Kapitel Fünf

Freitag, 30. März 2007

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90: briefing

Als sie spürt, dass sich jemand neben sie setzt, lässt sie die Hände fallen und blickt zur Seite. Pia schaut sie aufmerksam an. „Wagenbach bleibt erst einmal hier. Er muss in Untersuchungshaft. Da er gestanden hat, die Briefe geschrieben zu haben, ist er automatisch Hauptverdächtiger für die Morde an Schwarz und Burg.“ – „Warum soll er Burg getötet haben? Er hat doch gar kein Motiv,“ sagt Alena nervös. Sie hat einen Kloß im Hals. Pia nickt vorsichtig.

„Das ist zwar richtig, aber Burg wurde mit der gleichen Waffe erschossen wie Schwarz.“ Alena verkrampft ihre Hände ineinander. „Pia, ich kann nicht glauben, dass Kaspar jemanden getötet hat. Die Briefe, gut, vielleicht ist er so verrückt. Aber Mord? Nein, auf keinen Fall.“ Ihr Stimme zittert. Ein seltsamer Ausdruck erscheint auf Pias Gesicht. Mitgefühl? Dann runzelt sie die Stirn. „Sie wären überrascht, wer alles zu einem Mord fähig ist. Von der netten alten Dame, die ihre Nachbarin nicht leiden kann, bis zum langweiligen Briefmarkensammler, dem ein Sammlerkollege eine seltene Marke entwendet hat, hatte ich schon alles bei mir sitzen. Für Mord gibt es kein Gen, niemand ist determiniert zu morden oder auch nicht zu morden. Wenn man davon ausgeht, dass es einen freien Willen gibt, muss man leider auch annehmen, dass jeder einen Mord begehen kann.“ Alena schließt kurz die Augen. „Das ist natürlich richtig. Aber trotzdem,…“. Ihr gehen die Argumente aus.

Pia nickt kurz. „Hören Sie, noch ist Kaspar nicht verurteilt. Und ich hatte schon einmal in Erwägung gezogen, dass der Verfasser der Briefe nicht unbedingt auch der Mörder sein muss. Gut, das Zusammentreffen von Briefen und Mord ist natürlich auffällig. Aber Schwarz hat die Briefe schließlich mehrere Monate lang erhalten, vielleicht ist es nichts weiter als Zufall. Und es gibt sicher noch eine ganze Reihe von Leuten, die Schwarz gerne tot gesehen hätten.“ Sie seufzt. „Wenn die Briefe als Anhaltspunkt wegfallen, wird der Kreis der Verdächtigen allerdings um einiges größer.“

Alena sieht sie hoffnungsvoll an. „Meinen Sie, Sie finden den Mörder an Schwarz und können Kaspar entlasten?“ Pia zieht eine Grimasse. „Mir wäre es lieber, wenn Sie mich nicht auch noch unter Druck setzen. Oberdorf sitzt mir schon im Nacken. Er ist übrigens überglücklich, dass wir endlich einen Verdächtigen verhaftet haben. Wenn ich jetzt mit dem Vorschlag komme, dass das Motiv völlig anders gelagert ist, verderbe ich ihm ganz sicher seinen Tag.“ – „Immer noch besser, als den Falschen einzusperren,“ sagt Alena schnell. Pia steht auf. „Noch ist Kaspar nicht aus dem Schneider. Wenn ich Beweise finde, die gegen ihn sprechen, ist er dran.“

Auch Alena erhebt sich. „Was passiert jetzt?“ Pia senkt ihre Stimme, als ein Beamter an ihnen vorbeigeht. „Kaspars Wohnung wird nach Hinweisen durchsucht, z.B. nach der Tatwaffe, die bisher noch nicht aufgetaucht ist. Ein Trupp von der Spurensicherung hat bereits mit der Arbeit begonnen, Oberdorf wollte keine Zeit verlieren. Während dieser Zeit bleibt Kaspar in Untersuchungshaft.“ Sie macht ein verlegenes Gesicht. „Heute passiert nicht mehr viel. Die ersten Verhöre sind abgeschlossen und mein Assistent schreibt das Protokoll. Leider muss ich ja heute Abend auf das Essen in der Uni. Wenn ich nicht gehe, ist das ein Scheidungsgrund und ich bin sicher, dafür möchte Kaspar Wagenbach nicht auch noch verantwortlich sein.“

Dienstag, 27. März 2007

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89: warten

Die nächsten Stunden verschwimmen im Nebel. Alena sitzt in der Eingangshalle des Präsidiums und wartet. Sie nimmt nichts von dem wahr, was um sie herum geschieht, nicht den geschäftigen Beamten, der am Telefon hinter dem mit Panzerglas gesicherten Schalter sitzt, nicht den jungen Typen, der sich gegen die beiden Polizisten wehrt, die ihn durch die Halle zum Aufzug schleppen. Als wenn ich im Krankenhaus auf das Ende einer lebensgefährlichen Operation warte, fährt es durch ihren Kopf.

Kaspar wird von Pia verhört. Alena muss wissen, was dann mit ihm geschieht. Sie kann jetzt nicht nach hause gehen. Nervös spielt sie mit ihren Locken, dreht sie um die Finger und zerrt an den Strähnen, bis es weh tut. Muss Kaspar über Nacht hier bleiben? Wird er angeklagt? Vor Gericht gestellt? Ihr Mund ist trocken. In der Ecke des Raumes steht ein Wasserbehälter mit kleinen, kegelförmigen Pappbechern. Sie zwingt sich dazu, einen Becher mit Wasser zu holen und fährt zusammen, als die Luftblase mit einem lauten Glucksen nach oben steigt. Hastig trinkt sie das metallisch schmeckende Wasser und füllt den Becher erneut. Sie setzt sich zurück auf den gleichen Plastikstuhl.

Kaspar hat die Briefe geschrieben. Nur langsam begreift Alena. Kaspar hat die Drohbriefe an Schwarz geschickt. Der anfängliche Schock weicht Wut. Du Vollidiot, denkt sie, du verdammter Schwachkopf. So ein Irrsinn. Sie verspürt den Drang gegen irgend etwas zu treten, aber sie knüllt nur den leeren Pappkegel zusammen, quetscht ihn mit aller Kraft in der Hand, bis ihre Finger weh tun. Das bringt keine Abhilfe, die Wut hämmert weiter gegen ihre Rippen.

