20: der Anschlag
Abends fragt Pia ihren Mann: „Kennst Du jemanden an der Uni, der Ahnung von Terrorismus hat, speziell RAF? Irgendeinen Historiker?“ Sie sitzen sich am Küchentisch gegenüber und trinken den Espresso nach der Tiefkühlpizza. Christopher fährt mit den Fingern durch die blonden Haare, die an den Schläfen bereits grau werden. „Irgendeinen Historiker? Ich bitte Dich. Bei uns lehren nur Koryphäen.“ Er grinst. „Aber ehrlich gesagt habe ich nicht viel Kontakt zum historischen Seminar. Philosophen kommunizieren mit jedem Wissenschaftler über jedes Fachproblem, aber Historiker sind da eher etwas zugeknöpft. Es bestehen Kontakte zu den Kunstgeschichtlern, und in einem gewissen Maß auch zu den Komparatisten. Aber mit Philosophen wollen sie nichts zu tun haben, zumindest an unserer ehrwürdigen Institution.“ – „Kannst Du denn mal einen Vorstoß wagen? Tu einfach so, als wenn Du wahnsinnig interessiert an der jüngeren deutschen Geschichte wärst,“ schlägt Pia vor. Christopher protestiert empört: „Ich bin interessiert.“ Dann zuckt er mit den Schultern. „Ich kann es ja mal versuchen. Aber ob jemand dabei ist, der sich ausgerechnet auf die RAF spezialisiert hat, wage ich zu bezweifeln. Dafür kann ich aber wahrscheinlich jede Menge Weimar-Experten oder 1.-Weltkriegs-Kenner anbieten.“ Er erntet eine kühle Grimasse und schüttelt bedauernd den Kopf. Dann fragt er neugierig: „Gibt es schon neue Erkenntnisse?“ Pia starrt ihn einen Moment an und entscheidet dann, dass es nichts schaden kann, wenn sie ihm von dem Nachmittag erzählt. „Ich habe heute mit einer waschechten Ex-Terroristin gesprochen.“ Sie runzelt die Stirn. „Gibt es überhaupt Ex-Terroristen, oder hat man diese Ehrenbezeichnung schon dadurch verloren, dass man überlebt hat?“ Christopher beugt sich nach vorn. „Wen hast Du getroffen?“ Pia grinst angesichts seiner offensichtlichen Faszination. „Brigitte Dahlem. Ist Dir der Name ein Begriff?“ Christopher grübelt eine Weile und gibt dann auf. „Nie gehört. Sie hat wohl nicht zur ersten Garde gehört?“ – „Wie man´s nimmt. Sie stammt aus der Zweiten Generation und ist im September 1978 aktiv geworden, nachdem sie bereits einige Zeit im Untergrund verbrachte. Tatsache ist wohl, dass es sich bei dieser Aktion um den mit Abstand dämlichsten Plan gehandelt hat, der einem Kommando der RAF eingefallen ist.“ Pia schnaubt verächtlich. „Dahlem, eine Frau namens Marianne Wagenbach, Hans-Joachim Burg, Peter Hoffmann und Robert Koch wollten unter der Bezeichnung „Kommando Andreas Baader“ die amerikanische Botschaft in Bonn in die Luft sprengen. Dafür wollten sie einen mit TNT beladenen Wagen auf das Botschaftsgelände fahren und den Sprengstoff mit Fernsteuerung zünden. Total hirnrissig, es hätte wahrscheinlich schon deshalb niemals funktioniert, weil der Wagen garantiert nicht durch die Kontrollen gekommen wäre, auch wenn er US-Nummernschilder hatte. Aber es ging schon vorher schief, weil das BKA einen Tipp bekommen hatte und Stunden vor dem Anschlag eine Wohnung am Rande von Bonn stürmte, wo in einer Garage auch den Bomben-Wagen gefunden wurde. Die Menge an Sprengstoff war wohl recht imposant, weshalb man das ganze zu einem Jahrhundert-Anschlag gehyped hat.“ Pia legt den Kopf schief. „Unser toter Polizeihauptkommissar spielte eine wichtige Rolle bei der ganzen Sache. Er war derjenige, der die Wohnung ausfindig gemacht hatte.“ Sie spielt mit der kleinen, weißen Tasse vor ihr. „Es hieß offiziell, dass ein Nachbar sich bei der Polizei gemeldet hatte, weil ihm die Gruppe verdächtig vorkam. Aber schon damals wurde spekuliert, ob Schwarz nicht vielleicht einen Informanten hatte, der ihm den entscheidenden Hinweis gegeben hat.“ Nachdenklich starrt sie auf den Tisch. „Tatsächlich war die Wohnung leer, als die Kollegen dort auftauchten. Genauso wie Schwarz, hatte vielleicht auch das Kommando einen Hinweis auf die Razzia bekommen. Es dauerte danach noch drei Jahre, bis Dahlem, Burg und Hoffmann verhaftet werden konnten. Schwarz hat sich allerdings wie ein Jagdhund an ihre Fährten geheftet und keine Ruhe gegeben, bis er ihnen ihre Rechte vorlesen konnte. Sein Engagement bei der Suche nach den Flüchtigen hat bei den Kollegen jeden Zweifel weggewischt. Nach außen hin ist er von Anfang an als Superbulle dargestellt worden, als Terroristenjäger. Polizisten wie Schwarz waren wichtig um der Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass man den Terrorismus im Griff hatte.“
Flannery Culp - 23. Okt, 20:47