

Eine halbe Stunde später stehen sie vor einem Mietshaus am Randbezirk von Weißbach und lesen die handgeschriebenen und verknitterten Schildchen an den Klingeln. An der Straße reihen sich abgewohnte Mehrfamilienhäuser aneinander, der Bürgersteig ist leer. Es ist Mittag und die Sonne wirft kleine und tiefschwarze Schatten. Pia ist warm in ihrem Trenchcoat, sie zieht ihn aus und legt ihn über ihren Arm. Unter dem Blazer trägt sie ihre Dienstwaffe in einem Schulterholster. Riesel ist nervös, dicke Schweißtropfen stehen auf seiner Stirn. „Sie wohnt im dritten Stock,“ sagt er dann und räuspert sich, weil seine Stimme belegt klingt. Pia grinst. „Keine Bange, sie wird nicht gleich ihre Uzi herausholen, auch wenn wir Vertreter des faschistischen Polizeistaats sind.“ Riesel wirft ihr einen Blick zu, aus dem sie lesen kann, dass er ihre Bemerkung nicht witzig findet. Pias Grinsen wird breiter. „Sie haben das erste Mal mit Ex-Terroristen zu tun?“ Riesel nickt kurz und fragt stirnrunzelnd zurück: „Und Sie?“ Pia zuckt mit den Schultern. „Klar.“ Sie grinst noch immer, als sie energisch auf die Klingel drückt. Nach einer Weile knackt die Gegensprechanlage. „Wer ist da?“ Pia beugt sich vor, um direkt in die Anlage zu sprechen. „Mein Name ist Pia Stein-Bachmüller, Kriminalpolizei Altenburg. Wir haben ein paar Fragen.“ Erst bleibt die Anlage still. Dann erneut die Stimme: „Ich werde Sie nicht hineinlassen und ich werde keine Fragen beantworten.“ Pia zieht ihre Augenbrauen hoch und hält ihren Mund an die Anlage: „Wir können Sie auch vorladen und durch einen Beamten abholen lassen. Sie ersparen sich viel Aufregung und Ihren Nachbarn ein interessantes Schauspiel, wenn Sie jetzt mit uns reden. Wenn Sie nicht möchten, dass wir Ihre Wohnung betreten, können Sie auch zu uns herunterkommen.“ Wieder ist es einen Moment still. Dann das Knacken: „Ich komme runter.“ Pia sieht Riesel an und zuckt mit den Schultern. „Gehen wir ein wenig spazieren. Ist doch auch in Ihrem Interesse, auf offener Straße wird sie uns schon nicht abknallen.“ Riesels giftiger Blick ist das erste Highlight dieses Tages.
Kaspar klingt nervös am Telefon. „Du triffst sie also diesen Nachmittag? Was willst Du sie fragen? Wird sie sich nicht wundern, dass Du Dich für diesen Mord interessierst?“ Alena blättert in dem Buch, das vor ihr liegt und bei dessen Lektüre Kaspars Anruf sie unterbrochen hat. „Klar wird sie sich wundern. Sie ist nicht blöd. Aber sie ist die einzige Möglichkeit, an Infos zu kommen. Wenn Du es Dir allerdings anders überlegt hast, dann sage ich wieder ab.“ Für eine Sekunde hat sie die winzige Hoffnung, dass Kaspar anbeißen könnte. Aber sie wird natürlich enttäuscht. „Nein, schon in Ordnung,“ erwidert er nach kurzem Abwägen. Alena überlegt ob es sich lohnt, diese Strategie weiter zu verfolgen. Ein Versuch kann nicht schaden. „Was ist, wenn sie bereits von Dir weiß? Darf ich Ihr sagen, dass ich Dich kenne?“ Ein unruhiger Zischlaut kommt durch den Hörer. „Verdammt. Hältst Du das für möglich? Ich habe keine Lust, in den Fall hineingezogen zu werden.“ Seine Stimme klingt gequält. Alena seufzt innerlich auf. „Ich weiß es nicht. Aber gut, vielleicht bekomme ich heraus, ob sie Dich im Visier hat. Und wenn nicht, werde ich deinen Namen natürlich nicht erwähnen. Außerdem weiß sie schließlich nicht, dass wir uns kennen, sie kann daher von mir und meinen Fragen keine Verbindung zu Dir ziehen. Ich weiß allerdings nicht, ob wir unsere Bekanntschaft auf Dauer vor ihr verbergen können.“ Alena runzelt die Stirn. „Aber ehrlich gesagt glaube ich noch nicht mal, dass sie es besonders auffällig findet, wenn ich mit ungewöhnlichen Fragen komme. Das ist sie mittlerweile gewohnt.“ Sie zieht eine Grimasse, die Kaspar nicht sehen kann. „Ich glaube, sie findet mich etwas seltsam.“ Sie hört Kaspar das erste Mal seit längerem lachen. „Überrascht Dich das?“ Dann wird er wieder ernst. „Rufe mich sofort an, wenn Du wieder zu hause bist, ok?“