Warum hat sie nichts gemerkt? Warum hat er ihr nichts gesagt? Vielleicht hätte sie seine Beweggründe verstanden, wenn er sich die Mühe gemacht hätte, es ihr zu erklären. Aber hätte sie es verstanden? Hätte sie eine solche Aktion wirklich nachvollziehen können? Irgendwie bezweifelt Alena das. Es kommt ihr vollkommen irrational vor. Wie kommt Kaspar darauf, dass Schwarz nach Empfang der Briefe bereit gewesen wäre, doch mit ihm zu reden? Die Chancen wären minimal gewesen. Nein, das war nicht das einzige Motiv, denkt Alena plötzlich und ihre Wut ist wie weggeblasen. 70 Prozent war Rache. An dem Mann, von dem Kaspar überzeugt gewesen war, dass er Marianne Wagenbach so lange gejagt hatte, bis sie hinter einer unüberwindbaren Mauer Zuflucht suchen musste. Der Mann, der Kaspars Mutter endgültig aus seinem Leben entfernte. Er sollte genauso leiden, wie Kaspar gelitten hatte.

Gänsehaut kriecht über Alenas Rücken. Als Kaspar von Frau Dahlem erfahren hat, dass Schwarz seine Mutter nicht verfolgt, sondern ihr geholfen hatte, muss ihn das wie ein Schlag getroffen haben. Er hatte den Falschen gequält. Jetzt kämpft sich noch ein Gedanke unbarmherzig in den Vordergrund. Vielleicht würde Schwarz noch leben, wenn Kaspar die Briefe nicht geschrieben hätte. Die Drohbriefe waren Anlass für Schwarz gewesen, Nachforschungen aufzunehmen. Und im Zuge dieser Ermittlungen ist er erschossen worden. Er muss etwas oder jemanden aufgestört haben. Alena presst die Handballen gegen ihre Augen. Kaspar, verdammt.

Sie denkt nicht einen Moment daran, dass Kaspar selbst der Mörder sein könnte.

Montag, 26. März 2007

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88: die wahrheit?

Alena begreift nicht sofort, was Pia gesagt hat. Sie dreht sich so, dass sie sehen kann, was Pia Kaspar hinhält. Ein zerknittertes Blatt Papier, einige gedruckte Zeilen, oben im Kopf der RAF-Stern mit der Maschinenpistole. Automatisch greift sie danach um die Zeilen zu lesen, aber Pia zieht das Blatt schnell weg. „Sie sind nicht wirklich daran interessiert, dass Ihre Fingerabdrücke auf dem Brief sind, oder Alena?“ Alena öffnet den Mund, aber bringt keinen Laut zustande. Langsam wendet sie sich zu Kaspar. Still, ernst und fast gleichgültig sieht er erst auf den Brief und erwidert schließlich Alenas Blick. „Alles kommt irgendwann heraus, nicht wahr,“ sagt er. „Kaspar,“ flüstert Alena.

Er zuckt mit den Schultern. „Ich war in einer Sackgasse. Meine Nachforschungen kamen nicht voran. Die Leute, auf die es ankam, wollten nicht mit mir reden. Burg und Dahlem, Schwarz. Ich dachte, ich bringe ein bisschen Bewegung ins diese verfahrene Situation.“

„Du hast die Briefe an Schwarz geschrieben?“ Alenas Stimme ist heiser. Die nächste Frage will nicht heraus, bleibt ihr im Hals stecken, als ob mit dem Ungesagten auch die Tat ungetan bliebe. Pia dagegen hat kein Problem, die Initiative zu ergreifen. „Und um so richtig Schwung in die Sache zu bringen, haben Sie schließlich Schwarz erschossen.“

Alena hält den Atem an und würde sich am liebsten die Ohren zuhalten. Kaspars Gesicht wird rot. „Moment mal,“ protestiert er. „Davon war nie die Rede. Ich habe die Briefe geschrieben, das gebe ich zu. Aber ich habe niemanden ermordet.“

Einen Moment herrscht Stille. Dann zieht Pia langsam die Augenbrauen hoch. „Ach? Und wer hat den Mord dann begangen?“ Hektische Flecken erscheinen auf Kaspars Wangen. „Ich habe keine Ahnung. Aber das können Sie mir nicht anhängen. Warum hätte ich Schwarz töten sollen? Ich wollte Informationen von ihm, darum habe ich das alles doch gemacht. Ich wollte ihn mit der Vergangenheit konfrontieren, das Thema zurück in sein Bewusstsein holen, ihn aus der Reserve locken. Was hätte das alles für einen Sinn gehabt, wenn er tot ist? Tote reden nicht mehr.“ – „Vielleicht haben Sie ja alles von ihm erfahren und vielleicht hat Ihnen nicht gefallen, was er Ihnen erzählt hat. Über seine Beziehung zu Ihrer Mutter. Die Terroristin, die mit einem Bullen liiert war. Die ihre Kollegen verraten hat, um ihre Haut zu retten.“

Vehement schüttelt Kaspar den Kopf. „Ich bin ja gar nicht mehr dazu gekommen, mit ihm zu reden. Das mit ihm und meiner Mutter habe ich erst jetzt von Brigitte Dahlem gehört. Und wahrscheinlich stimmt es noch nicht mal. Sie wollte sie sicher nur durch den Dreck ziehen.“ Pias Gesicht bleibt unbewegt. „Es gibt Indizien dafür, die ein Verhältnis zwischen den beiden sehr wahrscheinlich machen. Brigitte Dahlem hat die Wahrheit gesagt.“ Verwirrt sieht Kaspar sie an. „Was für Indizien?“ Pia fängt an zu lächeln. Es ist kein freundliches Lächeln. „Wenn Sie kooperieren, erzähle ich es Ihnen vielleicht.“

Alena spürt plötzlich, wie ihr schwindelig wird. Und übel. „Ich muss hier raus,“ stammelt sie. „Ich muss an die frische Luft.“ Pia wirft ihr einen besorgten Blick zu. „Wir sollten jetzt alle gehen,“ sagt sie dann. Zu Kaspar gewandt: „Sie kommen mit ins Präsidium. Sie sind vorläufig festgenommen.“

Samstag, 24. März 2007

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87: der Fund

Alena wendet sich langsam wieder zurück und versucht den Raum mit Pias Augen zu sehen. Sie war oft mit Kaspar hier, hat die Fahndungsplakate an der Decke betrachtet und die Schriftstücke, die dicht gedrängt an den Wänden hängen. Sie in den Bücher geblättert, die in die Regale an den Wänden gestopft sind, und die vielen in Klarsichthüllen verwahrten Originaldokumente durchgesehen.

