Kapitel Zwei

Mittwoch, 1. November 2006

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25: Gespräch zwischen Profs

In einem Büro im historischen Institut sitzt Christopher auf einem ausgesessenen Sofa, vor sich, auf einem ausgedienten Sofatischchen, eine Tasse Kaffee. Ihm gegenüber hängt Professor Bergmann auf einem Ohrensessel, der schon bessere Tage gesehen hat. Christopher erinnert sich vage daran, dass Bergmann vor zwei Semestern an der Altenburger Uni eine Juniorprofessur erhalten hat, was aufgrund seines Alters kurzzeitig Schlagzeilen machte. Bergmann ist 28 Jahre alt und Christopher hat keine Übung im Umgang mit Wunderkindern. „Was verschafft mir die Ehre eines Besuchs des bekanntesten Vertreters des Instituts für Philosophie,“ grinst Bergmann jetzt und schlürft seinen Kaffee. Christopher lächelt gewinnend. „Abgesehen davon, dass wir uns noch gar nicht kennen gelernt haben, seitdem Sie hier tätig sind, und ich der Meinung bin, dass man die Kontakte zwischen den Instituten pflegen sollte, habe ich gehört, dass Sie, abgesehen von Ihrer unbestreitbaren Kompetenz in Deutscher Geschichte ab 1945, neuerdings einen Schwerpunkt in Sachen Terrorismus aus Deutschland setzen.“ Er nippt an dem viel zu starken Kaffee, für den Bergmann zu Christophers Bedauern keine Milch anbieten konnte. „Ich denke momentan selbst darüber nach, ob man das Phänomen Terrorismus mal aus philosophischer Perspektive angehen sollte. Aus diesem Grund wollte ich ein wenig Brainstorming mit Ihnen vornehmen. Vorausgesetzt, Sie haben ein wenig Zeit für mich.“ Bergmann setzt sich aufrecht. „Das ist ja hochinteressant,“ erklärt er aufgeregt und Christopher kann ein Grinsen nicht unterdrücken. „Ich finde es ist höchste Zeit, dass auch in dieser verstaubten Bude mal ein aktuelles Thema aufgegriffen wird. Und Terrorismus ist hochaktuell. Ich beschäftige mich nicht nur mit dem zeitgeschichtlichen Terrorismus in der BRD der 70er bis 90er Jahre, sondern greife natürlich auch ein wenig auf die aktuellen Geschehnisse aus – auch wenn das vielleicht nicht gerne von den Kollegen aus dem politischen Institut gesehen wird.“ Er rollt verständnislos mit den Augen. „Dieser verdammte Abgrenzungswahn geht mir echt auf die Nerven.“ Christopher lacht laut heraus. „Es ist fast schockierend, diese Einsicht von einem Kollegen zu hören, aber Sie haben natürlich recht. Überall wird die interdisziplinäre Forschung propagiert, aber an den wenigsten Instituten hat sie sich bisher durchgesetzt.“ Er schneidet eine Grimasse. „Und ich fürchte, Altenburg hat den Ehrgeiz, die letzte Bastion der Isolationsforschung zu werden.“ Bergmann reißt begeistert seine leere Kaffeetasse hoch. „Und ich dachte, ich wäre der einzige, dem das auf den Geist geht. Darauf trinke ich!“ Er langt nach der Warmhalte und Christopher legt schnell seine Hand über die Tasse, bevor er einen Nachschlag von dem Gebräu erhält. „Ich bin eher Teetrinker,“ erläutert er schnell angesichts Bergmanns fragendem Gesicht. Der zuckt wohlwollend mit den Schultern. „Typisch Philosophen, oder?“ Christopher lacht wieder. Er findet die Unbefangenheit des jungen Professors ausgesprochen erholsam. „Hin und wieder trinke ich auch Kaffee,“ gibt er zu, „aber dann mit etwas geringerer Kaffeepulver-Konzentration.“ Bergmann nickt fröhlich. „Wenn Sie das nächste mal vorbeikommen, stelle ich Ihnen heißes Wasser hin, zum Verdünnen.“ – „Sehr zuvorkommend,“ lächelt Christopher. „Aber sagen Sie einmal, in Bezug auf Deutschem Terrorismus beschäftigen Sie sich sicher auch mit der Roten Armee Fraktion?“ Bergmann hebt die Arme und lässt sie wieder fallen. „Klar. RAF, Bewegung 2. Juni, Revolutionäre Zellen und der ganze Kleinkram, der aber entweder schnell in der Versenkung verschwunden ist, oder in die beiden großen Organisationen aufgegangen ist.“ Er starrt Christopher erwartungsvoll an. „Ist die RAF ein philosophisches Thema? Ich hatte bisher eher den Eindruck, dass man die politischen Aussagen nicht zu genau hinterfragen sollte.“ – „Hatte die RAF denn überhaupt irgendein Programm? Etwas, das über die Schlagworte Antifaschismus und Antiimperialismus hinausgeht?“ Bergmann steht auf und geht zu seinem Rechner. „Ulrike Meinhof hat 1971 ein Papier verfasst, das „Konzept Stadtguerilla“.
Es ist allerdings eher so eine Art Positionspapier. Ein Jahr später ist „Stadtguerilla und Klassenkampf" erschienen. Ich drucke Ihnen die Sachen mal aus. Es ist nicht gerade Weltklassetheorie.“ Bergmann grinst wieder. „Aber für Philosophen ist wahrscheinlich vor allem der Ausspruch interessant: Ob es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist; ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln.“ Christopher simuliert Schmerzen. „Das ist starker Tobak. Aber gut, geben Sie mal her, ich kämpfe mich durch.“ Er steht auf und schüttelt Bergmann die Hand. „Danke für den Kaffee. Ich melde mich bei Ihnen.“

