Sonntag, 13. Mai 2007

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Das Ende eines Blog-Krimis

und ich bin ein bisschen wehmütig, weil es mir viel Spass gemacht hat - und ich hoffe natürlich auch allen eventuellen Lesern!

Im Rückblick stelle ich fest, dass es fast ein wenig schwierig war, über ein Thema zu schreiben, das plötzlich so aktuell und heftig diskutiert worden ist. Damit habe ich zu Beginn des Krimis im letzten Jahr überhaupt nicht gerechnet. Zumindest die Debatte um die Freilassung Brigitte Mohnhaupts und Christian Klars war zu diesem Zeitpunkt nicht vorhersehbar und auch die Tatsache, dass sich der Deutsche Herbst 2007 zum 30. Mal jährt hat meine Entscheidung für dieses Thema nicht beeinflusst. Ausschlaggebend war ein allgemeines Interesse für den Terrorismus der 70er Jahre und einfach der Gedanke, dass ich jetzt gerade ein wenig Zeit habe, um mich damit zu beschäftigen.

Das Positive an der Debatte waren natürlich die vielen Gedankenanstöße, die das Schreiben nicht unwesentlich beeinflusst haben. Nicht beeinflussen lassen wollte ich dagegen die Handlung des Krimis. Auch wenn das Schreiben eines Blogkrimis eine unmittelbare Reaktion auf Ereignisse und ihre textliche Einbindung möglich macht, wollte ich weder den Gang des Krimis dadurch verändern, noch im Rahmen des Krimis Bezug darauf nehmen. Vielleicht wäre es interessant gewesen, Pia Stein-Bachmüller mit der Freilassung Brigitte Mohnhaupts zu konfrontieren, oder Kaspar Wagenbachs Meinung zum gescheiterten Gnadengesuch Klars zu hören. Vielleicht hätte die hitzige Debatte in unserer Welt auch die nervöse Stimmung in Altenburg angeheizt.

Aber ich habe davon Abstand genommen, weil ich letztendlich für ein wenig Distanz zum Geschehen doch ganz dankbar war. Krimis sind Krimis und die Realität ist die Realität. Habe ich eine einmalige Gelegenheit verstreichen lassen? Ich weiß es nicht, mich würde jedoch interessieren, was andere darüber denken.

Aber gut, jetzt ist Schluss - fürs erste. Dies ist eine Fortsetzung des ersten Blog-Krimis Zahlen und Zeichen und vielleicht gibt es irgendwann mal eine weitere Fortsetzung.

Wer heute zum ersten Mal auf diesen Blog stößt, dem seien die freundllichen Worte ans Herz gelegt, die am Ende eines jeden Mangas stehen: Sutoppu! Koko wa kono manga no owari dayo. Hantaigawa kara yomihajimete ne! Was in unserem Fall so viel heißt wie: Stopp! Dies ist der Schluss des Krimis! Fangt bitte am anderen Ende an!

Viele Grüße, der Krimiblogger

Samstag, 12. Mai 2007

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113: Ende

Die Sonne scheint heiß, vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr. Pia sitzt an einem der Tische vor dem Cafe am Marktplatz und rührt in ihrem Milchkaffee. Sie streckt die Füße in den klassischen braunen Sandalen von sich und betrachtet ihre schlanken Waden. Zum Sommerabschluss trägt sie noch einmal ein weißes Hemdkleid aus Leinen; die Sonnenbrille sitzt wie ein Haarreif auf dem frisch geschnittenen blonden Haar. Sie blinzelt, als Alenas Schatten auf sie fällt. „Warten Sie schon lange?“ Alena setzt sich und Pia stellt amüsiert fest, dass auch der letzte Sommertag im Jahr Alena nicht dazu bewegen konnte, von ihrer üblichen schwarzen Kleidung abzuweichen. „Eine Weile, aber Sie sind nicht zu spät.“ Pia lächelt entspannt. „Ich habe heute frei. Ich habe bis 9 Uhr geschlafen, habe mir zum Frühstück Croissants geholt und bis 10 Uhr die Tageszeitung gelesen.“ Alena grinst. „Hört sich gut an.“ – „Das haben Sie doch jeden Tag, oder,“ stichelt Pia. Alena zieht eine Grimasse und bestellt einen Oolong mit Pfirsicharoma bei der jungen weiblichen Bedienung. „Haben Sie zur Belohnung frei bekommen? Weil Sie den Fall gelöst haben?“ Alena stützt ihr Kinn auf ihre Hände und ein paar dunkle Locken fallen ihr ins Gesicht. Pia stellt fest, dass das schwarze Poloshirt, das sie zu einem engen schwarzen Rock trägt, von einer teuren britischen Sportmarke ist. Aber sie schiebt ihre Überlegungen zur finanziellen Situation Alenas beiseite um auf die Frage zu antworten.

„Nein, ich habe zu viele Überstunden.“ Alenas Tee kommt und Pia wartet, bis sie einen halben Löffel Zucker in die goldfarbene Flüssigkeit gerührt hat. „So besonders gut ist es auch gar nicht gelaufen,“ sagt sie dann, einfach um es einmal loszuwerden. Alena sieht auf. „Aber Sie werden doch jetzt bestimmt befördert? Immerhin ging es um den Mord an einem ehemaligen Polizisten. Ihr Chef hat doch immer betont wie wichtig der Fall sei.“ Im Cafe ist jeder Tisch mit lachenden und redenden Menschen besetzt. Über den Marktplatz bewegt sich gemütlich ein Strom von Spaziergängern. Die Sachbearbeiter auf dem Weg nach Hause haben ihre Sakkos ausgezogen, andere halten eines der Riesenhörnchen in der Hand, die in der Eisdiele gegenüber vom Cafe verkauft werden. Trotzdem bohrt sich durch die Idylle ein kleiner schwarzer Stachel in Pias gute Laune. Sie schüttelt leicht den Kopf, aus Unverständnis über den Gang der Dinge. Aber ihre anfängliche Wut ist verflogen und hat dem Gefühl Platz gemacht, ungerecht behandelt worden zu sein. Und so etwas trägt man mit Würde. Und vor allem, man vergisst es nicht. Ihre Zeit wird kommen, verdammt, das wird sie.

Sie spürt, dass Alena sie unsicher ansieht und vermutet, dass sich ihr innerer Monolog auf ihrem Gesicht gespiegelt hat. Beschwichtigend zuckt sie mit den Schultern. „Man hat mir zu verstehen gegeben, dass meine unbestreitbare Leistung bei der Lösung des Falles mit den zahlreichen Fehlern aufgerechnet wird, die ich in den Augen meiner Vorgesetzten gemacht habe.“ Alena sieht sie nachdenklich an. „Dazu zählt nicht vielleicht der Zugriff auf Krause ohne Dienstwaffe,“ schlägt sie vorsichtig vor. Pia grinst verlegen. „Zum Beispiel,“ murmelt sie. Alena stützt sich auf ihre Unterarme. „Ehrlich, als Sie nur mit einer Taschenlampe vor den Wagen gesprungen sind, habe ich fast einen Herzinfarkt bekommen. Hatten Sie keine Angst, dass Krause Sie über den Haufen schießt?“ Nach einem Schluck Milchkaffee meint Pia nachlässig: „Die Taschenlampe hatte ihn so geblendet, dass er nicht sehen konnte, dass ich unbewaffnet war. Ich habe auf den Überraschungseffekt gezählt. Krause ist kein kaltblütiger Mörder. Trotz seiner RAF-Vergangenheit ist er ein gemütlicher Uni-Prof. Ich kenne diese Sorte.“ Belustigt sieht Alena sie an. „Aber Ihre Vorgesetzten haben das anders gesehen.“ Schulterzucken. „Die haben keine Ahnung von der Praxis.“ Dann erzählt sie weiter, weil es gut tut, bei jemandem Luft abzulassen. „Außerdem gab es Probleme, weil ich ja die Tatwaffe berühren musste, und dadurch die Fingerabdrücke von Krause verwischt habe. Mir war zwar von Anfang an klar, dass er aufgrund des Schmauchspurentests überführt werden konnte, aber der großkotzigen Chefetage war jeder Popelgrund willkommen, um mir einen reinzuwürgen.“ Sie redet sich in Rage, dann wird sie wieder ruhiger. „Leider hat ein Routinetest schließlich noch ergeben, dass ich ein paar Promille über Null lag.“ Alena reißt die Augen auf und Pia rechtfertigt sich schnell: „Ich war mit meinem Mann auf diesem Uni-Essen und da habe ich natürlich ein oder zwei Gläser Wein getrunken.“ Sie rollt mit den Augen. „Ich war vollkommen nüchtern und reaktionsfähig. Es ist lächerlich. Über so etwas guckt man bei anderen Kollegen großzügig hinweg. Nur bei mir muss natürlich der Dienstweg gegangen werden.“ Alena kann das Grinsen nicht unterdrücken und Pia sieht sie verletzt an. „Sie finden das witzig? Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?“

Alena wird ernst und Pia kann sehen, wie es hinter der blassen Stirn arbeitet. Und sie weiß, dass das Problem nicht ihr Verhältnis zu Pia ist, sondern etwas anderes, etwas Tieferes, das sie mit ihrer Bemerkung aufgestört hat. „Das hat Sie schon einmal jemand gefragt, nicht war? Brigitte Dahlem? Kaspar Wagenbach?“ Alena rührt in dem Tee, in dem der Zucker feine Schlieren zieht. „Es ist immer schwierig, Partei zu ergreifen,“ sagt Alena langsam. „Und es macht keinen Sinn, wenn man sich nicht seinen eigenen Standpunkt bewahrt. Ansonsten wird man hin- und hergerissen, bis man völlig die Orientierung verliert.“

Beide schweigen einen Moment. Dann fragt Pia: „Und wie geht es jetzt weiter? Mit Ihnen und Wagenbach, meine ich.“ Alena starrt auf den kleinen Löffel in ihrer Hand. „Wenn er mich braucht, bin ich für ihn da,“ sagt sie schlicht. Pia betrachtet sie neugierig. „Als Freund?“ Ein bekräftigendes Nicken. „Sicher. Nur als Freund.“ Alena schaut nicht auf, sie scheint mit ihren Gedanken weit weg zu sein. Pia räuspert sich. „Sagen Sie ihm, wenn er wieder akademisch tätig werden möchte, habe ich einen Ansprechpartner für ihn. Professor Bergmann von der Uni Altenburg, Historiker und Spezialist für Terrorismus. Ich habe Wagenbach ihm gegenüber erwähnt und er war sehr interessiert, ihn einmal kennen zu lernen. Ich dachte, falls Wagenbach doch noch dieses Buch oder seine Dissertation schreiben möchte.“ Langsam kehrt Alenas Aufmerksamkeit zu ihr zurück. „Das ist nett von Ihnen,“ sagt sie, etwas erstaunt. „Ich werde Kaspar davon erzählen.“ Nachdenklich fährt sie fort: „Er wird sicher anfangs keine große Lust zu diesem Thema haben, aber vielleicht überlegt er es sich später noch einmal. Er würde ja diesmal aus einer ganz anderen Perspektive darauf zugehen.“ Sie zögert und spricht dann mit sichtlicher Überwindung weiter: „Auf die RAF.“

Pia glaubt zu verstehen, was in ihr vorgeht. Es muss verwirrend für Alena sein, dieser plötzliche Einbruch von etwas Theoretischen in die Wirklichkeit. Vielleicht hat es sie anfangs fasziniert über die RAF nachzudenken, Motive und Gründe zu verstehen, ethische und politische, allgemeine und individuelle Aspekte gegenüberzustellen. Aber durch die Begegnung mit Brigitte Dahlem und die Auswirkungen für Kaspar Wagenbach hat das alles eine andere Qualität bekommen. Es ist real geworden. Zu real für Alena.

Unvermittelt sagt Alena: „Ich warte noch, bis der Prozess gegen Kaspar vorbei ist. Dann werde ich für ein eine oder zwei Wochen verreisen.“ Pia ist überrascht. Sie hätte nie daran gedacht, dass Alena an einer Reise gefallen findet. Dass sie ihre Wohnung freiwillig für einen längeren Zeitraum verlassen würde. Alena interpretiert Pias Irritation falsch. „Kaspars Anwalt hat gesagt, der Prozess dauert nicht lange. In etwa einem Monat könnte alles vorbei sein. Und dass Kaspar höchstwahrscheinlich Bewährung bekommt.“ – „Ja, schon möglich,“ erwidert Pia. Dann fragt sie neugierig: „Was wird das für eine Reise? So etwas wie Urlaub? Haben Sie ein bestimmtes Ziel?“ Alenas Blick schweift in eine Dimension, in die Pia ihr nicht folgen kann. „Kein Urlaub,“ murmelt sie unbestimmt. Pia stellt sich stur. „Besuchen Sie jemanden? Familie vielleicht?“ – „So etwas ähnliches,“ sagt Alena, ohne sie anzusehen. Pia seufzt enttäuscht. „Gut, wenn Sie nicht darüber reden wollen,…“ Verlegen streicht Alena ihre Locken zur Seite. „Ehrlich gesagt, möchte ich tatsächlich nicht darüber reden.“ Pia denkt an das verschlossene Zimmer in Alenas Wohnung. Das Gefühl wird wieder wach, dass Alena mehr umgibt, als nur ihre Exzentrik. Und vielleicht wird sie irgendwann einmal herausbekommen, was genau das ist. Pia lächelt leicht. Sicher wird sie es herausbekommen.

Montag, 7. Mai 2007

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112: Auf-Lösung

„Schwarz hat die Adressen von Burg und der Dahlem herausbekommen und ihnen schon ca. 2 ½ Monate vor seinem Tod einen Besuch abgestattet, da er wohl davon ausging, dass einer von ihnen die Briefe geschrieben hat. Burg war sehr viel beunruhigter als Brigitte Dahlem. Er hatte Angst, dass ihm etwas angehängt werden sollte, und dazu kam die Befürchtung, das Leben, das er sich seit der Entlassung aufgebaut hatte, durch diesen Verdacht, wenn er öffentlich geworden wäre, wieder zu verlieren. Er hatte damals die Chance bekommen als Pfleger zu arbeiten, nachdem er allen Gewaltaktionen abgeschworen hatte. Wäre er verdächtigt worden, Drohbriefe an einen ehemaligen Ermittler zu senden, hätte ihm das sicher geschadet. Er beschloss also, zu verschwinden. Wie wir wissen, arbeitete er unter falschem Namen in dem Heim, wo seine Mutter lebt.“ Pia setzt sich etwas bequemer auf den Plastikstuhl. „Gleichzeitig ist er anscheinend an seinen freien Tagen nach Altenburg gefahren um Schwarz im Auge zu behalten. Und bei einer dieser Gelegenheit hat er ihn dabei beobachtet, wie er Robert Koch observierte.“

„Was für eine Kette von Zufällen,“ murmelt Alena. „Ich denke, das sind nicht unbedingt Zufälle,“ sagt Pia bestimmt. „Es hängt alles miteinander zusammen, die drei waren quasi durch ihre Vergangenheit aneinandergekettet. Burg hat schnell herausgefunden, wo Koch wohnt und arbeitet, und dass es ihm finanziell ziemlich gut geht. Und er hat sofort vermutet, dass Koch der Täter war, als er später erfahren hat, das Schwarz erschossen wurde. Koch hat ausgesagt, dass Burg ihn nach dem Mord kontaktierte und augenscheinlich erpressen wollte. Koch hat Burg daraufhin auf dem Rastplatz getroffen und dort erschossen.“ – „Burg wollte Koch erpressen,“ ruft Kaspar ungläubig. Pia zieht die Augenbrauen nach oben. „Wieso nicht? Entspricht das Ihrer Meinung nach nicht dem Ehrenkodex eines RAF-Mitgliedes?“ Sie lacht spöttisch. „Wer Waffenhändler ausraubt und Banken überfällt, für den ist auch ein Erpressung kein Problem, oder? Und ich vermute, die Solidarität unter RAF-Kampfgenossen versiegt spätestens dann, wenn man selbst 20 Jahre im Knast sitzt, während der Ex-Genosse in aller Ruhe sein Studium nachholt und dann als Professor an einer berühmten Uni arbeitet.“

Pia wartet eine Antwort von Kaspar ab, aber als er nur vor sich hinstarrt, erzählt sie weiter: „Die Beschattung von Frau Dahlem war schließlich aus Kochs Paranoia geboren. Er hat vermutet, dass Burg vor seinem Tod mit Brigitte Dahlem gesprochen hat und ihr von ihm erzählte. Und ich gehe mal davon aus, dass das auch der Fall gewesen ist.“ Sie sieht Alena an, die mit den Schultern zuckt. „Keine Ahnung. Sie hat mir nur gesagt, sie wisse, wer da unten im Auto sitzt. Das sei die einzige mögliche Schlussfolgerung gewesen. Inwieweit sie von Burg informiert worden ist, …“ Sie beendet den Satz nicht und schaut ihrerseits zu Kaspar. Er reagiert nicht. Als er die Augen beider Frauen auf sich spürt, schüttelt er unwirsch den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich habe ja auch erst an dem gleichen Tag wie du von dem Wagen erfahren. Und danach habe ich nicht mehr mit ihr geredet.“ Nachdenklich sieht Pia ihn an. Dann nimmt sie den Faden wieder auf. „Gut,“ sagt sie. „Jedenfalls hatte Koch Angst, dass Brigitte Dahlem sich an ihm rächen würde. Er hat berichtet, dass die Dahlem und Burg damals gut befreundet, vielleicht sogar ein Paar waren. Und er kennt Brigitte Dahlem und traut ihr eine solche Aktion durchaus zu. Wie ich übrigens auch.“ Sie lächelt dünn. „Er wollte ihr auf jeden Fall zuvorkommen und fing an, sie zu beobachten.“ Dann lehnt sie sich zurück. „Das war´s. Den Rest kennen Sie.“

Einen Moment lang ist es still. „Und damals, die Flucht? Hat er Brigitte Dahlems Version bestätigt,“ fragt Alena nach einem Blick auf den schweigenden Kaspar. Pia nickt. „Hoffmann hat sich geweigert, mit Marianne Wagenbach zu fliehen und Koch hat die Gelegenheit ergriffen. Er sagte aus, dass er schon länger vorgehabt hätte, auszusteigen. Schwarz hat ihnen Pässe besorgt und einen Wagen mit einem sauberen Nummernschild. Sie sind in Wolfsburg in den Zug gestiegen und über die Grenze gefahren. In Berlin haben sie dann einen Kontaktmann getroffen, der ihnen ihre neue Identität gegeben hat und wieder neue Pässe. Dann ist Koch in eine Kleinstadt in die Nähe von Weimar gebracht worden, wo er eine Wohnung bekommen hat und in einer Fabrik arbeiten sollte. Das hat er gerade eine Woche durchgehalten. Er hat seinen Vater angerufen und der ermöglichte ihm die Flucht. Wieder ein Wechsel der Identität und schließlich studierte er in Hamburg BWL. Das Studium war die Bedingung seines Vaters für seine Hilfe.“ Sie wendet sich an Kaspar. „In Berlin hat Koch Ihre Mutter das letzte Mal gesehen. Die beiden durften nicht zusammenbleiben und es wurde ihnen untersagt sich zu treffen. Was wohl auch in ihrem Sinne war.“ Kaspar fixiert immer weiter den grauen Tisch. „Ich habe ihn gefragt, ob er bereit wäre, mit Ihnen zu reden. Er hat sofort abgelehnt. Meinte, er wolle mit der RAF nichts mehr zu tun haben.“

Jetzt sieht Kaspar auf. „Ich will auch nicht mit ihm reden,“ sagt er fest. Etwas erstaunt sieht Pia zu ihm. Heftig erklärt Kaspar: „Es macht mich krank, auch nur den Begriff RAF zu hören. Ich habe die Schnauze so voll. Ich will einfach nicht mehr.“ Alena und Pia starren ihn an. „Schon gut,“ beschwichtigt Pia. Dann steht sie auf. „Ich gehe jetzt wieder. Sie haben noch eine Viertelstunde, Alena, dann ist die Besuchszeit vorbei.“ An der Tür dreht sie sich noch einmal um. „Hätte ich beinahe vergessen. Das wollen Sie aber wahrscheinlich doch haben,“ bemerkt sie und legt das Foto von Marianne und Schwarz auf den Tisch. „Bis dann.“ Die Tür fällt hinter ihr zu.

Kaspars Augen kleben an dem Foto. Langsam streckt er die Hand danach aus und noch langsamer zieht er es zu sich heran. „Wo hat sie das Bild her,“ fragt er, ohne Alena anzusehen. Alena erzählt es ihm und er nickt nur, mit gesenktem Kopf. Plötzlich fällt ein Tropfen auf das Foto und zerplatzt in eine kleine glänzende Lache. Erschrocken sieht Alena auf die kleine feuchte Stelle, ohne zu wissen, wie sie reagieren soll. Kaspar wischt hektisch über das Bild und fährt dann mit dem Handrücken über seine Wange. „Kaspar,“ flüstert sie hilflos, und er vergräbt sein Gesicht in seine Hände. Alena rückt näher, legt ihren Arm um seine Schultern und drückt seinen Kopf an ihre Wange. Wie ein Steinbild bleiben sie so, unbeweglich, bis der Beamte hereinkommt um das Ende der Besuchszeit anzukündigen.

Sonntag, 6. Mai 2007

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111: der Fall löst sich

Sie setzt sich auf den letzen freien Stuhl und sieht von einem zur anderen. „Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Krause in Rekordgeschwindigkeit alles gestanden hat. Er hat Schwarz und Burg getötet und zwar mit der gleichen Waffe, mit der er vorgestern auch auf Brigitte Dahlem geschossen hat.“ Pia wirft einen Blick auf Kaspar. „Sie haben eine Kettenreaktion mit den Briefen in Gang gesetzt. Schwarz war anscheinend nicht wenig beunruhigt, vielleicht hatte er aber auch Langeweile. Jedenfalls hat er alte Kontakte angezapft und angefangen zu ermitteln. Nicht nur, woher die Briefe kommen. Tatsächlich scheint er seine Meinung schon sehr früh gefasst zu haben, denn er hat sich anscheinend schon sehr früh auf die ehemaligen Mitglieder des RAF-Kommandos festgelegt. Möglicherweise hat er erfahren, dass Brigitte Dahlem in der Nähe wohnt und das hat ihn in seiner Mutmaßung bestätigt. Aber er hat in seinem Rundumschlag nicht nur Brigitte Dahlem gefunden, sondern auch Burg - und vor allem Robert Koch. Wir werden wohl nie wissen, wie er genau auf Koch gestoßen ist, aber er hat tatsächlich herausgefunden, dass Koch jetzt als Professor für BWL an der Uni Altenburg lehrt, unter dem Namen Roland Krause.“

Alena und Kaspar hängen atemlos an ihren Lippen und Pia kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Schwarz muss klar gewesen sein, dass Koch oder Krause nicht der Briefeschreiber gewesen sein konnte, da Koch nun wirklich kein Interesse daran haben konnte, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber Koch zu finden, musste so was wie ein verspäteter Höhepunkt seiner Karriere gewesen sein. Dämlich war nur, dass er die Kollegen nicht eingeschaltet hat.“ Sie macht eine Pause. „Jetzt stellt sich natürlich die Frage, warum er das nicht getan hat. Und ich vermute, der Grund liegt in der Beziehung, die Schwarz zu Ihrer Mutter hatte, Herr Wagenbach.“ Einen Moment lang ruht ihr Blick auf Kaspar, der unbeweglich bleibt. „Schwarz´ Dilemma war, dass er Koch gerne inhaftiert gesehen hätte, andererseits aber befürchten musste, dass Koch diese kleine Affäre nicht nur den Kollegen erzählt, sondern vor allem der Presse. Nun könnte man vermuten, die Geschichte ist lange her und interessiert niemanden mehr, aber wie man immer wieder sieht, ist die RAF auch 15 Jahre nach ihrer Auflösung noch eine Schlagzeile wert.“

Sie schlägt ein Bein über das andere. „Statt also die Kripo zu informieren, hat Schwarz Robert Koch selbst beschattet und ist dabei aufgeflogen. Koch hat ausgesagt, dass er Schwarz bald bemerkt hat, vor allem, weil er ihn wieder erkannte. Schwarz hatte ja damals die Flucht in die DDR für Marianne Wagenbach organisiert, in die Koch sich kurzfristig eingeklinkt hatte. Die Tatsache, dass der Beamte von damals sich auf seine Fersen heftete, hat Koch ziemlich nervös gemacht. Er wusste nichts von den Briefen und musste vermuten, dass Schwarz ihn entweder immer noch sucht oder durch Zufall auf ihn gestoßen ist. Dass Schwarz gerade in Altenburg gearbeitet hat, war Koch auch nicht bekannt. Er ist nach Altenburg gekommen, weil die renommierte Uni ihn gelockt hat. Und mit den Kontakten seines Vaters stand ihm auch dieser Weg offen.“

Pia macht eine Pause, aber fährt schnell fort, als sie das ungeduldige Gesicht Alenas sieht. „Irgendwann hat Koch die Nerven verloren, hat sich die Waffe genommen, die seit seiner Flucht in seinem Besitz war, und hat Schwarz einen Besuch abgestattet. Koch sagt, er hätte nicht vermutet, dass Schwarz mit seinem Wissen zur Kripo gegangen ist, da er in diesem Fall schon längst verhaftet worden wäre. Schwarz hat ihn über einen längeren Zeitraum allein beschattet, und außerdem hat Koch herausbekommen, dass Schwarz bereits pensioniert war. Und um zu verhindern, dass Schwarz sein Wissen doch verbreitet und Kochs neues Leben an dieser Stelle zu Ende ist, hat er ihn erschossen, hat die Aktenordner mit Schwarz´ Ermittlungsergebnissen mitgenommen und alles, was er sonst noch gefunden hat, was auf ihn oder die RAF deutete.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Da er von den Briefen nichts wusste, hat er danach auch nicht gesucht.“

„Und warum hat er Burg erschossen,“ fragt Alena mit kaum unterdrückter Neugierde.

Freitag, 4. Mai 2007

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110: Tod und Leben

Brigitte Dahlem starb noch in der gleichen Nacht an dem Lungenschuss. Alena hatte sich von Pia ins Krankenhaus fahren lassen und war ihr dankbar dafür, dass sie nicht nach einem Grund gefragt wurde. Sie hätte jetzt nicht einfach in ihre Wohnung gehen und in die schützende Routine ihres Alltags eintauchen können. Nein, Brigitte Dahlem war keine Freundin, niemand, den sie vorbehaltlos mochte, noch nicht einmal jemand, den sie um jeden Preis verstehen wollte. Was sie dazu brachte, die nächsten zwei Stunden auf den orangen Plastikstühlen in Wartebereich des Krankenhauses zu sitzen, war vor allem die Tatsache, dass Brigitte Dahlem in dieser Nacht ein paar ihrer Gedanken mit ihr geteilt hatte. Dass sie versucht hatte, mit Alena zu reden, eine Verbindung aufzubauen. So vage und fragil sich diese auch dargestellt hatte, für einen kurzen Moment hatte sie ein Fenster aufgestoßen, und durch diesen Moment fühlte Alena sich an die sterbende Frau gebunden.

Als ein junger Arzt mit müdem Gesicht und roten Augen ihr im Glauben, sie sei eine Verwandte, mitteilte, dass die Patientin die Operation nicht überlebt hatte, nickte Alena nur und verließ das Krankenhaus. Es lag am Rande der Stadt, aber sie lief zu Fuß nach hause, schnell und mit starrem Blick. Als wolle sie dem Mitgefühl mit der Toten davonlaufen, das aus ihr ausströmte und ins Nichts floss, und das ein Gefühl der Leere hinterlies. Ich bin müde, dachte sie. Ich muss schlafen. Wenn ich aufwache, ist alles wieder wie vorher. Ich werde wieder intakt sein. Intakt. Das Wort geisterte in ihrem Kopf herum. Als wenn sie jetzt Löcher aufwies, Bruchstellen und Risse. Aber vermutlich war es auch so, sie war so rissig wie die kaputte Mauer eines Staudamms; was sie jetzt um alles in der Welt verhindern musste, war das Herausschießen der Wassermassen und das Versinken im völligen Chaos.

Wie damals.

Alena schloss die Augen, ballte die Hände zu Fäusten und lief noch schneller. Nein, daran durfte sie jetzt nicht denken. Sie war müde und musste schlafen. Nur schlafen.

Am nächsten Tag sitzt sie mit Kaspar in einem nüchternen Raum mit zwei Stühlen und einem Tisch. Der Beamte hat auf Weisung Pias den Raum verlassen und wacht vor der Tür, und Alena ist Pia dankbar für das bisschen Privatsphäre. Kaspars Gesichtsfarbe ist grau, er hat dunkle Ringe unter den Augen und sein Blick ist starr. „Ich komme mir vor wie jemand, der die Büchse der Pandora geöffnet hat,“ sagt er leise. „Das wäre alles nicht passiert, wenn ich diese Briefe nicht geschrieben hätte.“ – „Aber die Anklage betrifft doch nur die Briefe, oder? Du kannst doch nicht für die Taten von Krause zur Verantwortung gezogen werden,“ wendet Alena ein, in dem Bewusstsein, dass dieser Hinweis sein Problem nicht löst. Wie erwartet, schüttelt Kaspar den Kopf. „Darum geht es nicht. Es ist mir egal, wofür ich verurteilt werde. Ich werde nur immer wissen, was meine Tat alles nach sich gezogen hat. Was ich ausgelöst habe.“ Alena greift seine Hand, die verkrampft dem grauen Plastiktisch liegt. „Kaspar, dass du überhaupt etwas auslösen konntest, lag vor allem daran, dass die Vergangenheit zu viele lose Fäden aufwies. Ich will nicht sagen, dass die Vergangenheit unabgeschlossen ist, weil immer alles im Fluss ist und es in diesem Sinne nie einen Abschluss gibt, nie etwas fertig ist. Aber in diesem Fall war die Vergangenheit wie eine offene Wunde, die nur notdürftig abgedeckt war. Und du hast mit deinen Briefen quasi den Verband weggezogen.“