Alena versucht sich zu erinnern, welchen Eindruck sie hatte, als Kaspar ihr zum ersten Mal die Tür zu seinem Arbeitszimmer geöffnet hatte. Verwirrung? Irritation? Ablehnung? Nein, eher Faszination. Die Faszination die sie immer ergreift, wenn sie Einblick in die Gedankenwelt von Besessenen erhält. Wenn sie für einen kurzen Moment spüren kann wie es ist, wenn man sich etwas völlig hingibt, wenn man sich selbst für etwas aufgibt.

In diesen Zusammenhang hat sie Kaspar gestellt, und damit in eine Reihe von Erfahrungen, die sie immer wieder gesucht hat. Er war keine Ausnahmeerscheinung aus ihrer Perspektive. Aus der Perspektive Pias allerdings ist er ein Freak.

„Dass er Spezialist für die Geschichte der RAF ist, macht ihn noch nicht zu einem Irren,“ sagt Alena vorsichtig. Pia schüttelt nur den Kopf und murmelt: „Alena, Kind.“ Sie betritt den Raum so vorsichtig als ob sie befürchtet, dass Kaspars Wahnsinn sie infizieren könnte. „Das hier zeigt mir, dass sein Kopf genauso mit den ganzen kranken Ideen der RAF vollgestopft ist wie dieser Raum. Da ist kein Platz mehr für Normalität. Ich für meinen Teil finde diesen Anblick ziemlich besorgniserregend.“ Sie geht langsam zum Schreibtisch und schiebt mit der Spitze des Zeigefingers ein Blatt beiseite. Wieder schüttelt sie mit dem Kopf. Ihr Blick haftet auf dem Bildschirm und Alena kann förmlich sehen, wie der Wunsch, den PC anzuschalten, in Pia kämpft. Dann seufzt sie und nimmt die Hand zurück.

Die Luft im Raum ist stickig. Alena betrachtet sehnsüchtig das Fenster, aber wagt nicht, es zu öffnen. Gleichzeitig hört sie mit einem Ohr in Richtung Tür aus Sorge, dass Kaspar zurückkommen und sie hier mit Pia finden würde. Eine Katastrophe. Kaspar würde sie hassen und sie könnte das sogar nachvollziehen.

Die nächsten Minuten geht Pia die Wände entlang, an denen Kopien, Fotos und Schriftstücke mit Heftzwecken befestigt sind, und betrachtet einzelne Stücke mit einer Konzentration, die Alena an einen Besuch im Museum erinnert. Auf eines der Dokumente zeigt sie mit dem Finger. „Das ist ein Foto von Robert Koch. Woher hat Wagenbach das?“ Alena zuckt mit den Schultern. „Fragen Sie mich nicht. Kaspar kennt ein paar Leute. Journalisten, Historiker. Vielleicht hat einer von denen es ihm gegeben. Oder er hat es von der Familie von Robert Koch.“ Pia sieht sie zweifelnd an. „Ist er zu den Angehörigen der Terroristen gegangen?“ – „Er hat versucht, Kontakte zu den Angehörigen zu knüpfen, wenn welche existierten. Meist hat es aber nicht geklappt. Den Angehörigen war es lieber, nicht mit der RAF konfrontiert zu werden, in welcher Form auch immer. Ich glaube nicht, dass er unter ihnen jemanden gefunden hat, der sein Interesse an der RAF teilte.“ Noch einmal schüttelt Pia den Kopf. „Und Sie sind sicher, dass er nicht versuchte, unter den Angehörigen Gleichgesinnte zu finden, die mit ihm die nächste Big Raushole planen?“ Alena verzieht das Gesicht. „Ganz sicher.“

Schließlich zuckt Pia mit den Schultern. „Gut, zumindest wissen wir, dass er nicht tot in der Wanne liegt oder am Fensterkreuz hängt. Mehr können wir momentan nicht tun.“ Alena weiß, dass der letzte Satz sich nicht auf Kaspars Wohlbefinden bezieht. Gerade als sie das Arbeitszimmer verlassen wollen, bleibt Pia noch einmal stehen und dreht sich um. Sie geht zurück zum Schreibtisch und kniet sich hin. In einer Ecke unter dem Tisch steht der Abfalleimer, der so aussieht, als ob er schon sehr lange nicht mehr geleert wurde. Als Pia den Korb zu sich heranzieht, fällt zusammengeknülltes Papier fällt heraus und gesellt sich zu dem weiteren Müll, der bereits auf dem Boden liegt. Bevor Alena protestieren kann, glättet Pia einige der Papierknäuel und sieht sie durch. Alena wird nervös. „Pia, Kaspar kann jeden Moment zurückkommen. Sie dürfen das nicht. Er könnte Sie wegen Hausfriedensbruch anzeigen.“ Ohne aufzusehen nickt Pia. „Stimmt, das könnte er. Wird er aber nicht.“ Sie legt den Papierkorb auf die Seite und greift auf seinen Boden, um an den älteren Müll zu kommen. Entsetzt beobachtet Alena, wie der Boden um Pia herum mit Altpapier bedeckt ist. „Pia, um Himmels willen. Wir müssen den ganzen Dreck wegmachen und sofort verschwinden. Bitte.“ – „Gleich,“ murmelt Pia durch ihre Zähne. Sie zieht Papier auseinander, wirft einen Blick darauf und wirft es wieder zur Seite.