Montag, 30. Oktober 2006

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24: der Einstieg

„Was wollen Sie wissen,“ fragt Brigitte Dahlem und drückt die Zigarette aus. „Sie sind über die Rote Hilfe zur RAF gekommen,“ schlägt Kaspar vor und trinkt von seiner Cola. Er erntet ein Stirnrunzeln. „Soll ich Ihnen jetzt meine Lebensgeschichte erzählen?“ Kaspar schüttelt ernst den Kopf. „Ich frage mich, wann Sie die Entscheidung getroffen haben, in den Untergrund zu gehen. Und aus welchen Gründen.“ Er legt seinen Kopf schief. „Hatte die Arbeit bei der Roten Hilfe damit zu tun?“ Brigitte Dahlem schüttelt ungeduldig den Kopf. „Die Rote Hilfe, klar habe ich da die Kontakte bekommen. Aber die Entscheidung selbst ist schon vorher gefallen.“ Sie sieht ihm zornig in die Augen. „Die ganze Scheiße damals. Und heute ist es doch nicht besser, es rührt sich nur keiner mehr.“ Alena registriert den kurzen Anflug von Hass auf ihrem Gesicht und ist zu ihrer Überraschung berührt. Aber danach suchen wir, denkt sie dann. Das wollen wir hören. Wir wollen Missionen und Aufopferung für höhere Ziele. Sie konzentriert sich wieder auf die Worte Dahlems. „Ich habe mal Jura studiert, in Münster. Damals dachte ich noch, es gäbe so was wie Gerechtigkeit.“ Sie lacht höhnisch. „1972 war das. Ich bin in schicken Klamotten rumgerannt und habe mit meinen spießigen Kommilitonen, alles Kinder reicher Eltern, Kaffee und Likörchen getrunken.“ Sie schweigt einen Moment und Alena hat den Eindruck, als wenn sie das Bewusstsein verdaut, wie lange diese Zeit her ist. Viel länger als 34 Jahre. Länger als eine Ewigkeit. Im normalen Tonfall fährt Brigitte Dahlem dann fort: „Es war so, als wenn 68 niemals passiert wäre. Aber eine Kommilitonin war anders. Sie hat nachgedacht, sie hat versucht, das System zu durchschauen. In den Semesterferien bin ich dann mit ihr nach Berlin gefahren und sie hat mich ein paar Bekannten vorgestellt. Alle politisch engagiert. Wir waren auf Demos und ich habe mehr Leute kennen gelernt. Auch welche aus der Roten Hilfe. Als wir dann wieder in Münster waren, habe ich gemerkt, dass ich da nicht mehr reinpasse. Anfang 73 haben die Hungerstreiks angefangen und da war mir vollkommen klar, das es sinnlos ist, weiter zu studieren. Dass ich ein Rechtssystem unterstütze, das für Folter und Isolationshaft steht. Das immer noch im dritten Reich verwurzelt ist.“ Emotionslos spult sie die Sätze herunter und Alena hat den Eindruck, als wenn sie diese Erläuterungen schon oft gegeben hat. Sich und anderen. „November 74 hatte ich die Schnauze endgültig voll und bin wieder nach Berlin, um was Sinnvolles zu tun.“ Kaspar nickt. „Holger Meins ist an den Folgen des Hungerstreiks gestorben.“ Dahlem nickt wortlos. „Bei der roten Hilfe habe ich Peter Hoffmann kennen gelernt. Er hat irgendwann gefragt, ob ich Lust habe, ein paar Leuten zu helfen, die gegen den Faschismus kämpfen.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Ich sollte einen Käfig mit einer Katze nach Frankfurt bringen. Im Boden des Käfigs waren zwei Knarren und Geld. In Frankfurt habe ich eine Frau in einer Bahnhofskneipe getroffen und ihr den Käfig übergeben; das war Hanna Krabbe.“ – „Die Geiselnahme in der Stockholmer Botschaft,“ ergänzt Kaspar. Dahlem ignoriert den Einwurf. „Hoffmann ist eine Woche später mit seiner Freundin nach Frankfurt gekommen.“ Ein halbes Grinsen. „Die RAF war zu der Zeit knapp an Personal. Wir dachten, wir helfen ein bisschen aus.“

Samstag, 28. Oktober 2006

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23: alle lieben pia

Alena weiß, dass dies ein kritischer Moment ist. Auch Kaspar wirkt angespannt. „Leider können wir Ihnen kein finanzielles Angebot machen,“ beginnt er langsam. „Wir sind noch bei den Vorbereitungen und haben uns bisher nicht um einen Verleger gekümmert. Dazu kommt, dass wir beide nicht so vermögend sind, dass wir Ihnen einen Vorschuss zahlen könnten. Wir können höchstens anbieten, Sie am Verkauf zu beteiligen.“ Alena schluckt. In ihrer Welt spielt Geld allerhöchstens eine marginale Rolle und sie hatte dementsprechend nicht daran gedacht, dass Brigitte Dahlem eine finanzielle Forderung erheben könnte. Und am Verkauf beteiligen? Das würde bedeuten, dass sie das Buch tatsächlich schreiben müssen. Ihr wird übel. Sich an ein Projekt zu binden, passt ebenso wenig zu ihrer Art zu leben. Dann zwingt sie sich zur Konzentration auf Brigitte Dahlems Gesichtsausdruck, der unergründlich bleibt. Kaspar fährt fort: „Andererseits bieten wir Ihnen die Möglichkeit, die Geschichte der RAF und Ihre persönliche Rolle darin aufzuarbeiten und aufzuschreiben.“ Er sieht sie eindringlich an. „Sie haben Ihr Leben für diese Organisation geopfert. Sie haben ein normales, bürgerliches Leben aufgegeben, um in den Untergrund zu gehen und um für etwas zu kämpfen, von dem Sie überzeugt waren. Sie haben lange dafür im Gefängnis gesessen. Ich könnte mir vorstellen, dass es in Ihrem Interesse liegt, nicht nur der Öffentlichkeit Ihre Motive zu erklären und das Bild der RAF gerade zu rücken, sondern auch für sich selbst eine Klärung zu erreichen – und vielleicht einen Abschluss herbeizuführen.“ Er schweigt eine Sekunde. „Denken Sie nicht, dass eine Reflexion im Zusammenhang mit diesem Projekt Sie frei machen würde, endlich ein neues Leben zu beginnen? Glauben Sie nicht, dass Sie dadurch die Möglichkeit bekommen, endlich aus der Vergangenheit herauszutreten?“ Unwillkürlich hält Alena den Atem an. Das geht zu weit, denkt sie. Das ist nicht klug. Dahlem wird nicht mögen, dass er Anspruch darauf erhebt, ihre Gefühle oder Gedanken zu kennen. Und Alena weiß, dass Kaspar hier zu einem großen Teil seine eigenen Gefühle zum Ausdruck gebracht hat. Auch er sehnt sich nach einem Ende, danach den Kopf endlich frei zu bekommen, frei für etwas Neues, für ein Leben nach einer Vergangenheit, die vollständig durch diese Organisation bestimmt war, der seine Mutter angehörte. Fasziniert wird ihr dann bewusst, dass Brigitte Dahlem und Kaspar sich gegenseitig ansehen, mit Blicken, die wie Lichtstrahlen in die Seele des Gegenübers zu leuchten versuchen. Zu ihrer Überraschung nickt Brigitte Dahlem schließlich, fast unmerklich. „Es geht mir nicht um Geld,“ sagt sie. Nachlässig zündet sie eine neue Zigarette an. „Aber ich bin bereit, mit Ihnen zu reden.“ Sie nimmt einen tiefen Zug und bläst den Rauch zur Seite weg. „Vorerst,“ setzt sie dann entschieden hinzu. „Ich verpflichte mich zu nichts. Ich bestimme, wie lange ich dabei bleibe. Und ich will die Texte lese, bevor sie veröffentlicht werden.“ Zum Einverständnis senkt Kaspar leicht den Kopf, auf seinem Gesicht ist keine Spur eines Lächelns zu entdecken, kein Ausdruck von Freude oder Erleichterung. Er nimmt die Akzeptanz Dahlems ohne Gefühlsregung zur Kenntnis, und Alena ist gegen ihren Willen beeindruckt. „Möchten Sie noch ein Wasser, oder lieber etwas anderes,“ fragt er dann höflich.