Pia und Riesel stehen einen Meter von der Sicherheitsglastür entfernt, und Pia fragt sich, ob es klug war, Brigitte Dahlem auf die Straße zu bitten. Die Fluchtgefahr ist hier größer. Könnte es zu einem Schusswechsel kommen? Sei nicht albern, denkt sie ungeduldig. Wir sind nicht mehr in den 70ern. Und wir können sie nicht zwingen, uns in die Wohnung zu lassen. Eine Vorladung dauert zu lange. Ich will jetzt mit ihr sprechen. Trotzdem fühlt sie Anspannung, als die Haustür sich Minuten später öffnet und eine hagere Frau in Jeans und schwarzem Sweater erscheint. Grüne Augen starren sie aus dem blassen, verlebten Gesicht trotzig an. Die braunen glatten Haare sind mit grauen Strähnen durchzogen und mit einem Haarband zu einem Zopf gebunden. Die Frau bleibt nach zwei Schritten vor ihnen stehen und hält die Arme vor der Brust verschränkt. Pia hält ihr den Dienstausweis hin und Riesel folgt hastig ihrem Beispiel. Brigitte Dahlem nimmt die Ausweise in ihre Hand und begutachtet sie aufmerksam. Dann gibt sie sie zurück. „Sollen wir ein paar Schritte gehen“, schlägt Pia vor. Ein misstrauischer Blick, dann kurzes Nicken. „Wenn es sein muss.“ Brigitte Dahlem setzt sich in Bewegung und Pia geht neben ihr, während Riesel einen Schritt hinter den beiden läuft. „Wir ermitteln in einem Mordfall, das Opfer heißt Otto Schwarz.“ Sie beobachtet Brigitte Dahlems Gesicht, und wird mit einem Zucken des ihr zugewandten Augenlides belohnt. Der Blick bleibt jedoch starr geradeaus. „Der Polizist Otto Schwarz? Ich dachte, der lebt schon lange nicht mehr.“
Flannery Culp - 9. Okt, 19:47


Christopher errötet leicht und das wundert sie - und es macht sie neugierig. „Wie sieht es aus? Mit 16 macht man sich doch schon Gedanken über politische oder öffentliche Ereignisse.“ Christopher fährt mit einer Hand durch sein Haar und konzentriert sich auf sein Weinglas. „Tatsächlich habe ich Ende 74 an einem Protestzug in Köln teilgenommen, an dem Tag, an dem Holger Meins an den Folgen des Hungerstreiks gestorben ist.“ Er grinst verlegen. „Ich war 13, also ist das wahrscheinlich zu entschuldigen. Johannes, mein ältester Bruder, ist gegangen, und ich habe ihn sehr bewundert. Darum wollte ich mit. Johannes war drei Jahre älter als ich und er hatte damals eine sehr dezidierte Meinung zu Stammheim. Für ihn waren Baader und Co. politische Gefangene und der Hungerstreik dementsprechend eine politische Aktion. Und er war davon überzeugt, dass die Isolationshaft mit Folter gleichzusetzen war.“ Christopher zieht eine Grimasse. „Du kannst Dir vorstellen, dass mein Vater nicht begeistert von dieser Ansicht war. Er war und ist Pazifist und für ihn waren Terroristen Kriegstreiber. Bombenanschläge und Brandstiftung waren für ihn keine Mittel, um Protest auszudrücken, obwohl er den 68er Diskussionen wohl sehr offen gegenübergestanden hatte.“ Ein dünnes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. „Aber wie es so ist, wenn man jung ist, fühlt man sich eher zu den radikaleren Positionen hingezogen, weil die einfach interessanter sind. Ich hatte mit 13 natürlich wenig Ahnung vom Hintergrund der Ereignisse und war daher ziemlich offen für die Erläuterungen aus der Sicht meines Bruders.“ Pia kann ein amüsiertes Grinsen nicht unterdrücken. „Ich kann mit ehrlich gesagt kaum vorstellen, dass Du mal auf linke Demos gegangen bist und für die Freilassung von Terroristen gekämpft hast.“ Christopher schmunzelt. „Na ja, vielleicht bin ich eher ein ruhiger Charakter, aber Johannes ist ganz anders. Er ist begeisterungsfähig und kann sich für eine Sache engagieren.“ Sein Gesicht wird ernst. „Vermutlich waren die Leute, die später in den Untergrund gegangen sind, auch begeisterungsfähig und engagiert. Ich kann nicht befürworten, was sie getan haben, aber manchmal hat wohl ein Schritt zum anderen geführt.“ Pia beobachtet, wie er einen Moment darüber nachdenkt. Dann schüttelt er den Kopf. „Trotzdem, es ist die Entscheidung jedes Einzelnen, wie weit er diesen Weg geht. Jeder von uns hat die Möglichkeit der Wahl.“ Er holt tief Luft. „Jedenfalls ist das meine Überzeugung. Oder das, woran ich einfach glauben möchte.“