Dann hört Alena das Geräusch. Ein Schlüssel, der sich im Schloss dreht. Ihr Herz setzt aus. Sie stürzt sich auf Pia und packt sie an den Schultern. „Kaspar kommt,“ flüstert sie ihr ins Ohr. Pia fährt hoch und stößt beinahe gegen Alena, die hinter ihr kniet. „Scheiße,“ murmelt sie. In rasender Geschwindigkeit stopfen die beiden Frauen die Papiere zurück in den Abfalleimer, während in Alena Panik hochsteigt und ihre Gedanken lähmt. Vor ihren Augen flimmert es und sie hört Kaspar eher als sie ihn sieht. Sie springt hoch und dreht sich zu Tür. In diesem Moment hört sie Pias scharfen Atem hinter sich. Dann ihre Stimme, triumphierend. „Verdammt, ich wusste es.“ Kaspar steht in der Tür und sieht Alena unbewegt an. Sein Blick schwenkt keinen Moment zu Pia, die jetzt hinter Alena steht und etwas in der ausgestreckten Hand hält. „Guten Tag, Herr Wagenbach. Gut, dass Sie kommen. Ich frage mich gerade, wie einer der Drohbriefe an Otto Schwarz in Ihren Papierkorb gelangt sein könnte. Die wahrscheinlichste Antwort darauf ist jedoch, dass Sie der Verfasser der Briefe sind.“

Mittwoch, 21. März 2007

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86: Kaspars Zuhause

Es beginnt zu regnen, als sie die zweispurige Straße in die Vorstadt fahren. Alena betrachtet die Hochhäuser, die aus ihrem Blickwinkel nach hinten weggleiten, hin und wieder taucht ein Supermarkt auf oder kleine Läden mit dubiosem Angebot. Jugendliche mit gefälschten Sportklamotten lungern unter dem Vordach eines Discounters herum und eine Frau mit zwei kleinen Kindern schleppt vollgepackte Einkaufstüten und bewegt wütend ihren Mund. Kaspar wohnt in einer trostlosen Gegend von Altenburg.

Hat sie wirklich nie daran gedacht, dass er Selbstmord begehen könnte? Sie schüttelt unwillkürlich ihren Kopf. Nein, das hat sie nicht. Ihre Sorge galt vor allem der weiteren Entwicklung seiner Überzeugungen. Sie hatte Angst, dass er verbittert werden könnte. Dass sich sein Denken im Extremen verwickeln könnte. Dass er vom Hass überschwemmt wird. Darum wollte sie mit ihm reden. Aber Selbstmord? Ist sie nur zu wenig emphatisch, um sich das vorstellen zu können, wie Pia jetzt sagen würde? Alena widersteht der Versuchung ihren Kopf zu ihr zu drehen. Und vielleicht wäre gerade das ein Thema gewesen, bei dem sie die richtigen Intuitionen gehabt hätte.

Pia weiß genau wo Kaspar wohnt und Alena wundert sich nicht darüber. Vor dem fünfstöckigen verwohnten Bau stehen die Wagen dicht geparkt und Pia flucht, als sie keine Lücke findet. „Steigen Sie schon mal aus und klingeln Sie. Wenn er da ist, reden Sie mit ihm. Wenn es länger dauert, rufen Sie mich auf dem Handy an, dann fahre ich schon mal. Wenn er die Tür nicht öffnet, kommen Sie wieder heraus, ich warte vor dem Haus auf Sie.“ Alena nickt, eingeschüchtert von den präzisen Anweisungen. „Was haben Sie vor, wenn Kaspar nicht öffnet? Vielleicht ist er ja einfach nicht da.“ Mit unbewegtem Gesicht antwortet Pia: „Dann sehen wir weiter.“

Das dritte Mal drückt Alena eine halbe Minute auf den gelben Knopf, bevor sie schließlich aufgibt. Sie tritt einen Schritt zurück und legt den Kopf in den Nacken. Im dritten Stock ist Kaspars Fenster, leicht zu erkennen an den fehlenden Gardinen. Regentropfen fallen in ihr Gesicht. Sie sieht nichts außer den grauen Wolken, die sich in dem Glas spiegeln. „Kein Erfolg?“ Alena zuckt zusammen. Pia ist neben sie getreten. „Scheint nicht da zu sein,“ meint Alena tastend. Pia starrt auf die Haustür, als könne sie sie mit ihrem Blick öffnen. Dann begutachtet sie die Klingelschilder und drückt auf einen Knopf weiter oben. Fast sofort kündigt ein Knacken an, dass die Haustür offen ist. Schnell stößt Pia sie auf und zieht Alena in den düsteren Hausflur. Der helle Bodenbelag aus Kunststoff ist schmutzig, Werbung liegt zerknittert in einer Ecke. „In welchem Stockwerk wohnt Wagenbach?“ Pias ordentliche Kleidung sticht wohltuend gegen den verwahrlosten Flur ab. „Im Dritten,“ antwortet Alena kurz und beginnt, die Treppe hochzusteigen. Als sie vor Kaspars Haustür stehen, ertönt von oben ein Husten und dann ein gequengeltes: „Wer ist denn da?“ – „Schlüssel vergessen,“ ruft Pia fröhlich zurück. Von oben hört man ein unverständliches Gebrummel, dann wird eine Tür zugeschlagen. Pia klingelt noch einmal ausdauernd. Unter der Klingel ist mit Tesafilm ein schmutziger Zettel geklebt, auf dem „Wagenbach“ steht, ein Computerausdruck. In Pias Gegenwart fällt Alena auf, wie schäbig das Haus ist, in dem Kaspar wohnt. Kein Geräusch hinter dem mittelbraunen Holzfurnier. Jetzt klopft Pia. Wieder tut sich nichts. Als die Haustür unten aufgeht, treten beide einen Schritt zurück. Schwere Schritte im Flur, ein Aluminium-Briefkasten klappert. Eine männliche Stimme flucht, und Alena schüttelt den Kopf. Das ist nicht Kaspar. Schwere Schritte hallen auf der Treppe, ein Schlüssel wird im Schloss gedreht und eine Tür fällt zu. Als Alena wieder zu Pia sieht, hat diese eine schmale Ledermappe in der Hand, aus der sie ein Instrument holt, das Alena vage an Zahnarzt erinnert. Dann wird ihr bewusst, was Pia vorhat.