Riesel ist nicht im Büro, als Pia eintritt, was sie mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis nimmt. Immerhin hat er Kaffee gekocht und sie schüttet sich ihre Bürotasse randvoll. Nachdem sie eine Weile hektisch auf der vollgestellten Ablage gesucht hat, stellt sie fluchend fest, dass der Würfelzucker alle ist. Koffein ohne Kohlenhydrate ist nur halb so wirksam, also macht sie sich auf den Weg in das Nachbarbüro. Als sie ohne Klopfen eintritt, verstummt das lebhafte Gespräch der vier Kollegen, die sich auf den vorhandenen Sitzgelegenheiten verteilt haben. „Kollegin Stein-Bachmüller. Was für eine Ehre, Sie in diesem bescheidenen Büro empfangen zu dürfen,“ tönt Oberkommissar Krause und Pia blickt in die verschlossenen Gesichter von Oberkommissar Brendel und den Kommissaren Krüger und Flohs. Sie weiß, dass sie im Präsidium so beliebt ist wie eine ansteckende Krankheit. „Haben Sie ein paar Stück Würfelzucker für mich,“ fragt sie, ohne sich lange an einer Begrüßung aufzuhalten. Krause starrt sie an und zuckt dann mit den Schultern. „Tut´s auch Süßstoff?“ Pia murmelt einen weiteren Fluch, hält aber dennoch ihre Hand auf: „Zwei Stück.“ Krause zieht einen Plastikspender aus seiner Schreibtischschublade und lässt zwei kleine Tabs in ihre Handfläche fallen. „Sie bearbeiten den Schwarz-Fall,“ meint er beiläufig. „Stimmt,“ erwidert Pia kühl und wendet sich zum Gehen. „Schwarz hatte viele Freunde im Präsidium,“ bemerkt Krause weiter und Pia hört das angedeutete „Ganz im Gegenteil zu Ihnen“ deutlich heraus. „Schön für ihn,“ murmelt sie nur und bewegt sich weiter in Richtung Tür. „Haben Sie schon eine Spur?“ Die Vorstellung, man könne glauben sie tappe noch im Dunkeln ist ihr unerträglich. Also dreht sie sich kurz um. „Natürlich,“ erklärt sie herausfordernd. „Allerdings gebe ich keine Informationen an Unbefugte weiter.“ Mit einem zufriedenen Kribbeln stellt sie fest, dass nicht nur Krauses Gesicht rot vor Wut wird. „Wir waren Kollegen von Otto Schwarz. Verdammt gute Kollegen. Also sind wir verdammt noch mal sehr wohl befugt zu wissen, welche Ratte ihn erschossen hat,“ zischt Brendel und Krause steht auf und stützt sich mit den Handflächen auf die Schreibtischplatte. „Tun Sie nicht so verdammt arrogant, Frau Kollegin. Ich kann mir keinen Grund der Welt vorstellen, warum Oberdorf ausgerechnet Ihnen diesen Fall übertragen hat. Aber glauben Sie mir, wir gucken Ihnen verflucht genau auf die Finger. Schwarz war einer von uns und wir stellen sicher, dass der Fall bis zum letzten verdammten Stückchen gelöst wird.“ Pias Augen haben sich zu schmalen Schlitzen zusammengezogen. Mit zusammengepressten Lippen erklärt sie: „Ich sage Ihnen, warum Oberdorf mir den Fall gegeben hat. Abgesehen davon, dass ich einer der fähigsten Ermittler in diesem Laden bin, bin ich wahrscheinlich die Einzige, die hier einen klaren Blick behält und nicht mit Schaum vor dem Mund durch die Gegend läuft.“ Dann entspannt sie sich und dreht sich in Richtung Tür, bevor die Kollegen ihre Fassung wieder erlangen. Im Hinausgehen bemerkt sie nonchalant: „Und ob Schwarz tatsächlich einer von uns war, steht erst am Ende meiner Ermittlungen fest.“

Freitag, 27. Oktober 2006

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22: das erste Treffen

Das große Cafe ist gut besucht. Stimmengewirr umschwirrt Alena, lautes Lachen von der Seite, bunte Sommerkleidung. Kaspar hat einen Tisch am Rand des Außenbereichs ausgewählt, trotzdem fühlt sie sich unwohl. Nervös nippt sie an ihrem Eistee. „Wir hätten uns etwas ruhigeres aussuchen können,“ murmelt sie und fühlt Kaspars nachdenklichen Blick. „Zu viele Menschen? Kommst Du klar?“ Sie nickt heftig, ohne ihn anzusehen. „Vielleicht wäre es für Frau Dahlem angenehmer gewesen, uns irgendwo zu treffen, wo wir mehr unter uns gewesen wären. Wo nicht jeder unser Gespräch überhören kann.“ Das ist nicht der wahre Grund für ihr Unbehagen, aber Kaspar geht darauf ein. „Wenn Du Dich in Ruhe unterhalten möchtest, gibt es keinen besseren Ort als dichtes Menschengewühl. Niemand achtet auf uns. Wir verschwinden in der Menge. Und unser Gespräch wird vom allgemeinen Lärmpegel verschluckt.“ Alena nickt schweigend, dann sieht sie auf und heftet ihren Blick auf eine hagere Frau mit braunem Haar, das zu einem lockeren Zopf zusammengebunden ist. Alena weiß sofort, dass es sich um Brigitte Dahlem handelt. Sie steht auf und hebt ihre Hand. Einen Moment mustern sich die beiden Frauen, dann kommt Brigitte Dahlem langsam auf sie zu. Sie sieht von Alena zu Kaspar, der ebenfalls aufgestanden ist. „Frau Dahlem? Ich bin Kaspar Wagenbach. Das ist meine Mitarbeiterin, Frau Brandenburg.“ Brigitte Dahlem heftet ihren Blick erneut auf Alena. „Es war nicht abgemacht, dass noch jemand dabei ist.“ Sie klingt bestimmt und einen Moment fürchtet Alena, sie könne sich umdrehen und sofort wieder gehen. Aber die Dahlem bleibt stehen und fixiert Kaspar, der unerwartet ruhig bleibt. „Tut mir leid, dass ich sie nicht erwähnt hatte, aber wir schreiben das Buch zusammen. Frau Brandenburg ist ebenfalls Historikerin, sie liefert den theoretischen Hintergrund zum allgemeinen Begriff Terrorismus.“ Innerlich verflucht sie Kaspar, aber in Richtung Brigitte Dahlem bringt Alena ein höfliches Lächeln zustande. Wo zum Teufel soll sie auf die Schnelle einen theoretischen Hintergrund herzaubern? Nach einem Moment der beiderseitigen Anspannung zuckt Brigitte Dahlem mit den Schultern. „Gut. Wir werden sehen.“ Sie setzt sich und auch Kaspar und Alena lassen sich auf ihre Stühle fallen. Langsam spürt Alena, dass die lachende und redende Menschenmenge sich von ihrem Dreier-Tisch zurückzieht und ein soziales Vakuum zurücklässt. Sie hat plötzlich das Gefühl, sich an einem anderen Ort zu befinden, einem Ort, zu dem die Welt keinen Zutritt hat. Sie kennt dieses Gefühl, trotzdem schaudert ihr. Es ist nicht ihr Ort, sondern die Wirklichkeit Brigitte Dahlems, die sie schleichend umfängt. Alena atmet tief ein, um das Unbehagen unter Kontrolle zu bekommen. „Was möchten Sie trinken,“ fragt Kaspar, und die Frage klingt für Alena seltsam deplaziert. „Wasser,“ murmelt Frau Dahlem und zieht eine zerdrückte Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche. Sie trägt eine schwarze Bluse über der Jeans im klassischen Schnitt, die Ärmel der Bluse sind hochgekrempelt. Kaspar winkt dem Kellner, der ein wenig Normalität mit bringt, als er an ihren Tisch tritt. „Noch einen Eistee,“ bittet Alene und Kaspar gibt die Bestellung auf. Dann sind sie wieder für sich, in dem vollbesetzten Cafe am Rande der belebten Fußgängerzone und Alena fragt sich, ob Brigitte Dahlem selbst diese Kluft empfindet, die zwischen ihr und den anderen Menschen auf dieser Strasse herrscht. Ob ihr diese Mauer ständig bewusst ist, die sie von dem Rest der Welt trennt. „Was ist das für ein Buchprojekt,“ fragt Brigitte Dahlem nun, an Kaspar gewandt. Alena hat das Gefühl, dass sie ignoriert werden wird und das ist ihr sehr recht. „Es wird einen allgemeinen Focus auf das Phänomen Terrorismus werfen und dann den modernen fundamentalistischen Terrorismus der Marke El-Kaida dem zeitgeschichtlichen Terrorismus der 70er und 80er Jahre gegenüberstellen.“ Sein Lächeln ist ungewohnt charmant. Diesen Kaspar hat Alena noch nicht oft erlebt, aber sie weiß, dass es ihn gibt. Die gesellschaftliche Seite des Außenseiters, die nur hervorgeholt wird, wenn Kaspar sich davon etwas verspricht. Für eine wohlkalkulierte Zeitspanne weichen der ewig misstrauische Gesichtsausdruck, der forschende Blick und die zusammengepressten Lippen und machen einem offenen Grinsen Platz, einem freundlichen Blinzeln und einladenden Handbewegungen. „Da ich mich in der Vergangenheit viel mit der RAF beschäftigt habe,“ Kaspar produziert eine jungenhafte und sehr unschuldige Grimasse, „lag es nahe, dass diese Organisation in dem zweiten Teil des Buches eine größere Rolle spielt.“ Der Kellner bringt die Getränke und Alena reicht ihm die leeren Tassen. „Wir möchten aber nicht nur historische und politische Fakten aufzählen, sondern uns interessieren auch die Beweggründe des Einzelnen. Das Buch soll quasi zwischen den Polen Theorie und Gruppe bzw. Individuum oszillieren.“ Er lächelt gewinnend. „Aus diesem Grund sind wir an einer Zusammenarbeit mit Ihnen interessiert. Sie können zum einen unsere Lücken über die politische Theorie der RAF füllen und zum anderen wesentliche Erkenntnisse über die Gruppendynamik und individuelle Motive beitragen.“ Nach den Worten herrscht kurzes Schweigen. Dann richtet Brigitte Dahlem ihre harten grünen Augen auf Kaspar. „Warum sollte ich Ihnen helfen?“

Mittwoch, 25. Oktober 2006

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21: ein paar Überlegungen

Christopher nickt. „Ich erinnere mich. Es ist als Rache für den angeblichen Mord des Systems an Baader und Co. dargestellt worden. Der Beinahe-Anschlag hat für riesige Furore in der Presse gesorgt, vor allem wegen des Anschlagsziels. Von daher war es schon fast clever gewählt, sie bekamen die Publicity, die sie wahrscheinlich auch angestrebt hatten.“ – „Auf Publicity scheint sich die RAF eh am besten verstanden zu haben,“ bemerkt Pia trocken und erntet ein Grinsen. „Wirfst Du ihnen vor, dass sie schlampig gearbeitet haben?“ Christopher lehnt sich zurück und lächelt breit. „Tja, vielleicht wärst Du effektiver gewesen, wenn Du damals schon alt genug gewesen wärst. Was meinst Du, kannst Du Dir auch vorstellen, auf der anderen Seite Karriere zu machen?“ Pia antwortet nicht sofort. Sie betrachtet wieder die kleine Porzellantasse, die sie irgendwann mal mit Christopher auf einem Trödel in Rom gekauft hatte. Ihr Leben ist in einer geraden Linie verlaufen, ohne große Schicksalsschläge, ohne besondere Ereignisse. Hätte sie ein Erlebnis aus der Bahn geworfen, was wäre passiert? Nicht jeder findet zurück in die Spur. Und manche verlassen sie freiwillig. Ist es ein Zeichen für Mittelmäßigkeit, dass sie stetig diese Gerade entlang gegangen ist? Ein Zeichen für Phantasielosigkeit oder Bequemlichkeit? Alena fällt ihr ein, die ein Leben neben der Spur lebt, aber sich nie weit davon entfernt, quasi parallel dazu läuft. Dann wird ihr bewusst, dass Christopher sie aufmerksam beobachtet. „Die Frage ist nicht leicht zu beantworten,“ suggeriert er. „Niemand ist als Kripo-Beamter geboren. Oder als Terrorist. Es sind Entscheidungen, die wir treffen.“ Sie weicht seinem Blick aus. „Treffen wir wirklich immer Entscheidungen? Das können doch nur Philosophen behaupten. Tatsächlich gibt es doch Situationen, in die wir hineingeraten, in denen wir in eine bestimmte Richtung geschubst werden und dann einfach weiterlaufen, oder?“ Christopher seufzt. „Bei Heidegger gibt es den Begriff der Geworfenheit, und das bedeutet, dass man immer schon situiert ist, sich bereits in einer Gegebenheit befindet.“ Sein Blick verliert sich im dunklen Flur hinter ihr. „Aber wie zwingend ist diese Gegebenheit für eine Handlungsentscheidung? Jetzt mal abseits von Heidegger und von katheder-philosophischen Überlegungen, aber findest Du nicht, dass der gesunde Menschenverstand uns zeigt, dass wir uns zumindest bewusst werden sollten über die Situation, in der wir uns befinden? Und damit auch bewusst über die Handlungsalternativen, die wir haben?“ Er schüttelt den Kopf, fast ärgerlich. „Nimm Ulrike Meinhof als Beispiel. Sie war angesehene Journalistin, hatte zwei Kinder, einen Ehemann, war wohlhabend. Nichts und niemand hat sie gezwungen, in den Untergrund zu gehen und Bomben zu legen. Oder Gudrun Ensslin, deren Eltern freigeistige Theologen waren und auch noch nach dem Brandanschlag auf das Frankfurter Kaufhaus zu ihr standen. Ensslin hätte sicher jederzeit ihr Studium wieder aufnehmen und sich auf die Unterstützung ihrer Eltern verlassen können.“ Nun sucht er den Blick Pias. „Sie haben diesen Weg frei gewählt. Sie haben eine Entscheidung getroffen.“ Pia fühlt bleierne Müdigkeit in sich aufsteigen. „Vielleicht waren sie zumindest darin vielen Menschen voraus,“ murmelt sie. „Menschen, die keine Entscheidung treffen, sondern sich anpassen, den Weg des geringsten Widerstands gehen. Die sich im Leben treiben lassen, ohne Ambitionen.“ Christopher legt einen Finger unter ihr Kinn und hebt ihren Kopf so, dass sie ihn anschauen muss. „Aber das trifft doch nicht auf dich zu. Du bist der gradlinigste Mensch, den ich kenne.“ Er lächelt. „Du hast Ziele und triffst daraufhin deine Entscheidungen, jeden Tag. Und lässt dich durch nichts davon abbringen. Was nicht immer eine positive Eigenschaft ist.“ Sein Grinsen verschwindet. „Aber deine Gedanken gerade sind ein Echo dessen, was anscheinend die Linke in den 70ern empfand. Schuldgefühle, weil andere konsequenter waren, als sie. Selbstzweifel nach dem Rückzug aus der 68er Revolution in das sogenannte bürgerliche Leben. Die eigene Konfrontation mit Begriffen wie Feigheit oder Bequemlichkeit. Die Frage nach Authentizität.“ Pia fühlt seinen Blick. „Wenn wir mit den extremen Entscheidungen Anderer konfrontiert werden, fühlen wir uns herausgefordert, unseren eigenen Lebensweg zu hinterfragen. Aber das ist eine rein psychologische Reaktion, sie hat keinen ethischen Hintergrund. Das Extreme allein ist keine Handlungsbegründung, es kommt auf den Inhalt einer Überzeugung an, oder die Intention einer Handlung, nicht auf ihre Qualität.“ Pia nickt langsam und steht auf. „Ich muss ins Bett. Und wenn ich Brigitte Dahlem das nächste Mal sehe, lade ich sie mal zum Essen ein, dann kannst Du Dich mal mit ihr unterhalten. Vielleicht belegt sie dann sogar demnächst ein paar Kurse bei Dir.“ Aber ihr Lächeln ist nicht zynisch.

Montag, 23. Oktober 2006

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20: der Anschlag

Abends fragt Pia ihren Mann: „Kennst Du jemanden an der Uni, der Ahnung von Terrorismus hat, speziell RAF? Irgendeinen Historiker?“ Sie sitzen sich am Küchentisch gegenüber und trinken den Espresso nach der Tiefkühlpizza. Christopher fährt mit den Fingern durch die blonden Haare, die an den Schläfen bereits grau werden. „Irgendeinen Historiker? Ich bitte Dich. Bei uns lehren nur Koryphäen.“ Er grinst. „Aber ehrlich gesagt habe ich nicht viel Kontakt zum historischen Seminar. Philosophen kommunizieren mit jedem Wissenschaftler über jedes Fachproblem, aber Historiker sind da eher etwas zugeknöpft. Es bestehen Kontakte zu den Kunstgeschichtlern, und in einem gewissen Maß auch zu den Komparatisten. Aber mit Philosophen wollen sie nichts zu tun haben, zumindest an unserer ehrwürdigen Institution.“ – „Kannst Du denn mal einen Vorstoß wagen? Tu einfach so, als wenn Du wahnsinnig interessiert an der jüngeren deutschen Geschichte wärst,“ schlägt Pia vor. Christopher protestiert empört: „Ich bin interessiert.“ Dann zuckt er mit den Schultern. „Ich kann es ja mal versuchen. Aber ob jemand dabei ist, der sich ausgerechnet auf die RAF spezialisiert hat, wage ich zu bezweifeln. Dafür kann ich aber wahrscheinlich jede Menge Weimar-Experten oder 1.-Weltkriegs-Kenner anbieten.“ Er erntet eine kühle Grimasse und schüttelt bedauernd den Kopf. Dann fragt er neugierig: „Gibt es schon neue Erkenntnisse?“ Pia starrt ihn einen Moment an und entscheidet dann, dass es nichts schaden kann, wenn sie ihm von dem Nachmittag erzählt. „Ich habe heute mit einer waschechten Ex-Terroristin gesprochen.“ Sie runzelt die Stirn. „Gibt es überhaupt Ex-Terroristen, oder hat man diese Ehrenbezeichnung schon dadurch verloren, dass man überlebt hat?“ Christopher beugt sich nach vorn. „Wen hast Du getroffen?“ Pia grinst angesichts seiner offensichtlichen Faszination. „Brigitte Dahlem. Ist Dir der Name ein Begriff?“ Christopher grübelt eine Weile und gibt dann auf. „Nie gehört. Sie hat wohl nicht zur ersten Garde gehört?“ – „Wie man´s nimmt. Sie stammt aus der Zweiten Generation und ist im September 1978 aktiv geworden, nachdem sie bereits einige Zeit im Untergrund verbrachte. Tatsache ist wohl, dass es sich bei dieser Aktion um den mit Abstand dämlichsten Plan gehandelt hat, der einem Kommando der RAF eingefallen ist.“ Pia schnaubt verächtlich. „Dahlem, eine Frau namens Marianne Wagenbach, Hans-Joachim Burg, Peter Hoffmann und Robert Koch wollten unter der Bezeichnung „Kommando Andreas Baader“ die amerikanische Botschaft in Bonn in die Luft sprengen. Dafür wollten sie einen mit TNT beladenen Wagen auf das Botschaftsgelände fahren und den Sprengstoff mit Fernsteuerung zünden. Total hirnrissig, es hätte wahrscheinlich schon deshalb niemals funktioniert, weil der Wagen garantiert nicht durch die Kontrollen gekommen wäre, auch wenn er US-Nummernschilder hatte. Aber es ging schon vorher schief, weil das BKA einen Tipp bekommen hatte und Stunden vor dem Anschlag eine Wohnung am Rande von Bonn stürmte, wo in einer Garage auch den Bomben-Wagen gefunden wurde. Die Menge an Sprengstoff war wohl recht imposant, weshalb man das ganze zu einem Jahrhundert-Anschlag gehyped hat.“ Pia legt den Kopf schief. „Unser toter Polizeihauptkommissar spielte eine wichtige Rolle bei der ganzen Sache. Er war derjenige, der die Wohnung ausfindig gemacht hatte.“ Sie spielt mit der kleinen, weißen Tasse vor ihr. „Es hieß offiziell, dass ein Nachbar sich bei der Polizei gemeldet hatte, weil ihm die Gruppe verdächtig vorkam. Aber schon damals wurde spekuliert, ob Schwarz nicht vielleicht einen Informanten hatte, der ihm den entscheidenden Hinweis gegeben hat.“ Nachdenklich starrt sie auf den Tisch. „Tatsächlich war die Wohnung leer, als die Kollegen dort auftauchten. Genauso wie Schwarz, hatte vielleicht auch das Kommando einen Hinweis auf die Razzia bekommen. Es dauerte danach noch drei Jahre, bis Dahlem, Burg und Hoffmann verhaftet werden konnten. Schwarz hat sich allerdings wie ein Jagdhund an ihre Fährten geheftet und keine Ruhe gegeben, bis er ihnen ihre Rechte vorlesen konnte. Sein Engagement bei der Suche nach den Flüchtigen hat bei den Kollegen jeden Zweifel weggewischt. Nach außen hin ist er von Anfang an als Superbulle dargestellt worden, als Terroristenjäger. Polizisten wie Schwarz waren wichtig um der Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass man den Terrorismus im Griff hatte.“

Sonntag, 22. Oktober 2006

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19: die Suche

Sie erntet einen ungehaltenen Blick von Kaspar. „Für Dich mag das ja alles sehr unterhaltsam sein, aber für mich geht es um mehr.“ Er sieht sie eindringlich an. „Seit ich klein bin, habe ich mich gefragt, was genau das war, für das meine Mutter alles aufgegeben hat. Warum sie in den Untergrund gegangen ist, warum sie auf ein Leben mit einer Familie oder einer Karriere verzichtet hat, warum sie mich einfach zurückgelassen hat. Und warum sie sich nie gemeldet hat.“ Alena beobachtet besorgt, wie seine Kiefermuskeln sich verhärten. „Sie hat es noch nicht einmal für notwendig gehalten, einen Abschiedsbrief zu schreiben. Selbst als ihr klar war, dass sie sterben wird und sie mich nie wieder sehen würde, ist ihr nicht in den Sinn gekommen, mir ein paar Zeilen zu hinterlassen.“ In Kaspars Stimme schwingt die ganze Verbitterung, die seit Jahren in ihm wütet. Alena seufzt unhörbar. Sie hat diese oder ähnliche Worte schon so oft gehört, sie hat die unaufhörlichen Versuche beobachtet, mit denen Kaspar sich dem Unerklärlichen annähern wollte, sich schließlich selbst auf die Suche nach Gründen mit ihm eingelassen. Zusammen haben sie die historischen Fakten rekonstruiert, die veröffentlichten Polizeiberichte durchforstet und die Aussagen von ehemaligen RAF-Mitgliedern gelesen. Gemeinsam analysierten sie die Gründe und Rechtfertigungen für den Gang in die Illegalität, für die Entscheidung zu Zerstörung und Mord, immer auf der Suche nach Parallelen zu Kaspars Mutter, immer in der Hoffnung, etwas zu finden, das ein Licht auf Marianne Wagenbachs Handlungen werfen könnte. Kaspar hatte bis 1990 keine Ahnung, ob seine Mutter noch lebte und wo sie sich aufhielt. Erst nach dem Fall der Mauer, als die Spuren der RAF-Mitglieder, die in die DDR geflohen waren, wieder aufgenommen werden konnten, kam heraus, dass auch Marianne Wagenbach unter den Flüchtigen gewesen war, denen die DDR Unterstützung angeboten hatte. Und dass sie sich Anfang Dezember 1989 mit Schlaftabletten umgebracht hatte. Seitdem war Kaspar klar, dass er sie nie mehr würde fragen können, dass er für immer in der Ungewissheit würde leben können, warum sie die RAF ihm vorgezogen hatte. Mit diesem Bewusstsein hatten seine Bemühungen jedoch nicht geendet, sie wurden, im Gegenteil, noch intensiver, noch verbissener. Als Alena ihn Mitte der 90er Jahre in einem der Hörsäle der Altenburger Uni zum ersten Mal sah, war ihr seine Anspannung aufgefallen, die Konzentration, die ihn umgab, und die Zielgerichtetheit, die jede seiner Fragen ausdrückte. Und nachdem sie sich näher kennen gelernt hatte, war sie von seiner Suche fasziniert. Davon, dass er sein ganzes Leben auf die Beantwortung einer Frage ausrichtete. Davon, dass er überhaupt eine Frage hatte, die ihn dermaßen in den Bann zog. Ganz im Gegenteil zu ihr, vor der die Realität wie ein klarer, durchsichtiger See lag, der keine Geheimnisse barg. „Wir müssen Brigitte Dahlem das Buchprojekt präsentieren,“ unterbricht Kaspar ihre Gedanken. „Sie wird wissen wollen, worum es geht. Es reicht nicht, eine pauschale Aufarbeitung der Fakten vorzuschieben, das haben auch schon andere vor mir gemacht. Ich sollte eine These vorzuweisen haben. Irgendwas, das ihr Interesse erweckt, von dem sie sich angesprochen fühlt.“ Alena nickt aufmerksam. „Das ist eine gute Idee.“ Dann sieht sie ihn interessiert an. „Aber vermutlich hast Du schon eine Idee, oder?“ Kaspar beist mit den Schneidezähnen auf seine Lippen.

Eine Stunde später hört Alena ein zufriedenes „Wunderbar“ aus dem Telefonhörer, gefolgt von Pias eher nachdenklicher Frage: „Und Sie gehen mit?“ – „Sicher. Ich trete als seine Assistentin auf. Außerdem bin ich das Verbindungsglied zwischen Ihnen und ihm, Sie werden nur von mir die Berichte erhalten.“ Kurze Pause am anderen Ende der Leitung. „Der Name, den Sie mir genannt haben, ist falsch. Es existiert niemand mit dem Namen Johannes Stein in Altenburg und selbst bei der Häufigkeit dieses Namens habe ich keinen promivierten Historiker namens Johannes Stein gefunden.“ Alena lächelt. „Er hat nicht promoviert. Aber Sie haben recht, der Name ist falsch und ich werde Ihnen seinen richtigen Namen auch nicht nennen. Er will unter keinen Umständen in diesen Fall verwickelt werden. Er wird nicht als Zeuge vor Gericht auftreten. Sein Interesse an Frau Dahlem ist rein wissenschaftlicher Natur.“ Sie wartet kurz und als Pia nicht reagiert, fügt sie hinzu: „Wenn Sie mit den Bedingungen nicht einverstanden sind, dann lassen wir das Ganze.“ Ein vernehmliches Ausatmen ist die Antwort. „Ach, verdammt. Gut, meinetwegen. Solange Sie mir haarklein, in allen Einzelheiten und jedes winzige Detail berichten, was die Dahlem Ihnen erzählt, kann es mir egal sein, wie Ihr Historiker heißt. Ich muss nur plausibel machen, woher ich diese Informationen habe, aber da fällt mir schon etwas ein.“ Pias Tonfall wird etwas liebenswürdiger. „Und vielleicht ergibt sich ja doch noch mal die Gelegenheit, Ihren Historiker kennen zu lernen. Wir sollten irgendwann alle zusammen einen Kaffee trinken gehen.“ Alena lacht. „Ich melde mich nach dem Gespräch bei Ihnen.“

