet sich wieder hin und wendet sich zu Alena. „Der Wagen ist da.“

Alena reißt die Augen auf aber widersteht dem Impuls, sofort aufzuspringen. „Was machen wir jetzt?“ – „Nichts. Wir warten, ob etwas passiert.“ Alena schüttelt vehement den Kopf. „Da unten sitzt der Mörder von Schwarz und Burg! Wollen Sie nicht wissen, wer es ist?“ Brigitte Dahlems Augen funkeln in der Dunkelheit. „Seien Sie leise und rühren Sie sich nicht.“ Sie scheint zu überlegen, dann erklärt sie kurz: „Ich weiß, wer es ist.“ Die Aufregung bringt jedes Körperteil Alenas zum Kribbeln. „Wer?“

Freitag, 20. April 2007

sternkleinsternkleinsternklein

102: Aussprache

„Antworten Sie leise. Was tun Sie hier,“ wird drohend geflüstert. Überrascht stellt Alena fest, dass sich die Stimme bekannt anhört und auf einmal weiß sie, wer hinter ihr steht. „Frau Dahlem?“ Die Worte erzeugen einen Hustenreiz in ihrer Kehle, aber nun lockert sich der Arm um ihren Oberkörper und der Druck des Laufs wird geringer. „Alena Brandenburg!“ Alena gelingt es, sich umdrehen und sie sieht in Brigitte Dahlems ungläubiges Gesicht. „Was zum Teufel machen Sie hier?“ Frau Dahlem ist ganz in schwarz gekleidet und hat die Haare zu einem strengen Zopf gebunden. Sie nimmt die Waffe herunter, die an ihr keineswegs wie ein Fremdkörper wirkt. Im Zusammenhang mit dem herben Gesicht und den entschlossenen Augen der Frau scheint sie ein selbstverständliches Utensil. Trotzdem dürfte die Dahlem keine Waffe besitzen. „Woher haben Sie die Pistole?“ Frau Dahlem wirft einen kurzen Blick darauf, dann entsichert sie sie und steckt sie in den Hosenbund. „Das hat Sie nicht zu interessieren.“

Sie runzelt die Stirn und fragt nun ärgerlich: „Schnüffeln Sie hinter mir her?“ Alena spürt, wie ihre Knie weich werden, als die Anspannung ihren Körper verlässt und sie schwankt ein wenig. Sofort ergreift die Dahlem ihren Arm. „Geht es Ihnen nicht gut?“ Alena winkt schwach ab. „Alles in Ordnung. Ich habe mich nur etwas erschrocken.“ Sie atmet ein paar tiefe Züge ein und aus und sucht dann Brigitte Dahlems Augen. „Kaspar ist verhaftet worden,“ sagt sie. Ein seltsamer Ausdruck erscheint auf dem Gesicht der Frau. Sie sieht sich um und betrachtet dann aufmerksam die Straße. „Kommen Sie, wir gehen in meine Wohnung. Dort können wir reden.“

Seufzend lässt sich Alena auf das Sofa im Wohnzimmer sinken. Hier ist es weniger kühl als draußen, und sie ist froh, ihre schmerzenden Füße entlasten zu können. Brigitte Dahlem setzt sich auf den Sessel, ohne das Licht anzumachen. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, es wäre mir lieber so,“ erläutert sie. Alena zuckt mit den Schultern. Durch das Fenster scheint das fahle Licht der Straßenlaterne herein ohne das Gesicht der Dahlem zu erreichen. Nur vage erkennt Alena ihre Gesichtszüge. Aber sie hat Verständnis für seltsame Angewohnheiten. „Möchten Sie einen Kaffee?“ Überrascht nickt Alena und beobachtet, wie Frau Dahlem sich erhebt und in die kleine Küche geht. Im Dunkeln rauscht Wasser in eine Glaskanne, gefolgt vom Rascheln der Filtertüte. Als die Kaffeemaschine zu klacken beginnt, kehrt Frau Dahlem zurück und setzt sich.