„Das können Sie nicht machen, das ist Hausfriedensbruch. Sie haben doch keinen Durchsuchungsbefehl,“ wispert sie eindringlich. Pia zieht eine genervte Grimasse. „Und wenn er da drinnen verblutet? Hier handelt es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um Gefahr im Verzug. Bei großzügiger Auslegung.“ Sie hält ihren Kopf schief, als erwarte sie eine Antwort von Alena, aber tatsächlich ist sie nicht an Feedback interessiert. Alena seufzt, als Pia sich vor das Türschloss kniet und konzentriert den Lockpicker in die Öffnung schiebt. In weniger als einer Minute ist die Tür offen. „Sehen Sie , wir haben nichts kaputt gemacht. Ist immer noch freundlicher, als die Tür einzutreten. Und ich könnte mir meine Schuhe ruinieren.“ Pia tritt ein und macht eine einladende Bewegung mit der Hand. „Oder wollen Sie draußen stehen bleiben?“

Die Tür fällt hinter ihr zu und Alena bleibt in dem kleinen Wohnungsflur stehen. Sie war noch nie allein in Kaspars Wohnung und das Gefühl, ein Eindringling zu sein, erstickt sie fast. Pia beginnt in die einzelnen Räume zu sehen. „Herr Wagenbach?“ Ihre Stimme ist ein Fremdkörper in diesen Räumen. Alena beobachtet, wie Pia in Kaspars Wohnzimmer verschwindet, dann hört sie Pia laut aufatmen. „Verdammt.“

Alenas Herz hört auf zu schlagen. Nein. Sie zwingt sich, Luft zu holen, und läuft ins Wohnzimmer.

Pia steht an der Tür zu Kaspars Arbeitszimmer und murmelt: „Scheiße.“ Alena stößt sie beiseite um in den Raum zu sehen. Dann atmet sie erleichtert auf. Der Raum ist leer. Sie dreht sich verwirrt zu Pia um. „Was um Himmels Willen ist los? Sie haben mir einen riesen Schrecken eingejagt.“ Pia sieht sie verständnislos an und zeigt mit der Hand in das Zimmer. „Das ist doch echt krank. Der Typ ist ein Psychopath.“

Dienstag, 20. März 2007

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85: Themenwechsel

Während Pia das Kleid bezahlt, wartet Alena vor dem Laden und beobachtet die Leute, die in der Passage an ihr vorbeilaufen. Es ist jetzt früher Nachmittag und der Anteil an Schülern wird höher. Alena überlegt, ob sie überhaupt schon einmal in dem Einkaufszentrum war und kann sich nicht erinnern. „Was haben Sie vorhin gesagt, ich brauche einen Schal, den ich um die Schultern legen kann? Gute Idee. Den finden wir jetzt auch noch.“ Pia hat sichtlich gute Laune. „Ich glaube, Christopher wird das Kleid gefallen.“ – „Ihr Mann? Er ist Professor für Philosophie an der Uni, oder habe ich das falsch in Erinnerung?“ Pia nickt. „Momentan wäre mir lieber, er wäre Professor für BWL, dann könnte er sich vielleicht noch an einen Studenten erinnern, der Koch ähnlich sah.“ Alena fühlt ihren Blick von der Seite. „Sie waren nie verheiratet.“ Das ist weniger eine Frage als eine Feststellung. „Um Himmels Willen,“ rutscht es Alena heraus. Sofort schwächt sie ab: „Es hat sich einfach nicht ergeben.“ Trotzdem befürchtet sie, dass Pia nun beginnt, ihre Thesen zu spinnen. Aber Pias Gedanken sind schon wieder bei Koch.

„Ob Koch geheiratet hat? Ob er Kinder hat? Ein ruhiger, vertrauenserweckender Familienvater geworden ist?“ Wieder ein Blick auf Alena, diesmal bohrend. „Hat sich die Dahlem jemals über Koch geäußert?“ Alena betrachtet die Spitzen ihrer schwarzen Schuhe. „Sie hat angedeutet, dass er vor allem für Geld und Kontakte gesorgt hat. Sein Vater war ein Frankfurter Banker. Und als Marianne Wagenbach in den Osten geflohen ist, hat Koch sich an sie rangehängt.“ – „Schwarz hat diese Flucht organisiert.“ Pia denkt nach. „Er hat die Wagenbach und Koch eingeschleust. Er hat Koch also kennen gelernt.“ Alena zuckt mit den Schultern. „Ist das wichtig? Schwarz kannte doch bestimmt alle von der Truppe. Nicht persönlich vielleicht, aber von Fotos und den Berichten Mariannes.“

Pias Stimme wird leiser. „Wie hat Kaspar Wagenbach darauf reagiert, dass seine Mutter ein Spitzel war?“ Alena sieht den bleichen Kaspar vor sich, die dunklen Augen, die nervös verkrampften Hände. Nachdem sie Brigitte Dahlem verlassen hatten, fuhr Kaspar Alena nach hause, und es war als ob sie ein Stück von der toten Stille der Wohnung mit sich genommen hatten. Ein paar Mal versuchte Alena ein Gespräch zu beginnen, aber die einsilbigen Antworten Kaspars erstickten die Kommunikation im Keim. Ihre Einladung mit in ihre Wohnung zu kommen, lehnte er mit einem müden Kopfschütteln ab. „Soll ich noch mit zu dir kommen,“ fragte Alena. Als er sie mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, verteidigte sie sich: „Ich würde dich jetzt ungern allein lassen. Vielleicht ist es besser, wenn Du jetzt mit jemandem redest.“ – „Red keinen Unsinn,“ erwiderte er kühl. „Und ich ziehe es vor, jetzt mit niemandem reden zu müssen. Ich muss nachdenken, und das kann ich am besten allein.“ Die Wagentür wurde von innen zugezogen und Kaspar fuhr davon. Alena fühlte sich entlassen. Und sie fragte sich plötzlich, ob sie Kaspar jemals wieder sehen würde. Ein Gedanke, der sie seltsam traurig machte.

