113: Ende

Die Sonne scheint heiß, vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr. Pia sitzt an einem der Tische vor dem Cafe am Marktplatz und rührt in ihrem Milchkaffee. Sie streckt die Füße in den klassischen braunen Sandalen von sich und betrachtet ihre schlanken Waden. Zum Sommerabschluss trägt sie noch einmal ein weißes Hemdkleid aus Leinen; die Sonnenbrille sitzt wie ein Haarreif auf dem frisch geschnittenen blonden Haar. Sie blinzelt, als Alenas Schatten auf sie fällt. „Warten Sie schon lange?“ Alena setzt sich und Pia stellt amüsiert fest, dass auch der letzte Sommertag im Jahr Alena nicht dazu bewegen konnte, von ihrer üblichen schwarzen Kleidung abzuweichen. „Eine Weile, aber Sie sind nicht zu spät.“ Pia lächelt entspannt. „Ich habe heute frei. Ich habe bis 9 Uhr geschlafen, habe mir zum Frühstück Croissants geholt und bis 10 Uhr die Tageszeitung gelesen.“ Alena grinst. „Hört sich gut an.“ – „Das haben Sie doch jeden Tag, oder,“ stichelt Pia. Alena zieht eine Grimasse und bestellt einen Oolong mit Pfirsicharoma bei der jungen weiblichen Bedienung. „Haben Sie zur Belohnung frei bekommen? Weil Sie den Fall gelöst haben?“ Alena stützt ihr Kinn auf ihre Hände und ein paar dunkle Locken fallen ihr ins Gesicht. Pia stellt fest, dass das schwarze Poloshirt, das sie zu einem engen schwarzen Rock trägt, von einer teuren britischen Sportmarke ist. Aber sie schiebt ihre Überlegungen zur finanziellen Situation Alenas beiseite um auf die Frage zu antworten.

„Nein, ich habe zu viele Überstunden.“ Alenas Tee kommt und Pia wartet, bis sie einen halben Löffel Zucker in die goldfarbene Flüssigkeit gerührt hat. „So besonders gut ist es auch gar nicht gelaufen,“ sagt sie dann, einfach um es einmal loszuwerden. Alena sieht auf. „Aber Sie werden doch jetzt bestimmt befördert? Immerhin ging es um den Mord an einem ehemaligen Polizisten. Ihr Chef hat doch immer betont wie wichtig der Fall sei.“ Im Cafe ist jeder Tisch mit lachenden und redenden Menschen besetzt. Über den Marktplatz bewegt sich gemütlich ein Strom von Spaziergängern. Die Sachbearbeiter auf dem Weg nach Hause haben ihre Sakkos ausgezogen, andere halten eines der Riesenhörnchen in der Hand, die in der Eisdiele gegenüber vom Cafe verkauft werden. Trotzdem bohrt sich durch die Idylle ein kleiner schwarzer Stachel in Pias gute Laune. Sie schüttelt leicht den Kopf, aus Unverständnis über den Gang der Dinge. Aber ihre anfängliche Wut ist verflogen und hat dem Gefühl Platz gemacht, ungerecht behandelt worden zu sein. Und so etwas trägt man mit Würde. Und vor allem, man vergisst es nicht. Ihre Zeit wird kommen, verdammt, das wird sie.

