Samstag, 7. April 2007

sternkleinsternkleinsternklein

93: das Essen I

Bergmann starrt sie atemlos an. „Sie wollen jetzt aber nicht sagen, dass die RAF wieder auferstanden ist.“ Pia hebt die Augenbrauen. „Würde Sie das freuen? Immerhin haben Sie dann mehr Material für Ihre Forschungen.“ Verlegen kratzt sich Bergmann am Hinterkopf. „Ich bin Historiker und habe daher immer eine Mauer aus Zeit zwischen mir und meinem Untersuchungsobjekt. Und eigentlich finde ich das gar nicht so unangenehm.“ Pia steckt vorsichtig das Terrain ab: „Ich kann Ihnen natürlich nichts Genaues darüber erzählen, da es sich um laufende Ermittlungen handelt. Aber vermutlich erzähle ich Ihnen nichts Neues, wenn ich sage, dass ganz in der Nähe von Altenburg eine ehemalige RAF-Terroristin lebt.“ Bergmann runzelt seine Stirn. „Um wen handelt es sich?“ – „Brigitte Dahlem,“ sagt Pia und wartet gespannt auf seine Reaktion. Bergmanns blassgrüne Augen starren ins Leere. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Namen schon einmal gehört habe,“ sagt er langsam. Pia zuckt mit den Schultern. „Sie hat zu einem Kommando gehört, das aufgeflogen ist, bevor es seinen großen Coup landen konnte. Sie war trotzdem lange inhaftiert, wegen anderer terroristischer Aktivitäten im Zusammenhang mit der RAF.“ Bergmann lässt seinen Daumen und Mittelfinger aneinander schnappen. „Der Anschlag auf die Amerikanische Botschaft Ende der 70er. Die Rache für den Selbstmord der Baader-Meinhof-Gruppe.“

Neugierig sieht er Pia an. „Wenn Sie sagen, dass Sie momentan beruflich mit der RAF zu tun haben, meinen Sie dann speziell Brigitte Dahlem?“ Pia macht eine vage Handbewegung. „Eigentlich bin ich eher an einem der anderen Mitglieder des Kommandos interessiert. Robert Koch ist seit langem verschwunden und aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, er könnte sich in Altenburg aufhalten.“ Bergmanns Augen weiten sich. „Ihr Mann hat mir gestern ein Foto gezeigt, war das Robert Koch?“ Verwundert wirft Pia einen Blick auf den Rücken ihres Mannes, der ein gestenreiches Gespräch mit ein paar älteren Herren führt. „Christopher hat Ihnen das Foto gezeigt? Hat er Ihnen sonst etwas erzählt?“ Vehementes Kopfschütteln. „Er wollte nur Hintergrundinformationen über die RAF.“ Pia denkt nach. Sie hatte die Bemerkung über die aktuelle berufliche Relevanz der RAF intuitiv Bergmann gegenüber gemacht. Der junge Professor kam ihr so harmlos vor, ihr Instinkt sagte ihr, dass sie nicht befürchten muss, dass er diese Neuigkeit von den Dächern posaunt. Und sie war von Anfang an bereit gewesen, kleine Köder auszuwerfen, um an Informationen zu kommen. Zum Beispiel den Namen von Brigitte Dahlem. Aber führte das tatsächlich irgendwo hin? Bergmann war Wissenschaftler, ein Schreibtischtäter. „Und, haben Sie Koch auf dem Foto erkannt,“ fragt sie nun eher lustlos. Ein seltsamer Zug huscht über Bergmanns Gesicht. „Nicht Koch direkt. Ich kenne nicht jedes einzelne Gesicht der RAF.“ Nach der Erfahrungen in Kaspar Wagenbachs Wohnung beruhigt Pia diese Feststellung eher. Bergmann fährt fort: „Aber ich hatte das unbestimmte Gefühl, den Mann schon einmal gesehen zu haben.“

