94: das Essen II

Zwischen dem Salat mit Crevetten und der asiatischen Hühnersuppe kommt sie dazu, ihre Frage an Bergmann zu stellen. „Kaspar Wagenbach,“ wiederholt er. „Ich glaube nicht, dass ich ihn kenne. Wo hat er studiert?“ – „Ich weiß nicht,“ antwortet Pia, während sie die Gäste an der Tafel im Blick behält. „Aber er ist ein ziemlicher Kenner der RAF. Ich dachte, er hat sich vielleicht mal an Sie gewandt. Angeblich hat er Vorlesungen an der Uni besucht, erläutert Pia in Erinnerung daran, wie sich Alena und Kaspar kennen gelernt hatten. „Ich bin erst seit zwei Jahren an der Uni Altenburg,“ erklärt Bergmann. Pia zuckt mit den Schultern und wendet sich zur Seite, als eine Suppenschüssel vor sie gestellt wird. „Kaspar Wagenbach ist der Sohn von Marianne Wagenbach, die mit Brigitte Dahlem an der Vorbereitung des Anschlages beteiligt war.“ Interessiert schiebt Bergmann seinen Kopf vor. „Tatsächlich! Hat er seine Mutter je kennen gelernt? Wo befindet sie sich jetzt?“ – „Sie ist tot. Selbstmord in der DDR, kurz nach dem Mauerfall. Und nein, Wagenbach hat seine Mutter nie wirklich kennen gelernt. Wie es ausschaut, hatte sie nicht viel Interesse an ihrem Sohn.“

Christopher beugt sich zu ihr herüber. „Musst du immer an die Arbeit denken? Warum entspannst du heute nicht ein wenig und befasst dich mit erfreulicheren Themen?“ – „Was zum Beispiel,“ fragt Pia. Christopher sieht sie nachdenklich an. „Hast du vielleicht in letzter Zeit ein interessantes Buch gelesen, über das du dich unterhalten könntest? Einen Film gesehen? Gemeinsame Bekannte?“ In dem Moment, in denen er die Vorschläge ausspricht, weiß er bereits, das nichts davon in Frage kommt. Pias Antwort beschränkt sich daher auf ein ironisches Heben der Augenbrauen. „Und du? Kannst du dich über etwas anderes unterhalten als über abstrakten metaphysische Theoreme?“ Gut, vielleicht kannst du noch über die neuesten universitätspolitischen Entscheidungen diskutieren, nachdem man dich in den Ältestenrat der Uni gezwungen hat.“ Christopher gibt ihr einen leichten Kuss auf die Wange. „Nicht sauer werden. Wir verbringen beide viel zu viel Zeit mit unserer Arbeit. Aber manchmal denke ich, dass es bei dir überhand nimmt. Dass du nicht mehr loslassen kannst.“ Er berührt kurz ihre Hand. „Aber das müssen wir nicht jetzt besprechen.“

Pia fängt Bergmanns Blick auf, als sie sich wieder ihrer Suppe zuwendet. Ohne Reaktion zu zeigen, sucht sie erneut die Gäste nach bekannten Gesichtern ab. Hinten an der Tafel ist ein Platz frei. „Welche Fakultät sitzt dort unten am Tisch? Gegenüber der Dame, die dieses völlig geschmacklose grüne Kleid trägt, ist noch eine Lücke,“ fragt sie ihren Mann. Bergmann antwortet, als Christopher mit einer Kopfbewegung verneint: „Die BWLer.“ Er grinst Christopher zu. „Pragmatische Realisten, die sich mit so etwas profanem wie Wirtschaft beschäftigen. Vielleicht wissen Sie es noch nicht, aber seit einiger Zeit lehrt man das Studienfach auch an dieser Stätte der Weisheit. Quasi als Zugeständnis an die unaufhaltsame Entwicklung der Welt hin zum Moloch.“ Christopher lacht und Pia erkennt in den Augen ihres Mannes Sympathie für den jungen Professor. „Tja, wie Sie bereits vermuten, hält das Institut für Philosophie misstrauischen Abstand zu den Wirtschaftswissenschaftlern.“ Er zieht eine Grimasse. „Ehrlich, ich kenne fast niemanden von den Professoren. Mit einem hatte ich mal kurzzeitig zu tun, Professor Wiedenbach, und wir haben ein wenig über wirtschaftsmoralische Fragen diskutiert. Aber Ethik ist nicht mein Fachgebiet und von Wirtschaft habe ich auch keine Ahnung. Also ist uns schnell der Gesprächsstoff ausgegangen.“ Hungrig sieht Pia auf den Teller mit dem Hauptgericht, auf dem ein kleines Stück Lamm neben zwei winzigen Kartoffeln und einem Häufchen exotischen Gemüses liegt, das sie nicht identifizieren kann. Sie beugt sich über Christophers Teller. „Wenn du das nicht mehr magst, kannst du es mir geben. Es wäre unhöflich, einen vollen Teller zurückgehen zu lassen.“ Christopher zieht seinen Teller aus ihrer Reichweite. „Ich habe noch nicht mal angefangen zu essen,“ protestiert er.

Seufzend beginnt Pia, das Stück Fleisch in zwei Hälften schneiden, von denen sie die eine Hälfte umgehend in ihren Mund steckt. Als sie das zarte Fleisch hinunterschluckt, beobachtet sie, wie ein mittelgroßer Mann auf den leeren Platz zugeht. Er beugt sich zu der Dame hinunter, die links daneben platziert ist und bewegt den Mund. Ein nervöser Ausdruck beherrscht sein Gesicht und Pia kann von ihrer Position an der Tafel noch den Anflug von Ärger erkennen, mit dem er auf eine Bemerkung der Frau reagiert. Er schüttelt brüsk den Kopf und setzt sich, ohne sie weiter zu beachten. Gerade will Pia ihre Konzentration zurück auf ihren übersichtlichen Teller richten, als er noch einmal in ihre Richtung schaut.

Ihre Blicke treffen sich. In Pias Kopf feuern die Synapsen, die für die visuelle Erinnerung zuständig sind. Sie schiebt ein virtuelles Foto neben den Kopf des Mannes und vergleicht die Einzelheiten, Stück für Stück. Die ovale Kopfform könnte stimmen. Braune, kurzgeschnittene Haare, die mit grauen Strähnen durchzogen sind vs. blonde lange Haare. Das Original trägt eine rahmenlose Brille und Pia kann die Augenfarbe nicht erkennen. Aber der Mund, diese weiche Form. Das leicht zurückgehende Kinn. Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen und sie spürt, wie ihr der Jagdtrieb heiß ins Gesicht steigt. Schnell wendet sie ihren Kopf ab. Sie versucht sich zu beherrschen, spießt sorgfältig eine Kartoffel auf die Gabel und führt sie zum Mund; automatisch kaut sie darauf herum, ohne etwas zu schmecken. Dann hebt sie beiläufig ihren Kopf und fragt Bergmann: „Der Typ mit den braunen Haaren, der jetzt gerade den freien Platz besetzt hat – kennen Sie den auch?“

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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