„Was ist nun mit Kaspar Wagenbach?“ Alena beginnt zu erzählen. In einem Anfall von Geistesgegenwart lässt sie das Treffen mit Pia aus und ändert den Anfang dahingehend, dass sie aus Sorge um Kaspar zu Pia gegangen und mit ihr zur Wohnung gefahren ist. Sie berichtet von dem Fund im Arbeitszimmer und von der anschließenden Verhaftung. Sie schildert ihre Überlegungen hinsichtlich des Wagens vor Brigitte Dahlems Wohnung und ihre Sorge, dass es sich um Kaspar gehandelt haben könnte. Zeitweise schließt sie ihre Augen während des Berichts, da sie in der Dunkelheit sowieso keine Reaktion erkennen kann. Als sie fertig ist, steht Brigitte Dahlem auf, geht in die Küche und kommt mit zwei Bechern Kaffee zurück. „Ich habe Zucker für Sie hineingetan,“ sagt sie und Alena nimmt dankbar den heißen Becher entgegen. Der erste kleine Schluck Kaffee steigt direkt in ihr Gehirn und macht sie hellwach.

„Warum sind Sie nicht zu mir gekommen? Ich wäre auch mit Ihnen zu Kaspar gefahren. Und dann würde Wagenbach jetzt garantiert nicht so tief in der Scheiße stecken.“ In ihren Worten steckt kein Vorwurf. Einen Moment lang denkt Alena über das Gesagte nach, dann erwidert sie ehrlich: „Ich war mir nicht sicher, wie Sie zu Kaspar stehen. Ich weiß nicht, ob Sie ihm helfen wollen oder ob Sie Ihre schlechte Meinung über seine Mutter an ihm auslassen.“ Sie macht eine Pause um mehr Kaffee zu trinken. „Frau Stein-Bachmüller ist nicht gerade eine Freundin von Kaspar und sie hat ihn verdächtigt, Schwarz erschossen zu haben. Aber immerhin wusste ich, woran ich bei ihr bin.“

Brigitte Dahlem antwortet erst nicht, dann nickt sie. „Ich verstehe.“ Verwundert bemerkt Alena das leichte Bedauern in ihrer Stimme. Schüchtern fragt sie: „Sind Sie wütend, dass Kaspar diese Briefe geschrieben hat? Dass er vorgegeben hat, dass sie von der RAF stammen?“ Langsames Kopfschütteln. „Das wusste ich bereits. Ich habe ihn gefragt, als er das erste Mal hier war. Er war zwei Mal hier. Das zweite Mal sind Sie dazu gekommen.“ Brigitte Dahlem klingt müde. „Er hat sofort zugegeben, dass er die Drohbriefe geschrieben hat. Und er hat mir den Grund erklärt.“ Achselzucken. „Ich fand die Idee nicht besonders clever. Damals war ich wütend. Weil er damit die Aufmerksamkeit von Schwarz auf mich und Burg gezogen hat. Wir standen wieder im Fadenkreuz. Schwarz ist bei mir aufgetaucht, er war nervös, aber noch genauso arrogant wie früher. Für ihn hatte sich nichts geändert. Er war auf der guten Seite und glaubte, er kann mich behandeln wie Dreck. Und bei Burg ist es genauso gelaufen.“

Die Frage liegt Alena auf der Zunge, aber sie wagt es nicht, sie auszusprechen. Nicht heute Nacht. Ihre Nerven liegen noch immer blank und sie fühlt sich völlig kraftlos. Der vergangene Tag steckt ihr in den Knochen. Sie spürt, dass Brigitte Dahlem sie ansieht. „Ich habe Schwarz nicht getötet,“ sagt sie, als könne sie Alenas Gedanken lesen. „Und ich bin mir ziemlich sicher, dass auch Hajo nichts damit zu tun hat.“

