68: Gruppenzwang
Christopher sieht Pia zu, wie sie ihre Haare im Bad mit Gel in Form zupft. „Denkst Du an das jährliche Abendessen der Universität am Dienstag? Es wäre schön, wenn Du dieses Jahr mal wieder mitkommen würdest.“ Ihre Augen treffen sich im Badezimmerspiegel. Pia stöhnt auf. „Du lieber Himmel, total vergessen. Ist das echt schon diesen Dienstag?“ Eine Ausrede liegt ihr auf der Zunge, aber dann erinnert sie sich an das schlechte Gewissen, das sie letztes Jahr hatte. Sie weiß, dass das Essen Christopher viel bedeutet und dass sie daran teilnehmen sollte. Alle Professoren bringen ihre Ehefrauen mit, manche sogar ihre Kinder. Es muss hart für Christopher sein, zu solchen Anlässen allein zu gehen. Und sie unternehmen eh schon zu wenig zusammen. Es wäre eine Gelegenheit Solidarität zu bekunden, denkt sie, aber gleichzeitig ermüdet sie der Gedanke an die langweiligen Gespräche mit Christophers uninteressanten Kollegen. Gerade will sie eine ausweichende Antwort mit der Bitte um Vertagung der Entscheidung geben, als ihr Robert Koch einfällt. Die Chancen sind minimal, aber vielleicht erinnert sich ein Professor an den Studenten, der einmal der RAF angehörte. An einen Studenten, der ihm durch linke Parolen oder extreme Ansichten aufgefallen ist. Sie lächelt Christopher im Spiegel zu. „Ok, ich versuche es. Aber dann brauche ich etwas Neues zum Anziehen.“
Alena und Kaspar sitzen am Küchentisch und essen Brötchen mit Marmelade. Alena hat Auszüge ihres Gesprächs mit Brigitte Dahlem erzählt und nun beobachtet sie den schweigenden Kaspar, der seinen eigenen Gedanken nachhängt. Sie sitzt mit dem Gesicht zum Küchenfenster, das noch nie Gardinen gesehen hat und dringend geputzt werden muss. Es steht auf Kippe und lässt sonntägliche Straßengeräusche in den Raum. Dennoch scheint die Küche weitab vom Leben dort draußen. „Brigitte Dahlem meinte, ich sollte besser nicht zu viel über meine Mutter erfahren? Wie meinte sie das,“ fragt Kaspar nun, halb verwirrt, halb misstrauisch. „Ich glaube, sie möchte nicht, dass du enttäuscht bist.“ Alena sieht ihn eindringlich an. „Ich habe das Gefühl, sie weiß etwas über deine Mutter, das du nicht erfahren sollst. Und sie erinnert sich anscheinend auch nicht gerne daran.“ Sie macht eine kurze Pause und fährt dann fort: „Hast du eine Ahnung, was das sein könnte?“ Kaspar runzelt seine Stirn. Er steht auf und geht zum Fenster, wo er seine Hände auf die leere Fensterbank stützt und durch die schmutzige Scheibe auf die Straße unter ihm starrt. „Ich habe keine Ahnung.“ Er dreht sich zu ihr um. „Du hast das schon mal angedeutet. Und du scheinst dir ja doch Gedanken darüber zu machen. Ich vermute, du hast dir auch schon eine Theorie zurecht gelegt. Also raus damit. Erzähle mir, was du denkst.“ Einen Moment denkt Alena nach, dann beginnt sie vorsichtig: „Es muss etwas sein, dass Brigitte Dahlem nicht akzeptieren kann. Das nicht in ihr Weltbild passt. Und ihr Weltbild ist RAF. Wenn ich jetzt mal den diffusen Weltanschauungskram beiseite lasse, den keiner so richtig erläutern kann, bedeutet das vor allem unbedingte Solidarität zur Gruppe. Und konsequente Abgrenzung zu allem, was nicht RAF ist. Dazu gehört der Staat, die Polizei und wahrscheinlich auch die passiven Bürger, die sich nicht am Kampf beteiligen. Wie war das doch gleich: Schwein oder Mensch?“ – „Du reduzierst die RAF auf formale Momente, aber es gab ja wohl auch inhaltliche Abgrenzung, oder?“ – „Nein,“ sagt Alena heftig. „Genau die gab es vermutlich nicht. Wenn es überhaupt jemals inhaltliche Gründe für den bewaffneten Kampf gab, dann haben die sich ab einem bestimmten Punkt in blinden Aktionismus aufgelöst. Vermutlich schon nach der Mai-Offensive 1972, danach gab es keine echten Ziele mehr, sondern nur noch Rechtfertigung. Und ab da war Gruppenzugehörigkeit durch gedankenlose Zustimmung und unhinterfragtes Ausführen von Anweisungen definiert. Wer Kritik äußerte, war draußen.