Sie konzentriert sich wieder auf die Gegenwart. „Er war etwas geschockt. Und ich mache mir irgendwie Sorgen. Gestern wollte er nicht mehr mit mir reden und heute morgen ist er nicht ans Telefon gegangen.“ Ein Ausdruck erscheint in Pias Gesicht, den Alena nicht deuten kann. „Vermutlich ist er arbeiten,“ setzt Alena hinzu. Pia runzelt die Stirn. „Halten Sie ihn für suizidgefährdet?“ Alena sieht sie zweifelnd an. „Eigentlich nicht, aber ich kann Ihnen nicht genau sagen, warum nicht. Kaspar ist eher der Typ, der für ein paar Tage verschwindet und alles ausbrütet.“ – „Warum machen Sie sich dann Sorgen?“ Pia bohrt weiter und in Alena wächst die Unsicherheit. „Weil das eine ziemlich einschneidende Neuigkeit war. Er muss sein ganzes Leben neu interpretieren.“ Die beiden Frauen bleiben stehen. „Vielleicht sollten wir später nach einem Schal suchen. Ich fahre Sie jetzt zu seiner Wohnung und Sie gucken nach, ob alles in Ordnung ist.“

Sonntag, 18. März 2007

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84: shopping

Alena hört ein Rascheln hinter dem Vorhang und vermutet, dass Pia jetzt das Kleid überstreift. „Über die RAF? Und, haben Sie Klarheit erlangt?“ – „Vielleicht,“ murmelt Alena. Pias Stimme klingt dumpf durch den Stoff. „Und was ist mit Kaspar Wagenbach? Ist Ihnen in dieser Hinsicht auch etwas klar geworden?“ – „Wie meinen Sie das,“ fragt Alena und spürt, wie ihr Gesicht warm wird. Pias verstrubbelter blonder Haarschopf taucht zwischen den Vorhängen auf. „Ich habe ehrlich gesagt nie begriffen, was Sie eigentlich für eine Beziehung haben. Geht mich auch gar nichts an, aber neugierig bin ich schon. Waren Sie immer nur Freunde?“ Alena starrt einen Moment in ein für Pia ungewohnt freundliches Gesicht. Dann antwortet sie vorsichtig: „Wir hatten nie eine sexuelle Beziehung, wenn Sie das meinen, aber ob wir Freunde waren oder sind, kann ich Ihnen auch nicht sagen.“ Pia zieht die Augenbrauen hoch und verschwindet wieder hinter dem Vorhang. „Er ist ziemlich schräg. Nicht unbedingt der Typ, mit dem ich meine Freizeit verbringen möchte. Aber Sie setzen da wahrscheinlich andere Kriterien an.“

Pia kommt aus der Kabine, stellt sich vor Alena und stemmt demonstrativ die Hände auf ihre Hüften. Das schwarze Etuikleid ist kniekurz und passt wie angegossen. Alena nimmt überrascht wahr, wie anders Pia in dem Kleid aussieht. Sie denkt plötzlich daran, dass Pias gesamte Bekleidung gewöhnlich bis ins Detail geplant ist. Die strenge Eleganz und die hellen Farben, die Alena an ihr kennt, betonen das Analytische und Zielbewusste an Pia, ein enger Bleistiftrock wird bewusst zur Manipulation eingesetzt und gut geschnittene Hosen mit tailliertem Blazer dienen als Uniform, die die Bedeutung zur Geltung bringt, die Pia so selbstverständlich für sich beansprucht.

Jetzt steht eine zierliche Pia vor ihr, fast mädchenhaft mit den kurzen blonden Haaren und seltsam verletzlich. Alena beginnt zu lächeln. „Steht Ihnen gut,“ sagt sie. Pia betrachtet sie nachdenklich und dreht sich dann zu dem Spiegel um, der neben den Umkleiden hängt. „In der Tat,“ murmelt sie. Ihre Augen werden schmal als sie an ihren Haaren zupft um den fragilen Effekt noch zu verstärken. „Vielleicht ist das genau das Kleid, das ich für dieses verdammte Abendessen brauche. Glauben Sie, dass dieses Kleid hilfreich dabei ist, ein paar brauchbare Informationen aus den hoch spezialisierten und völlig weltfremden Kollegen meines Mannes herauszuholen?“

Alena seufzt. „Ich dachte, Sie wollten einfach hübsch aussehen. Und was für Informationen erwarten Sie von einem Universitätsabendessen? Glauben Sie, man hilft Ihnen dort den Fall zu lösen?“ Pia wendet ihren Kopf und grinst Alena an. Ihre blauen Augen funkeln. „Vielleicht,“ sagt sie geheimnisvoll. Dann wird sie ernst. „Es ist ziemlich unwahrscheinlich, aber eine winzige Spur führt auch zur Universität. Koch könnte mal dort studiert haben. Und er könnte sich auch noch in Altenburg aufhalten. Es ist alles sehr vage, aber wenn ich schon dazu gezwungen bin, an dieser todlangweiligen Veranstaltung teilzunehmen, kann ich auch das Beste daraus machen.“

Mittwoch, 14. März 2007

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83: mal was anderes

Alena steht um punkt 11 Uhr vor dem Einkaufszentrum und sieht Pia atemlos um die Ecke biegen. „Haben Sie gewartet? Tut mir leid, ich musste Riesel noch ein paar Instruktionen geben. Der Laden muss ja laufen.“ Sie bleibt stehen und sieht Alena stirnrunzelnd an. „Haben Sie eine Ahnung, wie viele Ohren ich gestern Abend abquatschen musste, bis man mir endlich einen von diesen unfähigen Streifenpolizisten für die Observation abgestellt hat? Das hat verdammt noch mal Nerven gekostet und war natürlich völlig ergebnislos. Kein auffälliger Wagen vor Biggis Tür. Der einzige, der das Haus beobachtet hat, war unserer Mannes. Womit wir wahrscheinlich sehr effektiv zur Psychose der Dahlem beigetragen haben. Aber gut, ich hoffe zumindest Sie konnten ruhig schlafen.“ Alena zieht eine Grimasse. „Ich kaufe Ihnen einen Kaffee,“ sagt sie, dreht sich schnell um und schlüpft durch die automatischen Glastüren.