Mittwoch, 18. April 2007

sternkleinsternkleinsternklein

101: Panik

In dem Mietshaus hinter Alena sind nacheinander die Lichter ausgegangen, die meisten Fenster liegen nun im Dunkeln. Sie schaut auf ihre Uhr, aber es ist zu finster, um das Ziffernblatt zu erkennen. Vorsichtig tritt sie aus dem Schatten der Müllcontainer heraus und hält ihr Handgelenk in das Licht der Straßenlaterne, dessen schwache Ausläufer bis an die Stelle reichen, an der sie nun schon seit einiger Zeit steht. Kurz nach 12. Sie seufzt und tritt zurück hinter die Mauer. Ihre Füße tun weh und die Nachtkälte dringt unter ihre schwarze Fleece- Jacke. Sie schlingt die Arme um den Oberkörper und kuschelt ihr Kinn in den langen schwarzen Schal, den sie mehrmals um den Hals gewickelt hat.

Das Fenster, das zu Brigitte Dahlems Wohnung gehört, hat sie gut im Blick. Während ihrer Nachtwache hat sich dort nichts getan. Weder ist Licht angegangen noch konnte sie eine Bewegung hinter den schlierigen Scheiben ausmachen. Alena hat sich die Zeit damit vertrieben sich vorzustellen, was Brigitte Dahlem dort oben in ihrer Wohnung tun könnte. Falls sie zu hause ist. Aber wo sollte sie sonst sein?

In ihrer Imagination sitzt Brigitte Dahlem auf diesem Stuhl am Fenster und schaut in die Nacht hinaus. Wartet, genauso wie sie. Zuckt zusammen, wenn Motorengeräusche die Stille durchbrechen, und beobachtet mit gespannter Aufmerksamkeit die wenigen vorbeifahrenden Wagen, bis sie um die Ecke verschwinden. Entspannt sich enttäuscht, genau wie sie. Wartet weiter.

Bis auf diese wenigen Ausnahmen war die Straße wie ausgestorben. Kein Fußgänger ist vorbeigelaufen, niemand hat das Haus , vor dem Alena steht, verlassen oder betreten und niemand hat sich dem Haus genähert, in dem die Dahlem wohnt. Einmal ist ein Fenster aufgerissen worden und die Geräusche vom Fernsehen flogen in die Nacht, Stimmen und Musik; dann wurde das Fenster wieder zugeknallt und die verbleibende Stille war noch drückender als zuvor.

Alenas Augen brennen vor Müdigkeit. Sie schließt sie kurz und genießt das Gefühl der Ruhe, das sich in ihrem Körper ausbreitet, die sofort einsetzende Schwerelosigkeit … Schnell öffnet sie die Augen wieder und atmet tief ein. Sie darf nicht einschlafen. Mit doppelter Aufmerksamkeit starrt sie nun auf die Straße, versucht sich zu konzentrieren. Es funktioniert ein paar Atemzüge lang, dann schweifen ihre Gedanken wieder ab, verschlingen sich ineinander und ziehen ihre Lider herunter. Sie schüttelt ärgerlich den Kopf. Noch nicht einmal dazu ist sie im Stande, es dürfte doch nicht so schwierig sein, mal eine Nacht auf zu bleiben. Sie läuft ein paar Schritte auf der Stelle und lockert Nacken und Arme. Dann ist sie wieder auf ihrem Posten. Wenn nur irgendetwas passieren würde. Alena seufzt. Sie widersteht dem Impuls, auf die Uhr zu sehen, weil sie ahnt, dass weniger als 15 Minuten vergangen sind.

Plötzlich spürt sie etwas, Gänsehaut überzieht ihren Körper, ihr Atem stockt. Etwas ist hinter ihr, stocksteif bleibt sie stehen, nur nicht umdrehen. Im gleichen Moment legt sich ein Arm wie ein Schraubstock über ihren Hals und drückt zu, kaltes Metall an ihrer Schläfe. „Keine Bewegung,“ zischt eine Stimme an ihr Ohr. „Und keinen Laut.“ Der Lauf der Waffe bohrt sich in ihren Kopf und Alena beginnt unkontrolliert zu keuchen, sie bekommt zu wenig Luft und ihr Herz hämmert vor Panik. Dann lockert sich der Arm und sie saugt den Sauerstoff in ihre Lungen.