Sie spürt, dass Alena sie unsicher ansieht und vermutet, dass sich ihr innerer Monolog auf ihrem Gesicht gespiegelt hat. Beschwichtigend zuckt sie mit den Schultern. „Man hat mir zu verstehen gegeben, dass meine unbestreitbare Leistung bei der Lösung des Falles mit den zahlreichen Fehlern aufgerechnet wird, die ich in den Augen meiner Vorgesetzten gemacht habe.“ Alena sieht sie nachdenklich an. „Dazu zählt nicht vielleicht der Zugriff auf Krause ohne Dienstwaffe,“ schlägt sie vorsichtig vor. Pia grinst verlegen. „Zum Beispiel,“ murmelt sie. Alena stützt sich auf ihre Unterarme. „Ehrlich, als Sie nur mit einer Taschenlampe vor den Wagen gesprungen sind, habe ich fast einen Herzinfarkt bekommen. Hatten Sie keine Angst, dass Krause Sie über den Haufen schießt?“ Nach einem Schluck Milchkaffee meint Pia nachlässig: „Die Taschenlampe hatte ihn so geblendet, dass er nicht sehen konnte, dass ich unbewaffnet war. Ich habe auf den Überraschungseffekt gezählt. Krause ist kein kaltblütiger Mörder. Trotz seiner RAF-Vergangenheit ist er ein gemütlicher Uni-Prof. Ich kenne diese Sorte.“ Belustigt sieht Alena sie an. „Aber Ihre Vorgesetzten haben das anders gesehen.“ Schulterzucken. „Die haben keine Ahnung von der Praxis.“ Dann erzählt sie weiter, weil es gut tut, bei jemandem Luft abzulassen. „Außerdem gab es Probleme, weil ich ja die Tatwaffe berühren musste, und dadurch die Fingerabdrücke von Krause verwischt habe. Mir war zwar von Anfang an klar, dass er aufgrund des Schmauchspurentests überführt werden konnte, aber der großkotzigen Chefetage war jeder Popelgrund willkommen, um mir einen reinzuwürgen.“ Sie redet sich in Rage, dann wird sie wieder ruhiger. „Leider hat ein Routinetest schließlich noch ergeben, dass ich ein paar Promille über Null lag.“ Alena reißt die Augen auf und Pia rechtfertigt sich schnell: „Ich war mit meinem Mann auf diesem Uni-Essen und da habe ich natürlich ein oder zwei Gläser Wein getrunken.“ Sie rollt mit den Augen. „Ich war vollkommen nüchtern und reaktionsfähig. Es ist lächerlich. Über so etwas guckt man bei anderen Kollegen großzügig hinweg. Nur bei mir muss natürlich der Dienstweg gegangen werden.“ Alena kann das Grinsen nicht unterdrücken und Pia sieht sie verletzt an. „Sie finden das witzig? Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?“

Alena wird ernst und Pia kann sehen, wie es hinter der blassen Stirn arbeitet. Und sie weiß, dass das Problem nicht ihr Verhältnis zu Pia ist, sondern etwas anderes, etwas Tieferes, das sie mit ihrer Bemerkung aufgestört hat. „Das hat Sie schon einmal jemand gefragt, nicht war? Brigitte Dahlem? Kaspar Wagenbach?“ Alena rührt in dem Tee, in dem der Zucker feine Schlieren zieht. „Es ist immer schwierig, Partei zu ergreifen,“ sagt Alena langsam. „Und es macht keinen Sinn, wenn man sich nicht seinen eigenen Standpunkt bewahrt. Ansonsten wird man hin- und hergerissen, bis man völlig die Orientierung verliert.“

Beide schweigen einen Moment. Dann fragt Pia: „Und wie geht es jetzt weiter? Mit Ihnen und Wagenbach, meine ich.“ Alena starrt auf den kleinen Löffel in ihrer Hand. „Wenn er mich braucht, bin ich für ihn da,“ sagt sie schlicht. Pia betrachtet sie neugierig. „Als Freund?“ Ein bekräftigendes Nicken. „Sicher. Nur als Freund.“ Alena schaut nicht auf, sie scheint mit ihren Gedanken weit weg zu sein. Pia räuspert sich. „Sagen Sie ihm, wenn er wieder akademisch tätig werden möchte, habe ich einen Ansprechpartner für ihn. Professor Bergmann von der Uni Altenburg, Historiker und Spezialist für Terrorismus. Ich habe Wagenbach ihm gegenüber erwähnt und er war sehr interessiert, ihn einmal kennen zu lernen. Ich dachte, falls Wagenbach doch noch dieses Buch oder seine Dissertation schreiben möchte.“ Langsam kehrt Alenas Aufmerksamkeit zu ihr zurück. „Das ist nett von Ihnen,“ sagt sie, etwas erstaunt. „Ich werde Kaspar davon erzählen.“ Nachdenklich fährt sie fort: „Er wird sicher anfangs keine große Lust zu diesem Thema haben, aber vielleicht überlegt er es sich später noch einmal. Er würde ja diesmal aus einer ganz anderen Perspektive darauf zugehen.“ Sie zögert und spricht dann mit sichtlicher Überwindung weiter: „Auf die RAF.“

Pia glaubt zu verstehen, was in ihr vorgeht. Es muss verwirrend für Alena sein, dieser plötzliche Einbruch von etwas Theoretischen in die Wirklichkeit. Vielleicht hat es sie anfangs fasziniert über die RAF nachzudenken, Motive und Gründe zu verstehen, ethische und politische, allgemeine und individuelle Aspekte gegenüberzustellen. Aber durch die Begegnung mit Brigitte Dahlem und die Auswirkungen für Kaspar Wagenbach hat das alles eine andere Qualität bekommen. Es ist real geworden. Zu real für Alena.

Unvermittelt sagt Alena: „Ich warte noch, bis der Prozess gegen Kaspar vorbei ist. Dann werde ich für ein eine oder zwei Wochen verreisen.“ Pia ist überrascht. Sie hätte nie daran gedacht, dass Alena an einer Reise gefallen findet. Dass sie ihre Wohnung freiwillig für einen längeren Zeitraum verlassen würde. Alena interpretiert Pias Irritation falsch. „Kaspars Anwalt hat gesagt, der Prozess dauert nicht lange. In etwa einem Monat könnte alles vorbei sein. Und dass Kaspar höchstwahrscheinlich Bewährung bekommt.“ – „Ja, schon möglich,“ erwidert Pia. Dann fragt sie neugierig: „Was wird das für eine Reise? So etwas wie Urlaub? Haben Sie ein bestimmtes Ziel?“ Alenas Blick schweift in eine Dimension, in die Pia ihr nicht folgen kann. „Kein Urlaub,“ murmelt sie unbestimmt. Pia stellt sich stur. „Besuchen Sie jemanden? Familie vielleicht?“ – „So etwas ähnliches,“ sagt Alena, ohne sie anzusehen. Pia seufzt enttäuscht. „Gut, wenn Sie nicht darüber reden wollen,…“ Verlegen streicht Alena ihre Locken zur Seite. „Ehrlich gesagt, möchte ich tatsächlich nicht darüber reden.“ Pia denkt an das verschlossene Zimmer in Alenas Wohnung. Das Gefühl wird wieder wach, dass Alena mehr umgibt, als nur ihre Exzentrik. Und vielleicht wird sie irgendwann einmal herausbekommen, was genau das ist. Pia lächelt leicht. Sicher wird sie es herausbekommen.

das Projekt Krimi-Blog

AUS DEN CHAOTISCHEN WINDUNGEN EINES KRIMIVERSEUCHTEN HIRNS BOHRT SICH EIN WEITERER ROMAN AN DIE DIGITALE OBERFLÄCHE EINES BLOGS. WIE SCHON IM VORGÄNGER „ZAHLEN UND ZEICHEN“ SOLL DAS SCHREIBEN EINES KRIMINALROMANS MIT DER PRAXIS DES BLOGGENS VERBUNDEN WERDEN. DAS BEDEUTET, DASS DER PLOT IN DEN GRUNDZÜGEN FESTSTEHT, DER KRIMI JEDOCH NICHT BEREITS FIX UND FERTIG IN DER SCHUBLADE LIEGT, SONDERN SICH IM SCHREIBEN ENTWICKELT. WAS GESCHRIEBEN WIRD, WIRD KURZ DARAUF GEBLOGGT, IST DAMIT FAKTISCH, UND WIRD NUR IN AUSNAHMEFÄLLEN (SEHR PEINLICHE TIPPFEHLER) GEÄNDERT. ERGÄNZT WIRD DAS GANZE DURCH METATEXT UND LINKS. EUCH UND MIR ALSO VIEL SPAß BEI „SPUREN UND STERNE“.

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