Freitag, 4. Mai 2007

sternkleinsternkleinsternklein

110: Tod und Leben

Brigitte Dahlem starb noch in der gleichen Nacht an dem Lungenschuss. Alena hatte sich von Pia ins Krankenhaus fahren lassen und war ihr dankbar dafür, dass sie nicht nach einem Grund gefragt wurde. Sie hätte jetzt nicht einfach in ihre Wohnung gehen und in die schützende Routine ihres Alltags eintauchen können. Nein, Brigitte Dahlem war keine Freundin, niemand, den sie vorbehaltlos mochte, noch nicht einmal jemand, den sie um jeden Preis verstehen wollte. Was sie dazu brachte, die nächsten zwei Stunden auf den orangen Plastikstühlen in Wartebereich des Krankenhauses zu sitzen, war vor allem die Tatsache, dass Brigitte Dahlem in dieser Nacht ein paar ihrer Gedanken mit ihr geteilt hatte. Dass sie versucht hatte, mit Alena zu reden, eine Verbindung aufzubauen. So vage und fragil sich diese auch dargestellt hatte, für einen kurzen Moment hatte sie ein Fenster aufgestoßen, und durch diesen Moment fühlte Alena sich an die sterbende Frau gebunden.

Als ein junger Arzt mit müdem Gesicht und roten Augen ihr im Glauben, sie sei eine Verwandte, mitteilte, dass die Patientin die Operation nicht überlebt hatte, nickte Alena nur und verließ das Krankenhaus. Es lag am Rande der Stadt, aber sie lief zu Fuß nach hause, schnell und mit starrem Blick. Als wolle sie dem Mitgefühl mit der Toten davonlaufen, das aus ihr ausströmte und ins Nichts floss, und das ein Gefühl der Leere hinterlies. Ich bin müde, dachte sie. Ich muss schlafen. Wenn ich aufwache, ist alles wieder wie vorher. Ich werde wieder intakt sein. Intakt. Das Wort geisterte in ihrem Kopf herum. Als wenn sie jetzt Löcher aufwies, Bruchstellen und Risse. Aber vermutlich war es auch so, sie war so rissig wie die kaputte Mauer eines Staudamms; was sie jetzt um alles in der Welt verhindern musste, war das Herausschießen der Wassermassen und das Versinken im völligen Chaos.

Wie damals.

Alena schloss die Augen, ballte die Hände zu Fäusten und lief noch schneller. Nein, daran durfte sie jetzt nicht denken. Sie war müde und musste schlafen. Nur schlafen.

Am nächsten Tag sitzt sie mit Kaspar in einem nüchternen Raum mit zwei Stühlen und einem Tisch. Der Beamte hat auf Weisung Pias den Raum verlassen und wacht vor der Tür, und Alena ist Pia dankbar für das bisschen Privatsphäre. Kaspars Gesichtsfarbe ist grau, er hat dunkle Ringe unter den Augen und sein Blick ist starr. „Ich komme mir vor wie jemand, der die Büchse der Pandora geöffnet hat,“ sagt er leise. „Das wäre alles nicht passiert, wenn ich diese Briefe nicht geschrieben hätte.“ – „Aber die Anklage betrifft doch nur die Briefe, oder? Du kannst doch nicht für die Taten von Krause zur Verantwortung gezogen werden,“ wendet Alena ein, in dem Bewusstsein, dass dieser Hinweis sein Problem nicht löst. Wie erwartet, schüttelt Kaspar den Kopf. „Darum geht es nicht. Es ist mir egal, wofür ich verurteilt werde. Ich werde nur immer wissen, was meine Tat alles nach sich gezogen hat. Was ich ausgelöst habe.“ Alena greift seine Hand, die verkrampft dem grauen Plastiktisch liegt. „Kaspar, dass du überhaupt etwas auslösen konntest, lag vor allem daran, dass die Vergangenheit zu viele lose Fäden aufwies. Ich will nicht sagen, dass die Vergangenheit unabgeschlossen ist, weil immer alles im Fluss ist und es in diesem Sinne nie einen Abschluss gibt, nie etwas fertig ist. Aber in diesem Fall war die Vergangenheit wie eine offene Wunde, die nur notdürftig abgedeckt war. Und du hast mit deinen Briefen quasi den Verband weggezogen.“

Zum ersten Mal erscheint so etwas wie ein Lächeln auf Kaspars blassem Gesicht. „Ich hätte ahnen können, dass du auch für diesen Fall eine philosophische Abhandlung in petto hast.“ Er wird wieder ernst. „Vielleicht hast du Recht,“ murmelt er. „Es ist jedenfalls angenehmer, sich nur als ein Rädchen im Getriebe der Geschichte zu fühlen. Aber Tatsache ist trotzdem, dass ich aus egoistischen Motiven gehandelt habe. Irgendwie wollte ich schon die Vergangenheit aufrollen, aber nur um meinetwillen. Und gleichzeitig wollte ich mich auch rächen.“ Er zieht seine Hand aus Alenas Finger und vergräbt sein Gesicht darin. „Verdammt, und ausgerechnet an dem Mann, der meiner Mutter nur helfen wollte. Hätte ich doch nur mit ihm geredet.“ Alena sieht auf ihre leere Hand, die auf dem Tisch liegen bliebt. „Ich sage ja nicht, dass es richtig war, wie du gehandelt hast. Ich bin nur froh, dass du auch erkennst, dass diese Briefe eine blöde Idee waren. Und letzten Endes waren es nur diese Briefe, die du zu verantworten hast. Du hast weder Schwarz noch Burg erschossen.“ Sie ist einen Moment still. „Und auch nicht Brigitte Dahlem.“

Sie holt tief Luft. „Du bist nicht das Zentrum der ganzen Geschichte, Kaspar, nur ein kleiner Teil davon. Du bist weder so unwichtig, dass das Geschehen an dir vorbeiläuft, noch so wichtig, dass du den Lauf des Geschehens bestimmen kannst. Jeder Teil in diesem Relationsgefüge hat den Gang der Ereignisse bestimmt. Du bist nicht der einzige, der Fehlentscheidungen getroffen hat.“ Sie berichtet von den Worten Brigitte Dahlems und kann sehen, dass sie Kaspar berühren. Dann sieht Alena ihn fest an: „Und wenn du dich genug zerfleischt hast, musst du vor allem die Vergangenheit loslassen, Kaspar. Es ist richtig, dass du nicht vergisst, was du getan hast. Aber es ist falsch, sich in diesem Wissen einzuigeln und den Rest deines Lebens damit zu verbringen, über deine Schuld zu grübeln. Du lässt schon zu lange die Vergangenheit deine Gegenwart bestimmen. Damit muss endlich Schluss sein.“ Kaspar lässt die Hände sinken und schaut müde hoch. Er seufzt. „Irgendwie weiß ich das auch. Aber das ist alles nicht so einfach.“

Es klopft an der Tür und Pia schaut in den Besuchsraum. „Darf ich kurz stören?“

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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