Sie setzen sich in die Filiale einer Kaffeekette und trinken Milchkaffee aus Glastassen. Langsam füllt sich das Einkaufszentrum mit Schülern, die einzelne Stunden blau machen, und älteren Ehepaaren. Das Einkaufszentrum ist neu und gegen den Widerstand der ansässigen Ladeninhaber entstanden. Für das kleine und traditionsbewusste Altenburg ein ehrgeiziges und fast anachronistisches Projekt, für Pia eine bequeme Möglichkeit, auf die Schnelle ein Kleid für den Abend zu kaufen, ohne durch die Fußgängerzone laufen zu müssen. Alena reagiert sichtlich erleichtert, als Pia ihr erklärt, wofür sie genau ihre Hilfe benötigt. „Ein Kleid für ein Abendessen in der Universität? Kein Problem.“ Sie grinst, aber nur kurz. „Wie schwierig sind Sie beim Klamottenkaufen?“ Pia zuckt mit den Schultern. „Ich sehe was und wenn es mir gefällt, dann kaufe ich es.“ Unsicher sieht Alena sie an. „Und wofür brauchen Sie mich?“ Pia sieht sie an. „Haben Sie keine Zeit? Müssen Sie weg? Was Wichtiges zu erledigen?“ Alena beeilt sich, den Kopf zu schütteln. „Dann ist es doch kein Problem, oder? Sie können mich in meiner Kleiderwahl bestätigen. Es ist gut, eine zweite Meinung zu hören. Und außerdem können Sie mir zur Aufheiterung noch mal ein etwas detaillierteres Resümee dieses seltsamen Gesprächs von gestern liefern.“

Eine Stunde später stehen sie im dritten Laden und begutachten ein schwarzes kurzes Kleid. „Ich finde es gut,“ sagt Alena vorsichtig. Ihr anfänglicher Enthusiasmus ist nach Pias sehr direkten Reaktionen auf ihre Vorschläge sichtlich gedämpft. Pia betrachtet den matt glänzenden Seidenstoff. „Ziemlich kurz,“ sagt sie stirnrunzelnd. „Und schwarz.“ – „Schwarz steht Ihnen bestimmt,“ sagt Alena aufmunternd. Pia lässt ihren Blick von oben nach unten über die mit einem schwarzen Cordblazer über einem schwarzen Jeansrock bekleideten Alena gleiten. „Vielleicht ist es Ihnen noch nicht aufgefallen, aber es existieren noch andere Farben als Schwarz,“ bemerkt sie zweifelnd. Alena sieht an sich herunter. „Ich mag es eben,“ sagt sie trotzig. „Ich finde, in Schwarz sehe ich alt aus,“ erklärt Pia. „Haben Sie es schon einmal versucht? Da vorne wird gerade eine Umkleidekabine frei.“ Alena sucht die passende Größe heraus und drückt Pia das Kleid in die Hand. Pia sieht nicht überzeugt aus, setzt sich aber gehorsam in Bewegung.

Neben der Umkleidekabine steht ein mit rotem Samt gepolsterter Stuhl, auf den Alena sich stöhnend fallen lässt. „Sie wollen doch nicht etwa schon aufgeben,“ tönt es hinter dem Vorhang hervor. „Sagten Sie nicht, Sie sehen etwas und kaufen es, wenn es Ihnen gefällt,“ fragt Alena und lehnt ihren Kopf erschöpft an die Wand. „Manchmal dauert es eben etwas länger, bis mir ein Stück gefällt,“ erklärt Pia. „Ich weiß gar nicht, was ich dazu anziehen soll. Ich habe keinen schwarzen Blazer.“ – „Ein großes Tuch, das Sie um die Schultern legen können,“ schlägt Alena vor und betet, dass Pia das Kleid mag. „Warum haben Sie eigentlich diese Grundsatzdiskussion mit der Dahlem geführt? Haben Sie geglaubt, Sie können sie auf den rechten Weg zurück führen?“ Alena beobachtet eine Frau, die unschlüssig vor dem Spiegel steht und einen unvorteilhaften roten Pullover vor ihren Oberkörper hält. „Nein, eigentlich habe ich das nicht geglaubt. Vielleicht ging es eher darum, dass ich mir über ein paar Sachen klar werde.“

Dienstag, 13. März 2007

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82: ein Telefonat

Gerade als Pia aus dem Büro gehen will, klingelt das Telefon. Sie wartet einen Moment mit gerunzelter Stirn um herauszufinden, wie wichtig es dem Anrufer ist sie zu erreichen; als das Klingeln nicht abbricht, seufzt sie und nimmt den Hörer ab. „Gut, dass Sie noch da sind,“ tönt Alenas Stimme aus dem Hörer. „Das hängt ganz davon ab, was Sie mir erzählen möchten. Ich wollte gerade Feierabend machen.“ Alena nimmt keine Notiz von Pias Genörgel. „Sie sollten vielleicht einen Beamten abstellen, der die Straße bewacht, auf der Frau Dahlem wohnt.“

Sie gibt Pia eine Kurzfassung des Treffens mit Brigitte Dahlem und Kaspar, und Pia setzt sich wieder hin. „Ein Wagen vor dem Haus der Dahlem? Automarke, Farbe, Kennzeichen,“ verlangt sie und erntet ratloses Schweigen. „Alena, wie um Himmels Willen soll ich den Beamten instruieren? Da stehen abends eine Menge PKW. Wie kommt die Dahlem überhaupt darauf, dass dieses spezielle Auto nur wegen ihr da parkt? Vielleicht handelt es sich um einen eifersüchtigen Ehemann, der seine Frau observiert.“ Alena lässt nicht locker. „Sie weiß es eben und ich glaube ihr. Es geht mir auch weniger darum, sie vor irgendwem zu schützen. Wie Sie schon sagten, kann sich Frau Dahlem vermutlich ganz gut selbst schützen. Und wenn Sie die Konsequenzen daraus in Kauf nehmen möchten, bitte. Aber wenn Sie den Täter fassen wollen, dann ist das doch die beste Gelegenheit. Sie brauchen nur jemanden abzustellen, der das Haus beobachtet und wenn er dem betreffenden Wagen folgt, dann haben Sie den Mörder. Und vermutlich erkennt Ihr Beamter den Wagen genauso schnell wie Frau Dahlem.“ – „Mein Beamter ist kein Psycho-Terrorist, der an Paranoia leidet. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass er die gleiche Wahrnehmung hat wie Frau Dahlem,“ erwidert Pia trocken. Sie seufzt. „Halten Sie mal kurz die Klappe, ich muss nachdenken.“