Dienstag, 17. April 2007

sternkleinsternkleinsternklein

100: Manöver

Während um sie herum das Chaos tobt, ihr Mann sich um die Serviererin kümmert und Professor Krause um seine schluchzende Frau, gelingt es Pia, mit dem Papiertaschentuch das Rotweinglas zu nehmen, den verbleibenden Inhalt achtlos auf dem Tischtuch auszuleeren und das Glas in ihre Handtasche zu stecken. Sie dreht sich um und begegnet dem Blick Bergmanns. Er zwinkert ihr zu. Schnell dreht sie sich zu Frau Krause um, um endlich das Bedauern zu heucheln, das von ihr in dieser Situation erwartet wird. Frau Krause steht der Hass ins Gesicht geschrieben, und daran ändern auch Pias fortwährend ausgestoßene Entschuldigungen nicht. Eine größere Menge hat sich mittlerweile um sie versammelt und gafft, während der Rest der Gesellschaft etwas höflicher Abstand wahrt, aber ebenfalls in Richtung der kleinen Ansammlung starrt.

Präsident Sacher drängelt sich nach vorn. „Kann ich etwas helfen,“ fragt er hilflos und ist dankbar, als Christopher den Kopf schüttelt. „Ich glaube, der jungen Dame geht es gut, sie hat nur einen kleinen Schreck bekommen.“ Er wirft Pia einen Blick zu. „Ich möchte noch einmal betonen, dass die junge Dame überhaupt keine Schuld trifft.“ Pia greift ihr Stichwort pflichtschuldig auf. „Es tut mir wahnsinnig leid,“ sagt sie mit gut gespieltem Bedauern. „Ich war einfach nur ungeschickt und habe einen Schritt nach hinten gemacht ohne mich umzusehen.“

„Wen interessiert die dumme Bedienung,“ ruft Frau Krause empört. „Mein Chanelkostüm ist ruiniert.“ Pia wirft ihr einen kühlen Blick zu. „Meine Versicherung wird sich darum kümmern,“ sagt sie mit kaum hörbaren drohendem Unterton. Frau Krause macht den Mund auf und wieder zu. Pias plötzliche Veränderung scheint sie davon zu überzeugen, dass es besser ist, keine Widerworte mehr zu geben. Stattdessen beginnt sie wieder theatralisch zu schluchzen. „Ich kann keine Sekunde länger hier bleiben,“ schnüffelt sie in das Taschentuch, das Christopher ihr gereicht hat. „Lass uns fahren, Roland.“ Pia sagt schnell: „Ich kann Sie nach Hause fahren, dann kann Ihr Mann noch bleiben. Er muss sicherlich noch seinen Fachbereich vertreten.“ Elena schaut entsetzt angesichts der Vorstellung, mit Pia allein in einem Wagen zu sitzen. Professor Krause, der augenscheinlich froh darüber ist, die Veranstaltung verlassen zu können, schüttelt vehement den Kopf. „Nicht nötig, ich fahre selbst. Ich kann meine Frau in dieser Situation nicht allein lassen.“ Es hört sich an, als hätten die beiden gerade einen nahen Angehörigen verloren, aber Pia erspart sich einen Kommentar. Stattdessen ärgert sie sich, diese allzu offensichtliche Wende nicht vorhergesehen zu haben. Sie hätte Krause lieber noch ein wenig unter Beschuss genommen. Immerhin hat sie nun ein Glas in ihre Handtasche, auf dem hoffentlich ein paar schöne Fingerabdrücke von Krause sind.