Als Pia am nächste Morgen ins Büro kommt, liegt ein Dossier neben einer dampfenden Tasse Kaffee auf ihrem Schreibtisch und Riesel kann die frohe Erwartung in seinem Blick nicht verbergen. Innerlich rollt Pia mit den Augen, aber sie bequemt sich dazu, ein „Schnelle Arbeit“ zu murmeln. Oberdorf setzt sie unter Druck, daher ist klüger, Allianzen zu schließen. Temporäre Allianzen. Außerdem macht Riesel wirklich guten Kaffee. Sie trinkt einen Schluck und schlägt den kartonierten Deckel auf. In den nächsten Minuten liest sie aufmerksam. Dann lehnt sie sich zurück, und drückt die Zeigefinger gegen ihre Schläfen. „Hoffmann, Burg und Dahlem wurden 1981 geschnappt und 1982 zu lebenslänglicher Haftstrafe verurteilt. Hoffmann ist tot, hat sich 1986 im Gefängnis das Leben genommen. Keine lebenden Verwandten. Hans Joachim Burg wurde im Juli 2001 entlassen. Sein Aufenthaltsort ist unbekannt.“ Pia nimmt die Finger von der Schläfe und wirft Riesel einen prüfenden Blick zu. Riesel verteidigt sich: „Ich bleibe dran, aber bisher habe ich nur diese Information. Er ist nach der Entlassung erst nach Hamburg gezogen und ist dort immer noch gemeldet. Unter der Adresse wohnt er aber nicht mehr und angeblich weiß niemand, wo er sich aufhält.“ Pia runzelt die Stirn und rekapituliert laut weiter: „Brigitte Dahlem wurde im Juli 2004 entlassen. Sie ist erst nach Köln gezogen und wohnt nun in,“ sie macht eine Kunstpause. „Weißbach. Das ist 20 Minuten von Altenburg.“ Riesel grinst. Ungerührt doziert Pia weiter: „Marianne Wagenbach gelang nach dem gescheiterten Anschlag die Flucht in die DDR, wo sie von der Stasi versteckt wurde. 1989 verübte sie Selbstmord. Robert Koch ist ebenfalls in die DDR geflüchtet. Er lebte ein Jahr in Leipzig, danach verliert sich seine Spur.“ Pia zieht eine Augenbraue nach oben. „Er ist der Stasi durch die Lappen gegangen?“ Riesel nickt eifrig. „Die Akten von Wagenbach und Koch wurden nach Öffnung der Archive aktualisiert, und erst durch die Stasi-Unterlagen hat man erfahren, dass die Wagenbach tot ist und Koch sich schon länger nicht mehr in der DDR befand, als die Mauer gefallen ist. Bis 1989 gab es nur den Verdacht, dass sie in der DDR Unterschlupf gefunden haben. Was Koch betrifft, ist seitdem keine Spur mehr von ihm aufgetaucht. Die Stasi nahm damals an, dass er mit Hilfe von Unbekannten in den Nahen Osten geflohen und dort wahrscheinlich gestorben ist.“ Pia trommelt mit den Fingern auf der Schreibtischunterlage. „Zwei Tote, zwei Verdächtige mit unbekanntem Aufenthaltsort und eine Verdächtige hier in der Nähe. Ich würde sagen, wir fangen mit Frau Dahlem an. Für Burg und Koch will ich eine neue Fahndung. Natürlich nicht im Zusammenhang mit dem Mord an Schwarz. Lassen Sie sich etwas einfallen.“
Flannery Culp - 8. Okt, 17:47


Sie verabreden sich für morgen Nachmittag in einem Cafe und nachdem Pia den Hörer aufgelegt hat, wirft sie ihrem Kollegen die Liste mit den Namen auf den Schreibtisch. „Finden Sie alles über diese Personen heraus, was Sie kriegen können. Ein paar davon könnten noch einsitzen, andere sind vielleicht bereits entlassen. Suchen Sie die aktuellen Adressen heraus, Familienverhältnisse, aktuelle Vergehen, Verwandte und was Ihnen noch so einfällt. Seien Sie ruhig kreativ.“ Während Riesel sich auf seinen Rechner stürzt, nimmt sie sich die übrigen Papiere vor, die im Schließfach lagen.
Am späten Abend schließt sie die Tür zur Wohnung auf. Die Unterlagen haben keine weiteren Erkenntnisse ergeben und Pia ist frustriert. Christopher, ihr Mann, ist zu hause. Er ist Professor für Philosophie an der Altenburger Universität und hat Montags keine Vorlesungen. „Viel los bei Euch,“ ruft er aus der Küche heraus. Er steckt seinen Kopf durch die Tür und lächelt. Pia grinst unwillkürlich, als sie ihn mit seiner Lieblingsküchenschürze sieht. Es riecht nach Pasta, das einzige, was Christopher kochen kann, und sie hat Hunger. Langsam fühlt sie, wie die Anspannung des ganzen Tages von ihr fällt. „Wir haben einen neuen Fall,“ murmelt sie, während sie ihren Trenchcoat an die minimalistische Garderobe hängt. Ihr Blick fällt auf ihre Reflexion in dem großen quadratischen Spiegel neben der Garderobe. Einen Moment starrt ihr eine schlanke, mittelgroße Frau Anfang Vierzig mit kurzen glatten blonden Haaren entgegen, deren blaue Augen glanzlos und müde sind. Sie atmet tief ein und wieder aus und geht dann in die Küche, wo sie ein gedeckter Tisch begrüßt. Schwer lässt sie sich auf den Stuhl fallen. „Worum geht es? Bis in die Nachrichten scheint es der Fall bisher noch nicht geschafft zu haben, also vermute ich mal, es ist eher unspektakulär.“ Mit einer Grimasse füllt Pia sich Spagetti auf den großen Teller. Sie spricht selten und ungern mit Christopher über ihre Arbeit, aber in der Vergangenheit hat sich herausgestellt, dass bei bestimmten Fall-Konstellationen seine Meinung hilfreich ist. Nach ihrer Ansicht mochten Philosophen weltfremd sein, zu übertriebenen Abstraktionen neigen und Probleme bei kleineren Reparaturen im Haushalt haben, aber was Pia durchaus zu schätzen weiß, sind die logischen Fähigkeiten, die die meisten dieser seltsamen Spezies aufweisen. Momentan hat sie keine logischen Probleme, sondern eher das Bedürfnis zu reden. Dass die RAF involviert sein soll, bedrückt sie aus unerfindlichen Gründen. Aber sie darf nicht zu viele Einzelheiten nach außen tragen. „Es hat einen Toten gegeben,“ sagt sie daher nur und lässt sich von Christopher die Bolognese-Sauce reichen. „Was ich Dir jetzt sage, bleibt unter uns.“ Sie sieht ihn an und er nickt neugierig. Während sie den Parmesan gleichmäßig über dem roten Haufen auf ihrem Teller verteilt erklärt sie: „Es gibt Grund zur Annahme, dass die RAF irgendwas mit dem Mord zu tun hat.“ Auf Christophers entsetztes Gesicht hin hebt sie beruhigend die Hand. „Das heißt nicht, dass die Rote Armee als Organisation zurück ist. Es könnte sich um eine Art Racheakt handeln.“ – „Du meinst, es könnte eher ein persönliches als ein ideologisches Motiv geben?“ Christopher füllt Wein in ihre Gläser. Pia sieht ihm zu, während sie über seine Frage nachdenkt. „Ich bin eigentlich von einem persönlichen Motiv ausgegangen. Ein ideologischer Hintergrund? Jetzt? Die Welt hat sich verändert seit den 70er und 80ern, oder?“ Christopher zuckt mit den Schultern und trinkt einen Schluck. „Die RAF könnte sich auch verändert haben. Und es ist die Frage, ob die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse bis heute nicht im Kern gleich geblieben sind. Aber man müsste natürlich fragen, wogegen die RAF damals tatsächlich gekämpft hat und dann sehen, ob diese Front auch heute noch besteht.“ – „Wogegen hat sie gekämpft,“ fragt Pia mit vollem Mund. Über Christophers Gesicht fährt ein müdes Lächeln. „Gute Frage, und ich bin mir nicht einmal sicher, ob das damals überhaupt jemand konkret erläutern konnte.“ Er rollt Spagetti auf seine Gabel. „Antiimperialismus, Antifaschismus, das waren die Schlagworte. Soviel ich weiß, zielten die Anschläge der Kerngruppe der RAF damals auf amerikanische Stützpunkte, weil man ein Statement gegen den Vietnam-Krieg abgegeben wollte. Gleichzeitig zog man die Bundesrepublik zur Verantwortung, weil die USA von dort Unterstützung fand, und weil die Bonner Republik als repressiver Staatsapparat aufgefasst wurde. Wenn man den Startpunkt der RAF auf die Befreiung Baaders 1970 legt, dann war der Ausgangspunkt des Ganzen die gescheiterte Studentenrevolution 1968.“ Pia hört aufmerksam zu, während sie die Spagetti kaut. Christopher fährt fort, als wenn er sich in einem Hörsaal befinden würde. „Während der Studentenrevolution wurden bei vielen bestimmte Überzeugungen manifest. Politisches Engagement war einer der Hauptfaktoren und daneben soziales Engagement, das man aber auch immer als politisch verstand. Es etablierte sich gleichzeitig ein gewisses Schwarz-Weiß-Denken, und zwar sowohl auf Seiten der Studenten, als auch auf Seiten der Regierung oder der Bürger. Presseorgane wie die Bildzeitung hatten daran einen gewaltigen Anteil. Aus diesem polarisierten Denken entwickelte sich ein Antagonismus, dem auf der friedlichen Ebene mit den Mittel der Publikation und der Weiterbildung Rechnung getragen wurde, dazu gehörten auch noch Demonstrationen. Das es aber von Anfang an unterschwellige Aggressionen gegeben haben könnte, darauf deutet die Eskalation nach dem Tod von Benno Ohnesorg hin.“ Christopher schwenkt sein Glas, sein Blick ist in die Vergangenheit gerichtet. „Die Schüsse auf Ohnesorg haben wohl für nicht wenige 68er damals eine Radikalisierung bedeutet. Plötzlich fühlte man sich mitten in einem Kampf. Schon vorher gab es diese Identifizierung mit revolutionären Gruppen außerhalb Deutschlands, und plötzlich hatte man wohl den Eindruck, dass man Gewalt anwenden müsste, um die Verhältnisse in Deutschland und schließlich in der ganzen Welt zu ändern.“ Christopher zuckt hilflos mit den Schultern. „Der Wunsch nach Frieden, Sozialismus, gleiche Chancen, Diskussionskultur, vor diesem Hintergrund ist auch die RAF entstanden. Es ist verrückt, wenn man es aus der heutigen Perspektive betrachtet.“ Pia betrachtet ihn schweigend. Dann fragt sie: „Du warst 1977 16 Jahre alt, oder? Hast du das Ganze irgendwie verfolgt? Hast Du einen Standpunkt zur RAF eingenommen?“
Flannery Culp - 7. Okt, 16:24


Ohne seine Augen von der Liste zu nehmen nickt Oberdorf langsam. „Es handelt sich um fünf Personen, die im Frühjahr 1978 ein Sprengstoffattentat auf die amerikanische Botschaft in Bonn geplant hatten. Sie wollten den Tod von Baader, Ensslin und Raspe rächen. Es war der Initiative von Schwarz zu verdanken, dass das Attentat verhindert werden konnte. Erst drei Jahre später gelang die Verhaftung von Peter Hoffmann, Brigitte Dahlem und Hans-Joachim Burg. Zwei der Gruppe wurden nie gefasst. Später stellte sich heraus, dass sie in die DDR geflüchtet waren und dort unter neuer Identität lebten. Robert Koch ist weiterhin untergetaucht und Marianne Wagenbach hat sich das Leben genommen, als die Mauer fiel. Hoffmann, Dahlem und Burg wurden zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.“ Jetzt sieht er Pia an. „Schwarz hat oft von der Sache geredet, der Fall war ein Wendepunkt in seinem Leben. Das war der Fall, mit dem sein beruflicher Aufstieg begann. Schlagartig wurde er damals bekannt, nicht nur innerhalb der Kripo; er wurde auch in der Presse als Held gefeiert. Die Planung des Kommandos Andreas Baader, wie sich die Gruppe nannte, war brutal. Es hätte einer der blutigsten Anschläge seiner Zeit werden können.“ Oberdorf schließt kurz die Augen. „Schwarz war wie besessen, als nach dem Anschlag kein Gruppenmitglied verhaftet werden konnte. Er hat sich wie ein Bluthund an ihre Fersen geheftet. Es war ein persönlicher Triumph für ihn, als die Ermittlungen zumindest in drei Fällen Erfolg hatten.“ Müde sagt er: „Es ist gut möglich, dass einer oder mehrere von den dreien vor kurzem entlassen wurden und daraufhin einen Rachefeldzug gegen ihn gestartet haben.“ Er schüttelt langsam mit dem Kopf. „So ein Wahnsinn.“ – „Wissen Sie genaueres über die Entlassungstermine? Wir gehen davon aus, dass die Drohungen Mitte letzten Jahres begannen“, fragt Pia. Oberdorfs Gesichtszüge werden hart. „Nein, aber die Entlassungstermine dürften sich leicht herausbekommen lassen.“ Seine kleinen runden Schweinsaugen verengen sich zu schmalen Schlitzen. „Und dann machen Sie ihnen die Hölle heiß, Pia. Sie haben meine volle Unterstützung.“ Pia lächelt, als sie das Büro verlässt.
Zurück an ihrem Schreibtisch hält Riesel ihr den Telefonhörer hin. „Alena Brandenburg. Soll ich durchstellen?“ Pia starrt ihn einen Moment an und runzelt dann die Stirn. „Hat sie gesagt, in welcher Angelegenheit sie mich sprechen möchte?“ Riesel verneint und fragt dann neugierig: „Sie ist doch die Nachbarin von diesem Professor Erbacher, oder? Der Todesfall im Winter. Sie wurde niedergeschlagen.“ Pia ignoriert seine Fragen und nimmt ihm den Hörer aus der Hand. Mit einer Kopfbewegung bedeutet sie ihm das Gespräch zu übergeben und meldet sich. Ihre Begrüßung klingt steif in ihren Ohren. Alenas Stimme hört sich dagegen unbefangen an. „Alena Brandenburg. Ich hoffe, ich störe nicht.“ Pia dreht Riesel den Rücken zu. „Nein. Was gibt es? Haben Sie eine Leiche im Hausflur entdeckt?“ Alena lacht leise und Pia entspannt sich etwas. „Glücklicherweise ist es hier momentan ziemlich langweilig. Darum wollte ich auch mal wieder einen Kaffee trinken gehen und dachte, Sie haben vielleicht Lust und Zeit, ein wenig zu plaudern.“ Pia weiß für einen Moment nicht, was sie sagen soll. Sie ist überrascht, aber gleichzeitig auch erfreut. Dann schleicht sich ein anderer Gedanke in ihren Kopf. Alena ist ein Einzelgänger. Sie trifft sich nicht in Cafes um dort zu plaudern. Pia erinnert sich an den Fall im Winter; Alena hatte nur dann Kontakt zu Bekannten aufgenommen, wenn sie Auskünfte wollte. So wird es auch in diesem Fall sein. Sie möchte etwas wissen. Pia überlegt einen Moment, ob sie beleidigt sein soll, aber sie kommt zu dem Schluss, dass es in Alenas Fall keinen Sinn macht, normale soziale Maßstäbe anzulegen. Stattdessen wird sie neugierig. Für was ist Alena bereit, ihre seltsame kleine Welt zu verlassen?