“ Kaspars Gesichtausdruck spiegelt Ablehnung, aber er erwidert nichts auf Alenas Ausführung. „Brigitte Dahlems Verhalten in Bezug auf deine Mutter deutet auf nachträgliche Ausgrenzung hin. Und der Grund dafür könnte darin liegen, dass sie etwas getan hat, was nicht in die RAF-Linie passte.“ Mürrisch sagt Kaspar: „Sie ist in die DDR geflohen, und hat dort ein bürgerliches Leben aufgenommen, statt den Kampf weiter zu führen. Das reichte vermutlich schon.“ Alena merkt, dass sie so nicht weiter kommt. Aber es zeigt sich ein weiterer Punkt, an dem sie anknüpfen kann. „Wie ist sie eigentlich damals über die Grenze gekommen. So einfach stelle ich mir das nicht vor. Hat der Typ vom Verfassungsschutz mal was darüber erzählt?“
Alena und Kaspar sitzen am Küchentisch und essen Brötchen mit Marmelade. Alena hat Auszüge ihres Gesprächs mit Brigitte Dahlem erzählt und nun beobachtet sie den schweigenden Kaspar, der seinen eigenen Gedanken nachhängt. Sie sitzt mit dem Gesicht zum Küchenfenster, das noch nie Gardinen gesehen hat und dringend geputzt werden muss. Es steht auf Kippe und lässt sonntägliche Straßengeräusche in den Raum. Dennoch scheint die Küche weitab vom Leben dort draußen. „Brigitte Dahlem meinte, ich sollte besser nicht zu viel über meine Mutter erfahren? Wie meinte sie das,“ fragt Kaspar nun, halb verwirrt, halb misstrauisch. „Ich glaube, sie möchte nicht, dass du enttäuscht bist.“ Alena sieht ihn eindringlich an. „Ich habe das Gefühl, sie weiß etwas über deine Mutter, das du nicht erfahren sollst. Und sie erinnert sich anscheinend auch nicht gerne daran.“ Sie macht eine kurze Pause und fährt dann fort: „Hast du eine Ahnung, was das sein könnte?“ Kaspar runzelt seine Stirn. Er steht auf und geht zum Fenster, wo er seine Hände auf die leere Fensterbank stützt und durch die schmutzige Scheibe auf die Straße unter ihm starrt. „Ich habe keine Ahnung.“ Er dreht sich zu ihr um. „Du hast das schon mal angedeutet. Und du scheinst dir ja doch Gedanken darüber zu machen. Ich vermute, du hast dir auch schon eine Theorie zurecht gelegt. Also raus damit. Erzähle mir, was du denkst.“ Einen Moment denkt Alena nach, dann beginnt sie vorsichtig: „Es muss etwas sein, dass Brigitte Dahlem nicht akzeptieren kann. Das nicht in ihr Weltbild passt. Und ihr Weltbild ist RAF. Wenn ich jetzt mal den diffusen Weltanschauungskram beiseite lasse, den keiner so richtig erläutern kann, bedeutet das vor allem unbedingte Solidarität zur Gruppe. Und konsequente Abgrenzung zu allem, was nicht RAF ist. Dazu gehört der Staat, die Polizei und wahrscheinlich auch die passiven Bürger, die sich nicht am Kampf beteiligen. Wie war das doch gleich: Schwein oder Mensch?“ – „Du reduzierst die RAF auf formale Momente, aber es gab ja wohl auch inhaltliche Abgrenzung, oder?“ – „Nein,“ sagt Alena heftig. „Genau die gab es vermutlich nicht. Wenn es überhaupt jemals inhaltliche Gründe für den bewaffneten Kampf gab, dann haben die sich ab einem bestimmten Punkt in blinden Aktionismus aufgelöst. Vermutlich schon nach der Mai-Offensive 1972, danach gab es keine echten Ziele mehr, sondern nur noch Rechtfertigung. Und ab da war Gruppenzugehörigkeit durch gedankenlose Zustimmung und unhinterfragtes Ausführen von Anweisungen definiert. Wer Kritik äußerte, war draußen.“ Kaspars Gesichtausdruck spiegelt Ablehnung, aber er erwidert nichts auf Alenas Ausführung. „Brigitte Dahlems Verhalten in Bezug auf deine Mutter deutet auf nachträgliche Ausgrenzung hin. Und der Grund dafür könnte darin liegen, dass sie etwas getan hat, was nicht in die RAF-Linie passte.“ Mürrisch sagt Kaspar: „Sie ist in die DDR geflohen, und hat dort ein bürgerliches Leben aufgenommen, statt den Kampf weiter zu führen. Das reichte vermutlich schon.“ Alena merkt, dass sie so nicht weiter kommt. Aber es zeigt sich ein weiterer Punkt, an dem sie anknüpfen kann. „Wie ist sie eigentlich damals über die Grenze gekommen. So einfach stelle ich mir das nicht vor. Hat der Typ vom Verfassungsschutz mal was darüber erzählt?“
Flannery Culp - 11. Feb, 17:21