Später steht sie mit Christopher und Bergmann an einem Stehtisch, der unauffällig in der Ecke platziert ist. „Was hast Du Dir nur dabei gedacht,“ stöhnt ihr Mann und trinkt sein Glas Wein auf einen Zug aus. Pia wirft Bergmann einen warnenden Blick zu, bevor sie mit einer angemessenen Portion Schuldbewusstsein in der Stimme erklärt: „Ich wollte zu Krause Kontakt aufnehmen, um ihn ein wenig auszuhorchen, und habe wohl etwas übertrieben.“ Christopher beobachtet sie misstrauisch. „Du übertreibst nie. Du würdest niemals aus Ungeschick jemanden anrempeln. Du hast alles von vorn bis hinten geplant.“ – „Das traust du mir wirklich zu,“ fragt Pia und reißt unschuldig die Augen auf. „Das und noch viel mehr,“ murmelt Christopher zwischen zusammengepressten Zähnen. Bergmann fängt wieder an zu lachen. „Falls es Sie tröstet, ich habe mich wunderbar amüsiert.“ Pia winkt der Bedienung. „Können wir noch etwas zu trinken haben?“

Montag, 16. April 2007

sternkleinsternkleinsternklein

99: Chaos-Pia

Als Professor Krause Pia sein Gesicht zuwendet, läuft ihr gehirneigenes Identifikationsprogramm erneut auf Hochtouren und jetzt spürt sie neben sich, dass auch Christophers Muskeln sich für einen Moment anspannen. Ihr Herz macht einen kleinen Sprung. Er bemerkt die Ähnlichkeit, denkt sie. Krause streckt ihr seine Hand entgegen, sein Händedruck ist weich, die Innenfläche leicht feucht. Du bist nervös, denkt Pia triumphierend. Krause bringt ein angespanntes Lächeln zustande und schüttelt dann Christopher und Bergmann die Hand. Pia sieht zu dem jungen Geschichtsprofessor, kann aber keine Reaktion erkennen. Er hat das Photo nur kurz gesehen, sagt sie sich. Christopher übernimmt das Gespräch. „Schön, Sie einmal kennen zu lernen, Professor. Zwischen unseren Fakultäten bestehen leider wenig Kontakte und ich bin froh, dass man wenigstens auf diesen Jahresfeiern die Gelegenheit bekommt, sich auszutauschen. Ich muss gestehen, ich weiß noch nicht einmal, welches Seminar Sie leiten.“ Krause hat dunkle Ringe unter den Augen und die sorgfältig rasierte Gesichtshaut ist fahl. Pia sucht seine Pupillen und stellt plötzlich fest, dass die Iris braun ist. Auf dem Foto in der Akte sind die Augen blau, denkt sie irritiert. Ist die Ähnlichkeit doch nur Zufall? Auch die Haarfarbe stimmt nicht, aber er könnte seine Haare färben. Vielleicht trägt er auch farbige Kontaktlinsen.

Sie spürt, dass sie unruhig wird. Sie muss seine Fingerabdrücke bekommen. Ihre Augen heften sich auf ein halbleeres Glas Rotwein, dass noch auf Krauses Platz steht. Mit halbem Ohr bekommt sie mit, dass Krause etwas umständlich von dem Seminar für Allgemeine BWL und Bankbetriebslehre erzählt. Neben dem Weinglas liegt eine Serviette. „Seit wann lehren Sie an der Universität Altenburg,“ hört sie Christopher fragen. „Seit ungefähr 10 Jahren,“ antwortet Krause knapp. „Und wo waren Sie vorher,“ bohrt Christopher weiter. „Ich war Privatdozent beim Institut für Bankbetriebslehre an der Uni Hamburg,“ sagt Krause, während seine Finger sich ineinander verkrampfen. Als er es bemerkt, steckt er eine Hand in die Tasche seiner dunkelgrauen Anzughose. „Haben Sie in Hamburg studiert?“ Pias Blick kehrt zu Krause zurück und sie beobachtet, wie er den Kopf schüttelt. „Nein, ich habe im Ausland studiert.“ Interessant, denkt Pia. „Das ist ja interessant,“ sagt Christopher. „Wo genau haben Sie studiert?“ – „Harvard,“ presst Krause heraus. Es ist ihm anzusehen, dass er genug von den Fragen hat. „Harvard,“ wiederholt Christopher mit gespielter Bewunderung. „Ich habe immer gehofft, dass man mich einmal zu einer Gastvorlesung dorthin lädt.“ Er grinst Bergmann zu, der mit den Schultern zuckt. „Hoffen wir das nicht alle,“ sagt er, während er Krause nicht aus den Augen lässt.