Zum ersten Mal erscheint so etwas wie ein Lächeln auf Kaspars blassem Gesicht. „Ich hätte ahnen können, dass du auch für diesen Fall eine philosophische Abhandlung in petto hast.“ Er wird wieder ernst. „Vielleicht hast du Recht,“ murmelt er. „Es ist jedenfalls angenehmer, sich nur als ein Rädchen im Getriebe der Geschichte zu fühlen. Aber Tatsache ist trotzdem, dass ich aus egoistischen Motiven gehandelt habe. Irgendwie wollte ich schon die Vergangenheit aufrollen, aber nur um meinetwillen. Und gleichzeitig wollte ich mich auch rächen.“ Er zieht seine Hand aus Alenas Finger und vergräbt sein Gesicht darin. „Verdammt, und ausgerechnet an dem Mann, der meiner Mutter nur helfen wollte. Hätte ich doch nur mit ihm geredet.“ Alena sieht auf ihre leere Hand, die auf dem Tisch liegen bliebt. „Ich sage ja nicht, dass es richtig war, wie du gehandelt hast. Ich bin nur froh, dass du auch erkennst, dass diese Briefe eine blöde Idee waren. Und letzten Endes waren es nur diese Briefe, die du zu verantworten hast. Du hast weder Schwarz noch Burg erschossen.“ Sie ist einen Moment still. „Und auch nicht Brigitte Dahlem.“

Sie holt tief Luft. „Du bist nicht das Zentrum der ganzen Geschichte, Kaspar, nur ein kleiner Teil davon. Du bist weder so unwichtig, dass das Geschehen an dir vorbeiläuft, noch so wichtig, dass du den Lauf des Geschehens bestimmen kannst. Jeder Teil in diesem Relationsgefüge hat den Gang der Ereignisse bestimmt. Du bist nicht der einzige, der Fehlentscheidungen getroffen hat.“ Sie berichtet von den Worten Brigitte Dahlems und kann sehen, dass sie Kaspar berühren. Dann sieht Alena ihn fest an: „Und wenn du dich genug zerfleischt hast, musst du vor allem die Vergangenheit loslassen, Kaspar. Es ist richtig, dass du nicht vergisst, was du getan hast. Aber es ist falsch, sich in diesem Wissen einzuigeln und den Rest deines Lebens damit zu verbringen, über deine Schuld zu grübeln. Du lässt schon zu lange die Vergangenheit deine Gegenwart bestimmen. Damit muss endlich Schluss sein.“ Kaspar lässt die Hände sinken und schaut müde hoch. Er seufzt. „Irgendwie weiß ich das auch. Aber das ist alles nicht so einfach.“

Es klopft an der Tür und Pia schaut in den Besuchsraum. „Darf ich kurz stören?“

Donnerstag, 3. Mai 2007

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109: ein Schuss

Im gleichen Moment zerreißt ein schnelles, hartes Geräusch die Nacht, ohrenbetäubend und unwirklich. Der Nachhall des Schusses scheint im Raum zu stehen, als wenn die Zeit angehalten würde.

Alena sieht Pia einen Herzschlag lang zögern, dann springt sie vor die Motorhaube, hält mit gestrecktem Arm eine Taschenlampe ins Wageninnere und schlägt mit der flachen Hand auf das Wagenblech. „Polizei. Werfen Sie die Waffe aus dem Wagen und steigen Sie sofort aus.“ Ihre Stimme ist laut und kräftig. Der helle, weiße Strahl der Stablampe ruckt zwischen Fahrersitz und Beifahrersitz hin und her; dann zieht sie ihren Ausweis aus der Tasche und zeigt ihn vor. Alena starrt auf die Beifahrerseite, auf den reglosen Rücken von Brigitte Dahlem. Eine endlose Sekunde vergeht, dann klappert etwas auf den Asphalt. Auf der Fahrerseite. Alenas Kehle wird eng. Pia spurtet auf die Seite des Wagens und hebt die Waffe auf, die sie jetzt auf den Mann richtet, der langsam und mit erhobenen Händen aussteigt. „Drehen Sie sich um und legen Sie die Hände auf das Wagendach. Beine auseinander.“ Und in Alenas Richtung: „Sagen Sie, wir brauchen dringend einen Krankenwagen!“

Nach dem Telefonat steht Alena langsam aus ihrer Hocke auf und geht mit wackeligen Knien auf die Konstellation zu, die, beleuchtet von den Straßenlampen, wie die Szene aus einem Film wirkt. Sie nimmt den Wagen mit den geöffneten Türen wahr, den gesenkten Kopf des Mannes, der von Pia abgesucht wird, den schwarzen Rücken von Frau Dahlem. Die Waffe auf den Mann gerichtet, ruft Pia jetzt ins Wageninnere: „Brigitte Dahlem, hören Sie mich?“ Dann sieht sie Alena in den Lichtkegel treten, ihre Blicke treffen sich. „Alles in Ordnung, Alena?“ Sie nickt stumm und geht weiter auf die Beifahrertür zu.

„Krause, gehen Sie um den Wagen herum und legen Sie sich mit dem Gesicht nach unten auf die Straße. Wenn Sie sich rühren, schieße ich aus Notwehr,“ befiehlt Pia. Als Krause sich mit ausgestreckten Armen auf den Asphalt gelegt hat, kommt sie an Alenas Seite. „Wir versuchen, sie aus dem Wagen zu kriegen. Können Sie unter ihre Arme greifen und ihren Oberkörper herausziehen?“ Aus der Nähe sieht man das Blut auf dem schwarzen Pulli der Dahlem glänzen. Alena beisst sich auf die Lippen und schiebt vorsichtig ihre Arme unter den Achselhöhlen der Frau durch; als ihre Finger in etwas Nasses, Glitschiges in Bauchnähe greifen, zuckt sie zusammen. Dann zieht sie, erst sanft, dann etwas stärker, während Pia den Kopf der Dahlem nach unten drückt und gleichzeitig mit der Waffe den Mann auf dem Asphalt im Auge behält. Schließlich ist der Oberkörper frei und sinkt schlaff gegen Alenas Brust; sie spürt den Pferdeschwanz an ihrer Wange, während sie mit Pias Hilfe die Frau aus dem Wagen holt und rücklings auf den Bürgersteig legt. Sofort zieht Pia ihre dunkelblaue Jacke aus und stopft sie unter den Kopf der Frau.

