48: Relationen
Aber sie spürt auch, wie zuwider ihr dieses Spiel ist, und dass sie eigentlich keinen Krieg gegen Pia führen möchte. Für eine Sekunde grübelt sie über diese Erkenntnis, dann reißt Pia sie aus ihren Gedanken. „Wissen Sie, wo Robert Koch sich aufhält?“ Die Frage ist an Kaspar gerichtet. Alena dreht ihren Kopf in seine Richtung, sein Gesicht ist nah, ein Stück über ihr. Sie kann seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, als er antwortet: „Ich habe keine Ahnung. Woher sollte ich? Dass er mit Marianne Wagenbach in die DDR geflohen ist, ist ja wohl mittlerweile allgemein bekannt. Dass er dort verschwunden ist, wissen Sie auch. Wie und wohin er geflohen ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Und ob er noch lebt, ist eine ganz andere Frage.“ Kaspars Stimme ist fest und selbstsicher. Er ist nun auf bekanntem Terrain, ähnlich einem Spezialisten, der ein Fachgespräch führt. Er beugt sich ein wenig nach vorn, als er Pia seinerseits fragt: „Wissen Sie, wo Koch sich aufhält?“ Alena hört die Frage und ist plötzlich irritiert. Der Ton, der in der Äußerung mitschwingt, ist weniger Neugierde, wie sie vielleicht erwartet hätte. Stattdessen findet sie Anspannung und unwillkürlich fragt sie sich, aus welchem Grund Kaspar die Frage tatsächlich gestellt hat. Will er wissen, was aus Koch geworden ist, oder möchte er erfahren, wie viel Pia mittlerweile weiß? Könnte Kaspar Informationen über Koch haben, die er bisher für sich behalten hat? Sie schaut zu Pia hinüber, die Kaspar nachdenklich ansieht. Hat sie einen ähnlichen Eindruck? Pias Antwort ist ironisch und ausweichend: „Ich kann Sie leider nicht in den aktuellen Stand der Ermittlungen einweihen. Aber mich wundert, dass Sie Koch so aus den Augen verloren haben. Schließlich ist er mit Ihrer Mutter verschwunden. Er war am längsten mit ihr zusammen und könnte Ihnen mehr über sie erzählen als die anderen.“ Kaspar lacht trocken. „Klar war ich daran interessiert mit ihm zu reden. Aber wenn noch nicht mal die Stasi und der Verfassungsschutz wissen, wo er ist, wie soll ich dann zu dieser zweifelhaften Ehre kommen? Koch hat sich zumindest nicht bei mir gemeldet, um mir schöne Grüße von meiner Mutter zu bestellen.“ Er nimmt den Arm von Alenas Schulter und steht auf, um im Raum umherzulaufen und Alena stellt fest, dass sie erleichtert ist, weil er sich wieder von ihr entfernt hat. Werde ich ihm jemals voll vertrauen, fährt es ihr durch den Kopf. Seitdem sie Kaspar kennt, umgibt ihn etwas, das sie schwer definieren kann, aber das sie definitiv anzieht. Dunkle Stellen, tote Winkel, seine Persönlichkeit ist wie ein Schrank, der verschlossene Schubladen enthält, zu denen er allein den Schlüssel hat. Dazu die zeitweise Depression und die immer wieder aufflackernde Widersprüchlichkeit in seinem Verhalten. Der Versuch, sich von der Vergangenheit seiner Mutter freizumachen und der Zwang, sich mit der RAF zu beschäftigen. Obwohl er immer wieder betont hat, dass er die Ideologie der RAF weder nachvollziehen kann noch teilt, war sich Alena dessen nie vollkommen sicher, auch wenn sie diese Unsicherheit niemals an konkreten Äußerungen oder Handlungen festmachen konnte. Ist Anarchie erblich? Sie schüttelt unwillkürlich den Kopf und merkt dann, dass Pia sie interessiert beobachtet. Alena kaschiert ihre eigene Verärgerung darüber, dass sie sich niemals lange auf eine Situation konzentrieren kann und regelmäßig viel zu schnell in ihre eigene Gedankenwelt abdriftet, indem sie ihre Haare nach hinten streicht und mit den Händen zu einem Zopf zusammenfasst. Als ob diese Geste ihren Kopf frei machen könnte. Amüsiert wendet sich Pia wieder Kaspar zu. „Von wem sind Sie aufgezogen worden? Wie ich verstanden habe, haben Sie Ihre Mutter niemals kennen gelernt.“ Alena erkennt sofort, was nun ansteht: Kaspars Vergangenheit wird akribisch auseinandergenommen.
Flannery Culp - 24. Dez, 14:21