Vielleicht war es ein Fehler, die beiden einzuweihen, fährt es Pia durch den Kopf. Sie übertreiben. Krause wird merken, dass etwas nicht stimmt. Und ich muss an dieses Glas kommen. Sie beschließt, Krause aus der Schusslinie zu nehmen. „Sind Sie auch berufstätig,“ wendet sie sich an Elena Krause, die sichtlich gelangweilt der Konversation gelauscht hat, nachdem sie feststellen musste, dass sie nicht mehr im Mittelpunkt steht. Ein gekränkter Ausdruck erscheint nun auf ihrem Gesicht. „Nein, natürlich nicht.“ Sie setzt ein gekünsteltes Lächeln auf. „Ich habe genug damit zu tun, mich um unser Anwesen zu kümmern.“ – „Wohnen Sie in Altenburg,“ heuchelt Pia Interesse. „Am Rande von Altenburg. Im Süden,“ betont die blonde Elena. Im Süden Altenburgs stehen die Villen inmitten von großen Gartenanlagen. „Wie nett,“ zwitschert Pia und weiß, dass sie gute Chancen auf den Oskar für ihre Vorstellung hat.

Sie winkt der weiblichen Bedienung, die nun wieder Weiß- und Rotweingläser auf ihrem Tablett hat. Sie nimmt ein Glas Rotwein herunter und wartet, bis auch die anderen sich bedient haben. Aus dem Augenwinkel sieht Pia, dass die junge Frau die leeren Gläser auf dem Esstisch entdeckt und darauf zusteuert, um sie mit in die Küche zu nehmen. Jetzt, denkt Pia. Mit den Worten „Dann lassen Sie uns doch auf dieses nette Essen anstoßen,“ reißt sie den Arm hoch, mit dem sie das Glas hält und tritt einen Schritt zurück. In ihrem Rücken spürt sie das Tablett der Service-Kraft, die einen entsetzten Laut ausstößt und das Gleichgewicht verliert. Pia macht einen Schlenker und manövriert den Inhalt ihres Glases in Richtung Elena. Einen Moment lang ist es unwirklich still, dann klirren die Gläser auf den Boden, die Bedienung reißt mit einem Poltern den Stuhl um, an dem sie sich festhalten wollte, und Elena beginnt schrill zu schreien.

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

Und hier gehts zum Anfang

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Archivierung Ihres Blog-Krimis,...
Das Deutsche Literaturarchiv verfolgt mit Interesse...
Jochen Walter (Gast) - 26. Feb, 11:52
Off topic: Anfrage des...
Das Deutsche Literaturarchiv verfolgt mit Interesse...
Jochen Walter - 25. Mai, 13:12
Das Ende eines Blog-Krimis
und ich bin ein bisschen wehmütig, weil es mir viel...
Flannery Culp - 13. Mai, 20:54
113: Ende
Die Sonne scheint heiß, vielleicht zum letzten Mal...
Flannery Culp - 12. Mai, 14:00
112: Auf-Lösung
„Schwarz hat die Adressen von Burg und der Dahlem herausbekommen...
Flannery Culp - 7. Mai, 21:21

Links (Der Betreiber dieses Blogs übernimmt keinerlei Gewähr für die Aktualität, Korrektheit, Vollständigkeit oder Qualität der bereitgestellten Informationen. Haftungsansprüche gegen den Betreiber dieses Blogs, welche sich auf Schäden materieller oder ideeller Art beziehen, die durch die Nutzung oder Nichtnutzung der dargebotenen Informationen bzw. durch die Nutzung fehlerhafter und unvollständiger Informationen verursacht wurden, sind grundsätzlich ausgeschlossen.)

Suche

 

Status

Online seit 6478 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 26. Feb, 11:52

Credits

RSS Box


Kapitel Drei
Kapitel Eins
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Vier
Kapitel Zwei
Metablog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren