Krimi im Blog: Teil 7
Auf dem Weg zur Sparkasse ziehen Bilder durch Pias Kopf. Sie war 12 als die Aufnahme von Arbeitgeberpräsident Schleyer, der mit tiefen Augenringen ein grobes Stück Pappe in der Hand hielt, in die bundesdeutschen Wohnzimmer eindrang. Auf der Wand, vor der Schleyer saß, prangte der Stern mit der Kalaschnikow, wie auf den Briefen, die sie im unpersönlichen, aber gutbürgerlichen Schlafzimmer Schwarz´s gefunden hatte. Damals wie heute hatte sie das Gefühl, dass der rote Stern nicht dorthin gehörte, nicht in das ordentliche Wohnzimmer ihrer Eltern und nicht in das akkurate Schlafzimmer des Pensionärs. Im Herbst 1977 hatte sie nicht verstanden, worum es ging, aber der Gesichtsausdruck des Enführten beunruhigte sie, diese Mischung aus Angst und Hoffnungslosigkeit. Und noch etwas hatte sie gespürt: die Demütigung, die mit der aufgezwungenen Pose verbunden war. Sie sieht ihren Vater vor sich, einen Beamten bei der Stadtverwaltung, der morgens beim Frühstück die Zeitung las und schnaubend zu ihrer Mutter bemerkte: „Diese Hunde, man sollte sie alle erschießen.“ Sie erinnert sich an ihre Mutter, die kurz zu ihr herüber sah und zu ihrem Mann sagte: „Nicht vor dem Kind, Klaus.“ Sie erinnert sich, dass sie fragte, wen man erschießen solle und an die Antwort ihres Vaters: „Musst Du nicht längst in der Schule sein?“ Sie hat die abendlichen Szenen vor dem Fernseher vor Augen, ihren Vater, der mit einer Flasche Bier mit vorgebeugtem Oberkörper im Sessel saß und die Nachrichten verfolgte, während ihre Mutter, betrübt mit dem Kopf schüttelnd, an einem Pullover strickte. Sie erinnert sich, dass sie sich ausgeschlossen fühlte von diesem Geschehen, an dem ihre Eltern auf eine Art und Weise teilhatten, die ihr unbegreiflich blieb. Erst später wurde ihr klar, dass sie sich ebenfalls bedroht, angegriffen und gedemütigt fühlten, dass die Front, gegen die die RAF kämpfte, auch ihre Eltern einschloss. Sie erinnert sich daran, dass sie begann die Zeitungen vom Tag vorher aus dem Mülleimer zu fischen um die Artikel über die Entführung zu lesen. An das Gefühl von Unsicherheit und Beklemmung, als sie aus ihrer Lektüre erfuhr, dass es zuvor bereits Tote und Verletzte gegeben hatte, Bombenanschläge und Schüsse. Dass sie schließlich in der Schule den Lehrer gefragt hatte, warum es Terroristen gäbe. Sie erinnert sich an ihren Lehrer, einen Dreißigjährigen mit selbst gestrickten Pullovern und blonden lockigen Haaren, der lange überlegt und seinen Schülern dann erklärt hatte, dass es nicht immer schlecht sei, wenn man für etwas kämpft, an das man glaubt, dass man jedoch die Mittel beachten müsse, die man einsetzt. Pia hatte daraufhin gefragt, ob es in Ordnung sei, wenn man einen Menschen tötet um sein Ziel zu erreichen. Ihr Lehrer hatte es sich nicht einfach gemacht. Das hinge von dem Ziel ab, für das man sich einsetzt, erklärte er. Es gäbe gute und schlechte Ziele. Bevor Pia fragen konnte, setzte er hinzu: „Und es gibt niemanden, der Dir vorher sagt, ob das Ziel gut oder schlecht ist. Das musst Du selbst entscheiden. Du kannst die geltenden Gesetze zur Hilfe nehmen. Aber wer sagt Dir, dass diese Gesetze gerecht sind? Du kannst Dich an die Bibel halten, aber wer sagt Dir, dass alles stimmt, was dort steht? Du kannst Deine Eltern fragen, aber woher weißt Du, ob sie recht haben?“ Zwei Wochen später wurde ein Flugzeug entführt und Gewalt und Chaos explodierten. Die Schockwelle erfasste Pia und schleuderte sie bis vor die Fotos der Toten aus Stammheim. Dann folgte ein Moment der Stille, als wenn die Bürger der Bundesrepublik den Atem anhielten. Auch Pia schwebte bewegungslos, schwindelig. Dann das allgemeine Ausatmen und die zufriedene Wiederaufnahme des Alltags. Nur die 12jährige Pia wusste, dass sie den festen und sicheren Boden ihrer Kindheit für immer verloren hatte.
Flannery Culp - 1. Okt, 12:21