Flannery Culp - 5. Okt, 20:13


Zurück in der Dienststelle liegen die Briefe und Dokumente auf Pias Schreibtisch, die sie dem Schließfach entnommen haben. Der früheste der Briefe, die alle im Stil den bereits gefundenen ähneln, datiert vom 1. Oktober 2005. „Wenn wir davon ausgehen, dass die Drohungen im Oktober 2005 begonnen haben, was für Schlussfolgerungen können wir daraus ziehen“, fragt Pia in Richtung Riesel. Der schluckt kurz und meint dann: „Der Schreiber hat vielleicht erst im Oktober 2005 die Adresse oder den Aufenthaltsort von Schwarz herausbekommen.“ – „Oder er ist kurz vorher aus dem Gefängnis entlassen worden,“ ergänzt Pia. „Wenn es sich bei dem Schreiber tatsächlich um ein ehemaliges Mitglied der RAF handelt, könnte Schwarz bei seiner Inhaftierung eine größere Rolle gespielt haben. In diesem Fall ist es nicht unwahrscheinlich, dass er bis 2006 noch gesessen hat.“ Sie gibt Riesel den Packen Briefe. „Lesen Sie das Zeug genau durch, vor allem mit Blick darauf, ob in den Briefen irgendein Hinweis auf den Grund für die Drohungen zu finden ist.“ Sie nimmt sich die übrigen Blätter vor, hauptsächlich Notizen. „Es sieht aus, als ob Schwarz auf eigene Faust versucht hat, den Schreiber aufzuspüren. Der Poststempel auf den Umschlägen weist darauf hin, dass die Briefe in Waldmühl eingeworfen wurden, das ist nur 20km von Altenburg entfernt. Hier sind kurze Bemerkungen. Schwarz hat anscheinend das Online-Telefonbuch von Altmühl nach Namen durchsucht, ist aber nicht fündig geworden. Leider schreibt er nicht, nach welchen Namen er gesucht hat.“ Pia seufzt. „Was hat Schwarz dazu geschrieben,“ will Riesel wissen. Pia zieht mit spitzen Fingern ein Blatt aus dem Haufen. „Es ist eine Art Liste, wie Schwarz vorgegangen ist. Nr. 1 ist der Poststempel, wie gesagt, Altmühl. Nr. 2 lautet: Telefonbuch nach Namen durchsuchen. Internet. Dann ein Haken und der Vermerk: ergebnislos. Nicht sehr aussagekräftig.“ Pia massiert ihre Schläfen und nimmt sich dann wieder die Liste vor. „Daraufhin hat er die Telefonbücher aller Städte im 50 km – Umkreis von Altmühl durchsucht. Ein Haufen Arbeit, aber er hatte ja Zeit. Wieder kein Hinweis darauf, welchen oder welche Namen er gesucht hat. Der nächste Punkt ist die Kontaktaufnahme mit einem Harald. Vielleicht handelt es sich bei Harald um einen früheren Kollegen. Kennen Sie hier einen Harald?“ Riesel ruft die Telefonliste des Intranet auf und schüttelt nach kurzer Zeit den Kopf. „Hier arbeitet kein Harald.“ – „Dann ist es vielleicht ein Kollege aus einer Dienststelle, in der Schwarz früher beschäftigt war. Vielleicht einer der Kollegen, die mit ihm in der RAF-Sache zusammengearbeitet haben.“ Sie tippt mit einem Fingernagel auf das Blatt vor ihr. „Kein Vermerk bei diesem Punkt. Die Punkte danach sind nicht abgehakt. Vielleicht hatte Schwarz hier Erfolg und die Liste daher nicht weiterverfolgt.“ Sie sucht in den anderen Blättern und trommelt dabei ungeduldig mit ihren Nägeln auf der Schreibtischunterlage. Dann hört das Trommel abrupt auf. Riesel sieht zu ihr herüber. „Hier ist eine Liste mit Namen,“ sagt Pia langsam. Sie starrt auf das Blatt und beisst dabei auf ihre Lippen. Riesel beugt sich vor. „Was sind das für Namen? Hat Schwarz die Personen, die er verdächtigt, die Briefe zu schreiben, notiert?“ Pia bleibt bewegungslos. Dann steht sie auf. „Ich werde Oberdorf einen ersten Bericht erstatten und ihm gleichzeitig mal ein paar Fragen stellen.“
Oberdorf sonst so rotes Gesicht ist bleich. Er betrachtet die Briefe, die Pia ihm vorgelegt hat und sieht aus, als stände er kurz davor, sich zu übergeben. „Anscheinend hatte Schwarz einen ersten Verdacht, was die Identität des Schreibers angeht“, bemerkt Pia kühl und wirft Oberdorf die Liste mit Namen auf den Schreibtisch. „Worauf lassen wir uns hier ein, Chef? Die Personen auf diesem Blatt sind nicht gerade Taschendiebe. Sie gehören alle zur zweiten Generation.“
Flannery Culp - 3. Okt, 12:25


Kaspar sitzt vor dem Bildschirm seines Rechners und raucht unablässig. Seine Gedanken kreisen um den Toten. Im Raum ist es stickig, der Zigarettenqualm nimmt einem den Atem, aber die Fenster sind geschlossen. Kaspar bemerkt nicht, dass der Sauerstoffgehalt sich der kritischen Grenze nähert. Er lehnt sich in dem abgesessenen Schreibtischstuhl zurück und beugt den Kopf nach hinten. An der Decke über ihm hängen Fahndungsposter. Auf einigen davon sind einzelne Fotos kreuzweise durchgestrichen, es handelt sich um Originale aus Polizeiwachen. Ein zynisches Lächeln erscheint auf seinem Gesicht, wie so oft, wenn er die Poster betrachtet. Ein paar wenige Fotos ohne fetten Edding-Strich, Dokumentation erfolgloser Fahndung. An einem der kleinen, unscharfen schwarz-weiß-Bilder bleibt sein Blick hängen. Je länger er darauf starrt, desto lebendiger werden die Schemen, als nähmen sie ein Eigenleben an. Mit einem Ruck setzt er sich wieder aufrecht. Das Zimmer ist voll gestopft. Bücher und alte Zeitschriften verdecken in hohen Bücherregalen zwei der Wände. An den anderen Wänden hängen Zeitungsausschnitte, Fotos und weitere Fahndungsposter. Wenn er die Augen schließt, sieht Kaspar jedes einzelne Papier vor sich, kann dessen Anordnung zu anderen Stücken reproduzieren, kann das Gedruckte auswendig rezitieren. Manchmal hat er das Gefühl, als wenn die Wände täglich näher rücken. Er konzentriert sich wieder auf den Bildschirm. In die Datenbank hat Kaspar den Namen des pensionierten Kommissars eingegeben und die Access-Oberfläche zeigt den Eintrag: Maßgeblich beteiligt an der Verhaftung von Hans-Joachim Burg, Brigitte Dahlem und Peter Hoffmann. Kaspar tippt das Todesdatum in das dafür vorgesehene Feld. „Das hast Du nun davon, alter Mann“, flüstert er.
Pia und Riesel stehen vor dem Bereich mit den Schließfächern der hiesigen Sparkasse und suchen das Fach, zu dem der Schlüssel gehört. Pia fühlt Nervosität in sich aufsteigen. Sie mag den Gedanken an das, was sie dort finden könnten, nicht. Als sie die Nummer des Fachs erkennt, holt sie den Schlüssel heraus und zögert dann. Neben ihr bewegt Riesel sich ungeduldig. Sie atmet tief ein, steckt den Schlüssel in das Schloss und zieht die schmale Tür auf.
Flannery Culp - 2. Okt, 20:40


Auf dem Weg zur Sparkasse ziehen Bilder durch Pias Kopf. Sie war 12 als die
Aufnahme von Arbeitgeberpräsident Schleyer, der mit tiefen Augenringen ein grobes Stück Pappe in der Hand hielt, in die bundesdeutschen Wohnzimmer eindrang. Auf der Wand, vor der Schleyer saß, prangte der Stern mit der Kalaschnikow, wie auf den Briefen, die sie im unpersönlichen, aber gutbürgerlichen Schlafzimmer Schwarz´s gefunden hatte. Damals wie heute hatte sie das Gefühl, dass der rote Stern nicht dorthin gehörte, nicht in das ordentliche Wohnzimmer ihrer Eltern und nicht in das akkurate Schlafzimmer des Pensionärs. Im
Herbst 1977 hatte sie nicht verstanden, worum es ging, aber der Gesichtsausdruck des Enführten beunruhigte sie, diese Mischung aus Angst und Hoffnungslosigkeit. Und noch etwas hatte sie gespürt: die Demütigung, die mit der aufgezwungenen Pose verbunden war. Sie sieht ihren Vater vor sich, einen Beamten bei der Stadtverwaltung, der morgens beim Frühstück die Zeitung las und schnaubend zu ihrer Mutter bemerkte: „Diese Hunde, man sollte sie alle erschießen.“ Sie erinnert sich an ihre Mutter, die kurz zu ihr herüber sah und zu ihrem Mann sagte: „Nicht vor dem Kind, Klaus.“ Sie erinnert sich, dass sie fragte, wen man erschießen solle und an die Antwort ihres Vaters: „Musst Du nicht längst in der Schule sein?“ Sie hat die abendlichen Szenen vor dem Fernseher vor Augen, ihren Vater, der mit einer Flasche Bier mit vorgebeugtem Oberkörper im Sessel saß und die Nachrichten verfolgte, während ihre Mutter, betrübt mit dem Kopf schüttelnd, an einem Pullover strickte. Sie erinnert sich, dass sie sich ausgeschlossen fühlte von diesem Geschehen, an dem ihre Eltern auf eine Art und Weise teilhatten, die ihr unbegreiflich blieb. Erst später wurde ihr klar, dass sie sich ebenfalls bedroht, angegriffen und gedemütigt fühlten, dass die Front, gegen die die RAF kämpfte, auch ihre Eltern einschloss. Sie erinnert sich daran, dass sie begann die Zeitungen vom Tag vorher aus dem Mülleimer zu fischen um die Artikel über die Entführung zu lesen. An das Gefühl von Unsicherheit und Beklemmung, als sie aus ihrer Lektüre erfuhr, dass es zuvor bereits Tote und Verletzte gegeben hatte, Bombenanschläge und Schüsse. Dass sie schließlich in der Schule den Lehrer gefragt hatte, warum es Terroristen gäbe. Sie erinnert sich an ihren Lehrer, einen Dreißigjährigen mit selbst gestrickten Pullovern und blonden lockigen Haaren, der lange überlegt und seinen Schülern dann erklärt hatte, dass es nicht immer schlecht sei, wenn man für etwas kämpft, an das man glaubt, dass man jedoch die Mittel beachten müsse, die man einsetzt. Pia hatte daraufhin gefragt, ob es in Ordnung sei, wenn man einen Menschen tötet um sein Ziel zu erreichen. Ihr Lehrer hatte es sich nicht einfach gemacht. Das hinge von dem Ziel ab, für das man sich einsetzt, erklärte er. Es gäbe gute und schlechte Ziele. Bevor Pia fragen konnte, setzte er hinzu: „Und es gibt niemanden, der Dir vorher sagt, ob das Ziel gut oder schlecht ist. Das musst Du selbst entscheiden. Du kannst die geltenden Gesetze zur Hilfe nehmen. Aber wer sagt Dir, dass diese Gesetze gerecht sind? Du kannst Dich an die Bibel halten, aber wer sagt Dir, dass alles stimmt, was dort steht? Du kannst Deine Eltern fragen, aber woher weißt Du, ob sie recht haben?“ Zwei Wochen später wurde ein Flugzeug entführt und Gewalt und Chaos explodierten. Die Schockwelle erfasste Pia und schleuderte sie bis vor die Fotos der Toten aus Stammheim. Dann folgte ein Moment der Stille, als wenn die Bürger der Bundesrepublik den Atem anhielten. Auch Pia schwebte bewegungslos, schwindelig. Dann das allgemeine Ausatmen und die zufriedene Wiederaufnahme des Alltags. Nur die 12jährige Pia wusste, dass sie den festen und sicheren Boden ihrer Kindheit für immer verloren hatte.
Flannery Culp - 1. Okt, 12:21


Pia spürt, wie ihr der Schweiß ausbricht. Sie steckt das Blatt zurück in den Umschlag und nimmt sich die nächsten vor. Die Inhalte sind ähnlich. „Faschistisches Bullenschwein, du stehst ganz oben auf der Abschussliste“. „Pig, deine Hinrichtung ist Programm.“ Darunter jedes Mal der rote Stern mit der MP. „Scheiße,“ murmelt Pia. Riesel hat sie gehört und kommt ins Schlafzimmer. Als er die Briefe auf dem Schreibtisch sieht, pfeift er durch die Zähne. Dann nimmt er eines der Blätter stirnrunzelnd hoch. „Das ist das Zeichen der Roten Armee Fraktion, oder? Ich dachte, die gibt es nicht mehr.“ Pia lehnt sich auf dem wackeligen Holzstuhl zurück. „1997 haben sich die letzten inhaftierten RAF-Mitglieder vom bewaffneten Kampf losgesagt, “ erklärt sie und versinkt in dumpfes Brüten. „Das sind ja jede Menge Drohbriefe,“ merkt Riesel an. „Wann hat es angefangen? Das kann man doch bestimmt am Poststempel sehen.“ Er zieht den untersten Brief heraus. „Der Stempel ist vom 31.12.2005.“ Er untersucht die anderen Umschläge. „16 Briefe, im Abstand von 2 Wochen geschrieben.“ Pia tippt mit ihrem Zeigefinger auf die Blätter. „Was hatte Schwarz mit der RAF zu tun? Weiß irgendwer in der Dienststelle von den Briefen? Hat Peters sie erwähnt?“ Riesel starrt sie an. Dann schüttelt er den Kopf. „Niemand. Aber wenn Schwarz die Briefe gemeldet hätte, wäre bestimmt einer von den Kollegen auf die Idee gekommen, mir davon zu erzählen. Und Peters hat nichts von Briefen gesagt. Er vermutete im Gespräch, dass Schwarz ein Opfer der Mafia ist, weil er im KK 21 gearbeitet hat. Auch die anderen Kollegen haben einen ähnlichen Verdacht geäußert. Keiner von ihnen hat eine Verbindung zu Terroristen gezogen.“ Pia denkt einen Moment nach und sieht Riesel dann direkt in die Augen. „Kein Wort über die Briefe, verstanden? Wir berichten allein Oberdorf. Nicht die kleinste Andeutung den Kollegen gegenüber, weder auf dem Flur, noch in der Kantine. Wenn ich höre, dass Gerüchte zu dem Thema im Umlauf sind, nehme ich Sie zur Verantwortung, klar?“ Pias Stimme ist schneidend und Riesel nickt schnell. An seinem Gesichtsausdruck erkennt Pia, dass Riesel eine Ahnung hat, dass die Angelegenheit brisant werden könnte. Sie steht auf. „Packen Sie die Briefe ein. Wir sehen uns das Schließfach an.“
Flannery Culp - 30. Sep, 18:17