Brigitte Dahlem ist bleich, ihre Augen sind geschlossen. Als Pia ihren Kopf anhebt, beginnt sie plötzlich zu husten, und ein Blutschwall fließt aus ihrem Mund. Pia flucht leise und murmelt: „Halten Sie durch, der Krankenwagen kommt gleich.“ Brigitte Dahlem öffnet die Augen, ihr Blick geht von Pia zu Alena und bleibt dort hängen. Ihr Mund bewegt sich, aber es kommt nur ein Gurgeln hinaus. „Versuchen Sie nicht zu reden,“ drängt Pia und wischt mit einem Papiertaschentuch das Blut vom Mund der Frau. Hilflos starrt Alena auf die Augen der Dahlem, als könne sie dort lesen, was die Frau sagen will. In Brusthöhe ist die Stelle zu sehen, in die die Kugel eingedrungen ist, immer mehr Blut fließt dort aus. Pia zieht ihr graues Sweatshirt aus und drückt es mit einer Hand auf die Wunde um den Blutfluss zu stoppen. „Wann kommt endlich der verdammte RTW,“ zischt sie. Ihr Blick fällt auf die bewegungslose Gestalt auf der Straße und sie wünscht sich, sie könnte ihre Wut an dem Mann auslassen, der sein Gesicht in das Asphalt drückt. Unter dem Pulli hat sie nur ein T-Shirt mit kurzen Armen an, aber sie spürt keine Kälte.

Alena hat die Hand der Dahlem genommen und hält sie. Plötzlich wird ihr bewusst, wie still es ist. Sie schaut nach oben, aber nirgendwo brennt Licht. Trotzdem kann sie die Gesichter hinter den Scheiben spüren, die Gaffer, die nichts mit dem zu tun haben wollen, was hier unten passiert; und das taube Gefühl in ihr wird vom Zorn verdrängt, der kurz und heftig auflodert. Als er wie ein Streichholz verglimmt, breitet sich eine Traurigkeit in ihrem Bauch aus, ein schwarzer See, der immer höher steigt, mit dunklem Wasser so dick wie Öl.

Endlich hören sie aus der Ferne das Horn des Rettungswagens.

Mittwoch, 2. Mai 2007

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108: Flucht nach vorn

Einen Moment hocken sie nebeneinander. Dann flüstert Brigitte Dahlem: „Ich schleiche mich jetzt an und Sie bleiben hier. Leise.“ Alena beobachtet mit klopfendem Herzen, wie die dunkle Gestalt geduckt auf den Wagen zuläuft. Dann geht alles sehr schnell. Frau Dahlem reißt die Beifahrertür auf und lässt sich auf den Sitz fallen, die gezogene Waffe blitzt im Licht der Straßenlampe auf. Alenas Hand fährt zu ihrem Mund und unterdrückt einen Aufschrei. Plötzlich ist sie sicher, dass Brigitte Dahlem schießen wird, dass sie von Anfang an vorhatte, den Fahrer des Wagens zu töten. Aber nichts passiert, kein Schuss durchbricht die stille Dunkelheit. Alena hört ihr Blut in den Ohren rauschen, es ist lauter als das Flüstern, das aus dem Wagen zu ihr dringt.

Sie versucht sich zu konzentrieren. „…bist es also. Was willst du hier? Warum stehst du jede Nacht vor meiner Wohnung,“ versteht sie mühsam. Erkennen kann sie nichts außer dem Rücken der Dahlem, der in der geöffneten Wagentür sichtbar ist. Eine Männerstimme antwortet. Fast unhörbar. Alena kriecht einen Meter nach vorne, jetzt ist sie direkt neben der Mülltonne, noch im Schatten, aber nicht mehr hinter der Mauer. „… mich in Ruhe! Was wollt ihr alle von mir? Ich habe es satt!“ Die männliche Stimme ist lauter geworden, panischer. Brigitte Dahlem lässt ein trockenes Lachen hören. „Was heißt hier, wir sollen dich in Ruhe lassen? Und wen meinst du mit Wir? Es gibt kein Wir mehr.“ Ihre Stimme bekommt einen drohenden Ton. „Oder hast du mit Hajo gesprochen?“ Alena kann keine Antwort hören und überlegt ob sie es wagen kann, noch weiter nach vorn zu krabbeln.

Plötzlich legt sich eine Hand auf ihren Mund und eine Stimme flüstert in ihr Ohr: „Ich bins, Pia. Nicht schreien, Alena.“ Alena gibt einen erstickten Laut von sich und ringt nach Luft, als die Hand weggenommen wird. Schnell dreht sie sich um. „Was zum Teufel machen Sie hier,“ zischt Pia wütend, noch bevor Alena etwas sagen kann. „Und was zum Teufel macht die Dahlem da? Will sie abgeknallt werden?“ – „Sie hat eine Waffe,“ wispert Alena nervös und beobachtet gebannt, wie Pias Gesichtsausdruck sich verändert. Die Zornesfalte verschwindet und macht purer Besorgnis Platz. „Verflucht,“ murmelt Pia. „Verflucht.“ – „Haben Sie denn nicht auch eine Dienstwaffe…,“ beginnt Alena, aber die Worte bleiben ihr im Hals stecken, als Pia mit starrem Gesicht verneint. „Zu hause,“ murmelt sie. „Ich dachte nicht, dass ich sie brauchen würde. Ich wollte eigentlich nur nach dem Rechten sehen. Aber als ich die Straße entlang gefahren bin, habe ich die Bewegung hier an den Containern gesehen.“ Sie wird wieder wütend. „Was haben Sie sich dabei gedacht? Und warum haben Sie mich nicht angerufen?“ – „Ich wollte Sie anrufen,“ flüstert Alena hastig. „Aber vorher musste sich Frau Dahlem vergewissern, wer da im Auto sitzt und ob sie sich nicht alles eingebildet hat.“ Etwas verlegen fügt sie hinzu: „Und ich habe kein Handy.“ Fassungslos starrt Pia sie an, dann schüttelt sie den Kopf und flüstert: „Hätte ich mir eigentlich denken können. Wozu braucht man ein Handy, wenn man in der Parallelwelt lebt.“