Pia ist plötzlich hellwach. „Wo haben Sie ihn gesehen? Hier in Altenburg? An der Uni?“ Abwehrend hebt Bergmann die langfingrigen Hände. „Ich weiß es nicht und bisher ist es mir auch nicht eingefallen. Vielleicht verwechsele ich ihn auch mit jemanden. Sie wissen, welche Streiche einem das Gedächtnis spielen kann. Also nageln Sie mich bitte nicht fest.“ Enttäuscht nickt Pia. Es wäre auch zu weit hergeholt gewesen. Aus den Augenwinkeln bemerkt sie, dass Christopher auf sie zukommt, und der Geräuschpegel im Hintergrund ändert sich. „Ich sehe, Sie haben sich schon den schönsten Gast herausgepickt, aber ich möchte doch darauf hinweisen, dass es sich um meine Frau handelt,“ begrüßt Christopher gutgelaunt den jungen Professor und beide schütteln sich die Hände. „Er ist der RAF-Experte,“ sagt Christopher, zu Pia gewandt. Bergmann lacht. „Ich beschäftige mich allgemein mit dem zeitgenössischen Terrorismus und die RAF ist ein Teil davon. Aber das macht mich noch nicht zu einem Insider.“ Pia zuckt bedauernd mit den Schultern. „Schade,“ murmelt sie.

Beim Essen sitzt Bergmann ihnen gegenüber. Neben Pia thront die Ehefrau des Universitätspräsidenten, Frau Sacher, eine füllige, humorvolle Frau, die ihre 60 Jahre in einem bunten, kaftanartigen Kleid mit großem Ausschnitt präsentiert. Ein weiteres bekanntes Gesicht fällt Pia ins Auge, der hagere Professor Arnoldson von der mathematischen Fakultät. Er hat sie ebenfalls entdeckt und prostet ihr unsicher mit seinem gefüllten Weinglas zu. Pia ignoriert die Geste. Sie wendet sich ihrem Mann zu. „Was macht eigentlich Professor Erbacher?“ Erbacher war Mordverdächtiger in einem medienträchtigen Fall zu Beginn des Jahres gewesen. Christophers Mund ist dicht an ihrer Wange. „Erbacher hat ein Forschungsfreisemester bekommen und wird voraussichtlich frühzeitig erimitiert.“ Er räuspert sich. „Man hat es für geschickter gehalten, ihn ohne viel Aufhebens aus dem Verkehr zu ziehen. Die Tatsache, dass er sich mit einer Studentin eingelassen hat, hätte ihm eh das Kreuz gebrochen, auch ohne den Todesfall.“ Pia flüstert zurück: „Der arme Professor. Ihr seid kaltschnäuzige Opportunisten.“ Christopher sieht sie an und grinst. „Diesen Vorwurf aus deinem Mund zu hören ist irgendwie seltsam.“

Während der Rede von Professor Sacher lässt Pia ihren Blick über die anwesenden Gäste schweifen, die an der langen Tafel nebeneinander platziert sind. Die Sitzordnung, die jeweils einen Herr neben einer Dame vorsieht, ergibt ein symmetrisches Farbmuster, in dem sich das Schwarz der Anzüge mit dem Bunt der Damenkleider abwechselt – und das in dem Moment gebrochen wird, wenn es auf sie und Christopher stößt, wie Pia befriedigt feststellt. Die Worte des Redners schweben an ihr vorbei, ohne dass sie ihnen folgt. Im Hintergrund warten schwarzgekleidete Bedienstete, um den ersten Gang aufzutragen. Pia hat Hunger und muss plötzlich an Kaspar Wagenbach denken, der seine Abendmahlzeit in der Untersuchungszelle wohl schon hinter sich haben dürfte. Ihr liegt auf der Zunge, Bergmann zu fragen, ob er ihn kennt, aber sie hält sich im letzten Moment zurück. Später. Dann schweifen ihre Gedanken zu Alena. Was wird Alena heute Abend tun? Sitzt sie in Dunkelheit in ihrem Wohnzimmer, das voller Bücher und Schatten ist? Denkt sie an Kaspar Wagenbach? Unwillkürlich seufzt Pia. Himmel, was für ein seltsames Paar.

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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