Freitag, 20. Oktober 2006

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18: Verwandte

Zurück im Büro findet Pia Riesel mit verbissenem Gesicht am Rechner. „Ist das Protokoll schon fertig,“ fragt sie kühl und Riesel hebt alarmiert den Kopf in ihre Richtung. „Ich war gerade bei einer Recherche,“ stottert er; dann hellt sich sein Gesicht auf. „Ich haben einen Weg aus der Sackgasse gesucht und vielleicht etwas gefunden. Sie hatten gestern erwähnt, dass ich auch nach Verwandten suchen soll und darauf habe ich mich gerade konzentriert. Burg ist kinderlos, keine Frau. Der Vater ist verstorben und die Mutter sitzt in einem Altenheim in Süddeutschland. Ich habe schon mit dem Heim telefoniert. Maria Burg bekommt nichts mehr mit, Demenz. Laut Aussage von der Leiterin hat sich ihr Sohn noch nie dort gemeldet und sie kann sich nicht daran erinnern, dass Maria Burg jemals Besuch hatte. Brigitte Dahlem ist ebenfalls unverheiratet und hat keine Kinder. Eltern verstorben. Hoffmann scheint ebenfalls keine Kinder zu haben. Die Mutter lebt in der Nähe von Hamburg, ist noch rüstig, aber es ist wohl nicht davon auszugehen, dass sie in ihrem Alter noch den Tod ihres Sohnes rächen möchte. Hoffmann hat einen Bruder, der in Blankenese wohnt, Banker ist und Frau und Kinder hat. Ich kann ihn natürlich anrufen, aber irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass er besonders scharf darauf ist, auch nur an seinen Terroristenbruder erinnert zu werden.“ Riesel grinst und Pia senkt sieht ihn mit übertriebener Erwartung an. „Das ist wirklich unglaublich spannend. Aber Sie erwähnten vor dem Generationenvortrag, dass Sie erfolgreich gewesen seien. Bisher scheinen sich die Sackgassen eher vervielfacht zu haben.“ Riesel nickt eifrig. „Da ist noch Marianne Wagenbach. Sie war nicht verheiratet, aber sie hat einen Sohn, Kaspar Wagenbach. Der Sohn war allerdings fast von Beginn an in Heimen untergebracht. Wahrscheinlich hat er seine Mutter niemals kennen gelernt.“ Er blickt erwartungsvoll in Pias Richtung, die müde mit den Schultern zuckt. „Schön,“ murmelt sie und blättert in der Mordakte auf ihrem Schreibtisch. „Er wohnt in Altenburg,“ ergänzt Riesel triumphierend. Pias Kopf hebt sich langsam. „Gut, wenn es keine besonderen Reisekosten verursacht, können Sie sich den Sprössling ja mal ansehen. Aber jetzt schreiben Sie mir erst mal das Protokoll, ich muss heute noch Bericht erstatten bei Oberdorf.“ Sie schließt ihre Augen und murmelt etwas vor sich hin, aus dem Riesel das Wort „lästig“ herausfiltern kann. Er lächelt, als er sich wieder dem PC zuwendet. Der Gedanke, dass seine ungeliebte Kollegin auch mal unter Druck steht, ist ihm alles andere als unlieb.

„Sie hat eingewilligt,“ erklärt Kaspar fassungslos, den Telefonhörer immer noch in der Hand. Alena rutscht aufgeregt auf der Kante des Sofas herum. „Hab ich doch gesagt! Es war echt überzeugend, als du ihr erklärt hast, dass es diesmal nicht um deine Mutter geht, dass Du damals in einer sehr emotionalen Phase warst, heute aber erkannt hast, dass Dich Erkenntnisse über Deine Mutter persönlich nicht weiterbringen, sondern dass Du Deinen eigenen Weg gehen musst.“ Kaspar wird rot. „Habe ich das wirklich gesagt,“ murmelt er und Alena grinst. „So etwas ähnliches jedenfalls. Aber es ist gut rübergekommen, dass der Stein des Anstoßes, nämlich Deine Mutter, zu einem rein wissenschaftlichen Interesse mit der RAF geführt hat.“ Sie steht auf und kniet sich vor Kaspars Sessel. „Das Treffen ist morgen Mittag?“ Als Kaspar langsam nickt, steht sie auf. „Gut, ich bin dabei.“ Kaspars Kopf fliegt in ihre Richtung. „Davon war nie die Rede. Das kommt überhaupt nicht in Frage. Du hast nichts mit der Angelegenheit zu tun und es macht sie garantiert nur misstrauisch, wenn Du mitkommst.“ Auf Alenas Gesicht macht sich gut gespielte Überraschung breit. „Aber Du hast mich doch um meine Hilfe gebeten. Und ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt.“ Sie entscheidet sich, ihrem Gesichtsausdruck einen Anflug von Verletztheit zuzufügen. „Ich dachte Du möchtest, dass ich Dir auch weiterhin beistehe. Ich dachte es wäre einfacher für Dich, wenn ich bei dem Gespräch dabei bin.“ Jetzt eine Prise Entschlossenheit. „Zu Zweit können wir viel mehr von ihr erfahren. Du könntest mich als Deine Assistentin vorstellen, das macht gleich einen viel professionelleren Eindruck. Ich übernehme auch die Gesprächsnotizen, weil sie garantiert nicht möchte, dass wir das Gespräch aufnehmen.“ Kaspar starrt sie einen Moment an und verdreht dann die Augen. „Die Show hättest Du Dir sparen können. Ich bin Dir genauso wichtig, wie das Sofa da.“ Er runzelt die Stirn. „Als Du Deine Polizistenfreundin kontaktiert hast, hattest Du bestimmt nicht ausschließlich den Herzenswunsch, mir zu helfen. Der Grund war wohl eher,“ er stoppt und sieht sie an. „Ja, aus welchem Grund hast Du es eigentlich getan?“ Alena seufzt und lässt sich zurück auf das ausgesessene Sofa fallen. „Doch, ich wollte Dir helfen. Du hattest einen so verzweifelten Eindruck am Telefon gemacht.“ Sie lächelt. „Ich weiß, Du traust mir so viel Empathie nicht zu. Aber es war tatsächlich einer der Gründe. Der andere Grund ist natürlich, dass das alles total spannend ist. Ich bin einfach neugierig.“ Jetzt beginnen ihre Augen zu funkeln. „Der Mord in Verbindung mit einer alten Terrororganisation. Und dazu Du und Deine Mutter. Klar interessiert mich das.“ Nachlässig streicht sie sich eine Locke aus der Stirn. „Außerdem habe ich momentan nichts anderes zu tun. Die Sache könnte ein netter Pausenfüller werden.“

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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