Sie zeigt auf den Wagen. „Was ist da los? Wer ist der Fahrer?“ Hilflos antwortet Alena: „Ich kann nichts erkennen. Es ist allerdings ein Mann. Und Frau Dahlem vermutet, dass es Robert Koch ist.“ – „Das vermute ich allerdings auch,“ sagt Pia grimmig. „Allerdings heißt Robert Koch jetzt Dr. Roland Krause.“ Alenas neugieriger Blick wird ignoriert. „Jetzt seien Sie leise, sonst kann ich nicht verstehen, was sie sagen.“ Dicht aneinandergedrängt horchen sie in Richtung Wagen und vernehmen gerade noch Brigitte Dahlems Stimme: „… war mit Hajo? Hajo ist tot und ich möchte verdammt noch mal wissen, wer das war!“ Unterdrückte Wut begleitet die Worte und Pia und Alena erfassen fast gleichzeitig den Ernst der Lage. Pia reißt ihr Handy heraus und drückt es Alena in die Hand. „Rufen Sie die 101 und erklären Sie ihnen, wo wir sind und dass ich Verstärkung brauche. Sofort.“ Dann springt sie auf und läuft auf den Wagen zu.

Montag, 30. April 2007

sternkleinsternkleinsternklein

107: Parallelen

Pia fährt die menschenleere Bundesstraße nach Weißbach entlang. Das Fernlicht verfängt sich in den Baumstämmen an den Rändern und springt munter zurück auf den Asphalt. Pia dagegen spürt langsam die Müdigkeit. Ihre Augen brennen und ihre Aufmerksamkeit verliert sich ein ums andere Mal in dem Licht der Scheinwerfer. Die Uhr auf der Instrumentenanzeige leuchtet Viertel vor Drei. Pia starrt in die Dunkelheit und seufzt. Was für eine bescheuerte Idee. Sie hätte jetzt gemütlich in ihrem Bett liegen können. Als wenn da tatsächlich ein Wagen vor dem Haus der Dahlem wartet. Vielleicht sieht Brigittchen ihn sogar. In ihrer Paranoia steht er gegenüber von ihrem Fenster und wartet auf sie. Pia schlägt mit dem Hinterkopf gegen die gepolsterte Stütze. Wie verzweifelt ist sie eigentlich, dass sie sich auf eine solche Aktion einlässt? Sie hat doch einen Verdächtigen. Eigentlich kann sie sich jetzt zurücklehnen.

Gleichzeitig weiß sie genau, dass die höhnische Stimme in ihrem Kopf unrecht hat. Nie im Leben hat Kaspar Wagenbach Schwarz und Burg erschossen. Der Typ ist fertig, schräg und vielleicht selbstmordgefährdet. Aber kein Mörder.

Endlich erfasst das bläuliche Fernlicht das Ortseingangsschild von Weißbach. Mit unverminderter Geschwindigkeit fährt Pia durch das Wohngebiet. Erst als sie in die Nähe von Brigitte Dahlems Straße kommt, bremst sie ab. Sie wird den Wagen in einer Parallelstraße abstellen und dann zu Fuß weitergehen. Man kann ja nie wissen. Aber es schadet nichts, vorher kurz mit dem Wagen die Straße abzufahren. Vielleicht muss sie dann gar nicht mehr aussteigen und kann sofort wieder umkehren.


Keuchend läuft Alena hinter Brigitte Dahlem her. Sie sprinten über die Straße, und Alena wagt noch nicht einmal, ihren Blick in Richtung des Fahrzeugs zu lenken, als könnte dieser Blick den Fahrer aufschrecken. Sie laufen weiter bis zur nächsten Kreuzung und biegen rechts ab. Als sie die ersten Seitenstiche spürt, verschwindet die Gestalt vor ihr zwischen einigen vertrockneten Sträuchern. Alena kann schwach den Pfad erkennen, der tatsächlich zwischen den zwei Mietskasernen hindurchführt. In der Mitte der beiden Häuser bleibt Frau Dahlem plötzlich stehen und bevor Alena stoppen kann, prallt sie gegen die Frau. „Passen Sie gefälligst auf. Wie trottelig kann man eigentlich sein,“ murmelt die Dahlem zwischen den Zähnen und Alena flüstert ein Entschuldigung. „Jetzt passen Sie auf. Wir sind direkt an dem Haus wo wir hinwollten. Nun geht es zu den Mülleimern. Leise! Und trampeln Sie nirgendwo gegen. Wir haben nur eine Chance. Wenn der Typ uns bemerkt, ist er weg. Also geben Sie sich ein bisschen Mühe, wenn Sie Ihre verdammte Neugierde befriedigen wollen.“ Alena nickt wortlos und tippt auf Zehenspitzen hinter ihr her, vorbei an der Hausfassade. Vor ihnen stehen die Container hinter der kleinen Mauer, an der sie vorhin noch gewartet hat.

Motorengeräusche! Mit einem Satz ist Brigitte Dahlem hinter den Müllbehältern. Sie hat Alena mit sich gezogen und drückt ihren Kopf nach unten. Der Wagen kommt näher, fährt in die Straße hinein. Alena erahnt die Scheinwerfer, die den Boden an der Seite der Mauer kurzzeitig erhellen. Mit mittlerer Geschwindigkeit fährt der Wagen vorbei, fährt bis zur Kreuzung und darüber hinaus. Das Fahrgeräusch entfernt sich und verliert sich zwischen den Mietskasernen. Mit klopfendem Herzen wartet Alena ab, bis nichts mehr zu hören ist. Dann macht sie sich frei. „Nur ein Anwohner,“ flüstert sie. Brigitte Dahlem antwortet nicht. Ihre Augen glänzen im Dunkeln und sie scheint zu überlegen. „Was jetzt, geht es weiter,“ fragt Alena ungeduldig und die Dahlem zischt ihr ein wütendes „Psst“ entgegen. Sie horcht in die Dunkelheit. Dann holt sie tief Luft und schüttelt den Kopf. „Nur ein Anwohner,“ murmelt sie. „Wer sonst.“

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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