Pia legt den Hörer auf den Tisch und versucht sich zu konzentrieren. Brigitte Dahlem fühlt sich beobachtet. Möglichkeit A ist Verfolgungswahn und hat eine Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent. Möglichkeit B ist ein Beobachter mit 30% Wahrscheinlichkeit. Möglichkeit B beinhaltet Alternative A, den Mörder, mit 40%iger Wahrscheinlichkeit, und Alternative B, Verfassungsschutz, Kripo oder Journalisten, mit 60%iger Wahrscheinlichkeit. Es sieht stochastisch nicht gut aus für die Aussage der Dahlem. Dann die Behauptung, dass Kennzeichen nicht sehen und die Wagenfarbe nicht eindeutig identifizieren zu können. Das schreit zum Himmel. Pia schüttelt den Kopf. Trotzdem. Sie starrt noch einen Moment nachdenklich auf die geordneten Mappen auf ihrem Schreibtisch und hebt dann den Hörer wieder auf. „Ich sehe, was ich tun kann.“ Sie spürt Alenas Erleichterung durch den Hörer und wundert sich ein wenig. Macht sie sich wirklich Sorgen um diese Frau, oder geht es ihr ums Prinzip? Pia fällt noch etwas ein. „Können Sie mich morgen um 11 Uhr am Eingang des Einkaufszentrums treffen? Ich möchte die Einzelheiten von dem Gespräch hören und außerdem können Sie mir helfen.“ Nach einer Schrecksekunde sagt Alena zu, fragt aber nicht nach. Pia legt auf und wählt die Nummer der Einsatzleitung.

Montag, 12. März 2007

sternkleinsternkleinsternklein

81: Puzzle

Pia sitzt im Büro und starrt auf eine Auswahl der Briefe, die sie in dem Schließfach gefunden haben. Sie hatte Riesel den undankbaren Auftrag gegeben, alle Exemplare durchzusehen um nach Spuren zu suchen. Nach zwei Tagen hatte er ihr die Briefe mit einem verlegenen Gesichtsausdruck zurück gegeben. „Nichts gefunden,“ war die einzige Erläuterung, begleitet von der sicheren Erwartung, das Papier um die Ohren gehauen zu bekommen. Aber Pia hatte genau das vermutet, sonst hätte sie die Briefe selbst gelesen.

Keine Spuren. Keine Fingerabdrücke. Der Text eine Ansammlung von Stereotypen, Schlagworten, Schimpfwörtern. Manchmal nur ein Satz, manchmal mehr, aber nie mehr als drei Sätze. Ausgedruckt auf billigem Drucker-Papier. Mit handelsüblicher Druckertinte. Auf einem Drucker einer weitverbreiteten Marke.

Unzufrieden nimmt sie einen der Briefe hoch und liest zum wiederholten Mal den Text. „wir kriegen dich du dummes pig.“ Wir. Der RAF-Plural oder tatsächlich zwei Personen? Sie lässt das Blatt wieder fallen und fragt sich, was diese Briefe für einen Sinn gehabt haben. Sollten sie lediglich den wohlverdienten Ruhestand von Schwarz in die Vorhölle verwandeln? Oder wurde eine bestimmte Reaktion von dem Polizisten erwartet, sollte er zu einer Handlung provoziert werden? Nachdenklich lehnt Pia sich in ihrem Schreibtischsessel zurück. Sollte er genau das tun, was er getan hatte? Sollte er beginnen, jemanden zu suchen? Pia denkt an Robert Koch. Er ist das einzige Mitglied des Kommandos, das verschwunden ist. Aber warum war jemand hinter Koch her? Irgendetwas fehlt ihr, ein kleines Stückchen vom Puzzle.

„Meine Mutter ist also mit Hilfe von Schwarz in die DDR geflüchtet,“ unterbricht Kaspar die Diskussion. „Warum hätte Schwarz ihr helfen sollen? Er hätte sie als Spitzel benutzen und dann trotzdem hoch nehmen können. Und als Ihr geflohen seid, musste er doch glauben, dass Marianne den Plan hat platzen lassen und Euch gewarnt hat. Wenn sie sich danach tatsächlich noch an ihn gewandt hat, dann hätte er sie verhaften können, um wenigstens einen kleinen Erfolg vorzuweisen. Selbst wenn er die Aktion ohne Wissen seiner Vorgesetzten durchgezogen hatte, hätte er doch garantiert keine Probleme bekommen, wenn er den Kontakt nachträglich gebeichtet hätte.“

Er sucht nach Fluchtwegen, denkt Alena. Irgendeinen Riss in der Geschichte, mit dem er alles umdrehen kann. Mürrisch zuckt Brigitte Dahlem mit den Achseln. „Was weiß ich. Vielleicht war es ihm peinlich, übers Ohr gehauen worden zu sein. Oder als Versager dazustehen. Tatsache ist, dass Marianne, nachdem wir untergetaucht sind, zu ihm gegangen ist.“ Alena beobachtet sie genau. Weiß sie wirklich nichts von dieser seltsamen Beziehung zwischen Marianne Wagenbach und Otto Schwarz, die das Foto so nahe legt? Warum sollte sie es verheimlichen?

Sie entschließt sich zum Angriff: „Haben Sie die Briefe geschrieben, um sich an Schwarz zu rächen?“ Der Tonfall soll Gleichgültigkeit suggerieren, wie eine Routinefrage klingen, angesichts der unbezweifelbaren Wahrheit, dass nur die Ex-Terroristin die Verfasserin der Briefe sein kann. Brigitte Dahlem runzelt die Stirn. „Warum sollte ich mich an dem Bullen rächen? Der hat nur seine Arbeit getan.“ Alena zieht die Augenbrauen hoch. „Er war der einzige, der noch übrig war. Für Rache an Marianne Wagenbach war es ja wohl zu spät.“

Kaspar ist aufgestanden und kommt auf die beiden zu. „Warum ist dieser Robert Koch mit ihr in die DDR gegangen?“ In Brigitte Dahlems Gesicht spiegelt sich Unbehagen, das Alena der bedrückenden Erinnerung an das Auseinanderbrechen des Kommandos zuschreibt. „Der Platz war für Hoffmann reserviert, aber als der abgesprungen ist, hat Koch die Gelegenheit ergriffen. Er hat sich einfach an Marianne dran gehängt. Vielleicht hat er Schwarz damit gedroht, alles ans Licht zu bringen, wenn er geschnappt wird, und wie´s aussieht wollte Schwarz das nicht. Also musste er in den sauren Apfel beißen.“ Kaspar fährt mit einer Hand durch die blonden Strähnen, die danach nach allen Seiten abstehen. „Das ergibt keinen Sinn, oder? Irgendwas fehlt. Ein Stückchen vom Puzzle fehlt noch.“

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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